Donnerstag, 23. April 2020

Kjölur im Winter - Teil 4

Der 8. April war der 16. Tag meiner Wintertour. Mein Wecker klingelte um 4:30 Uhr, eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang, denn die Wettervorhersage hatte mir große Hoffnungen auf einen wolkenlosen Sonnenaufgang gemacht. Die Realität sah aber mal wieder anders aus. Über der Hütte zeigte sich zwar blauer Himmel, aber rundherum waren Wolken. Zudem peitschte der noch immer ziemlich stürmische Wind den frischen Schnee über den Boden. Egal: los ging es, den 100 Meter höheren Hügel Þverbrekknamúli empor. Statt Farben und spektakulären Bergsichten wurde es einfach nur langsam heller. Immerhin bringen die Bilder die Temperatur gut rüber: es war so richtig fies kalt!



Nach Sonnenaufgang kehrte ich zur Hütte zurück. Da ich am Abend zuvor schon alles abreisefertig gemacht hatte, dauerte es nicht lange, bis ich die Hütte abschließen konnte. Die Sonne war jetzt so weit über den Sturmwolken aufgestiegen, um die Gegend attraktiv wirken zu lassen. Also drehte ich dann doch noch einmal eine kleine Runde in der direkten Umgebung, um Fotos von der kalt-schönen Szenerie zu machen...





Kaum, dass sich die Sonne über die Wolken erhoben hatte, fiel mir auf, dass Halos zu sehen waren. Halos sind Lichtphänomene, die durch Lichtbrechung in Eiskristallen hervorgerufen werden. Es ist dasselbe Prinzip, wie bei einem Regenbogen: die Sonnenstrahlen werden durch die Regentropfen bzw. Eiskristalle gebrochen und zaubern dann spannende Lichterscheinungen an den Himmel. Das bekannteste (da häufigste) Halo ist der 22°-Ring, ein meist farbloser Ring um Mond oder Sonne. Und wahrscheinlich habt ihr auch schonmal sogenannte "Nebensonnen" gesehen: helle und teilweise regenbogenfarbige Flecken rechts und/oder links von der Sonne. Im Gegensatz zum Regenbogen, der immer auf der sonnenabgewandten Seite auftritt (sprich: will man einen Regenbogen sehen, muss man die Sonne im Rücken haben), befinden sich die allermeisten Halos in direkter Sonnennähe. Und das ist der Grund, warum viele Leute keine Halos kennen: sie werden von uns oft nicht bemerkt, weil man selten direkt in die Sonne hineinschaut. Ich bin allerdings schon seit zwanzig Jahren ein Halo-Fan - und war dementsprechend begeistert, als sich kurz nach meinem Aufbruch folgendes Bild ergab:

Hier sieht man sechs verschiedene Haloarten. Einmal den 22°-Ring um die Sonne, dann die linke und rechte Nebensonne. Oben auf dem 22°-Ring liegt der "obere Berührungsbogen", und den schwachen regenbogenartigen Teilring oben links hielt ich für einen Stück des 46°-Rings, ich weiß aber nun, dass es ein Teil des sogenannten Supralateralbogens ist. Für die komischen Namen kann ich nichts, die heißen halt so... Schwach zu sehen sind außerdem der sogenannte Horizontalkreis (der die Sonne waagerecht durchschneidet) und die untere Lichtsäule (eine Art Lichtstrahl, der von der Sonne aus nach unten weggeht). All diese Dinge waren mit dem bloßen Auge genau so zu erkennen. Es war toll!

Die Voraussetzung, damit man sowas sehen kann, sind Millionen gleich ausgerichteter Eiskristalle, die irgendwo in der Luft sein müssen. Das können entweder ganz hohe, dünne Wolken sein, oder Eisnebel, oder wie in diesem Falle winzige Kristalle, welche vom starken Wind von den umliegenden Wolken hergetragen wurden.



Dieses Schauspiel begleitete mich über zwei Stunden lang. Es war nie gleich: je mehr von diesen fliegenden Eiskristallen in der Luft war, desto deutlicher waren die Halos zu sehen. Und das änderte sich im Minutentakt! Um 11 Uhr herum konnte ich partout nicht mehr weiterwandern (auch nicht mit der Kamera um den Hals...) und musste eine halbe Stunde Fotopause einlegen und ohne Pulka durch die Gegend flitzen. Da erkannte ich nämlich neun verschiedene Haloarten gleichzeitig - es war echt total irre!







Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie ich umhergehüpft bin, als die Halos am stärksten waren - das war wie Weihnachten! Es gab für mich einige Premieren; ich hatte noch nie einen Horizontalkreis gesehen, noch nie einen Supra- und Infralateralbogen, und ich vermutete, dass da noch weitere Halos waren, die ich nicht kannte. Und tatsächlich: als ich die Bilder später zu einer befreundeten Halo-Koryphäe schickte (danke nochmal, liebe Claudia Hinz! :-D), zeigte sie mir an kontrastverstärkten Bildern, dass sich da noch ein schwacher Lowitzbogen sowie der 'obere konkave Parrybogen' versteckten. Insgesamt konnte ich an dem Morgen 11 verschiedene Halos beobachten bzw. fotografieren - es war für mich der absolute Höhepunkt der Tour! So unerwartet, so beeindruckend, so … überirdisch schön!



Wer sich mehr für das Thema Halos interessiert, kann ja mal hier gucken: www.meteoros.de .
Zudem gibt es ein super Buch zum Thema 'Himmelsphänomene', voller Wissen und irre Bilder, das ich euch ebenfalls sehr ans Herz legen kann: Lichtphänomene - Farbspiele am Himmel .

Nach diesem Euphorieschub flog ich regelrecht über den vereisten Schnee Richtung Norden. Das Wetter wurde immer besser, und ich bekam doch tatsächlich einmal einen guten Blick auf den Langjökull, den zweitgrößten Gletscher Islands, in dessen Nähe ich mich die ganze Tour über aufhielt, der sich aber meistens unter einer Wolkenkappe versteckte.



Das Wetter wurde so super, dass ich eine richtig lange Mittagspause einlegen konnte, was nicht selbstverständlich ist. Im Gegenteil: auf dieser Tour musste ich das Mittagessen öfters ausfallen lassen, weil das Wetter zu fies / zu kalt war, um sich auch nur eine Viertelstunde ausruhen zu können. An diesem Tag aber saß ich gemütlich auf meinem Pulka und 'genoss' meine übliche Mittagspampe: kleingekrümelte Fertignudeln mit Kartoffelpürree, gewürzt mit einer Tütensuppe und viel Salz. Gesund und lecker ist anders, aber das heiße Wasser der Thermoskanne lässt die Pampe lauwarm in meinen Magen wandern, was wunderbar ist bei den niedrigen Temperaturen! :-)



Unmittelbar nach dem Haloerlebnis traf ich eine Bauchentscheidung: ich beschloss, die vorletzte Hütte der Wanderung (Þjofadalir) links liegen zu lassen und direkt nach Hveravellir durchzustarten. Die gesamte Tagesetappe lag damit bei etwa 20 Kilometer, was aber heute super zu schaffen war. Und tatsächlich: am Nachmittag kam ich dann in Hveravellir an. Dies ist ein sehr beliebter Ausflugsort im Hochland; im Sommer gibt es hier mittlerweile ein Hotel und Restaurant. Es ist ein Rummelplatz geworden, völlig durchkommerzialisiert, mit Shop und kostenlosem WLAN, der für mich im Sommer kein Hochlandgefühl mehr bietet. Jetzt aber war ich der einzige Mensch weit und breit. Die Hütten waren verschlossen, und seit dem vorletzten Wochenende war wohl niemand mehr hier gewesen: keine Reifenspuren, keine Schneemobilspuren, nichts. Es war ein Hveravellir, wie es einsamer und schöner nicht sein konnte!



Der Klimawandel ist in Island stark spürbar; jeder erwachsene Isländer wird euch erzählen können, wie anders das Wetter noch vor 15 Jahren war, wie viel mehr Schnee im Winter fiel und wie viel größer die Gletscher früher waren. Der vergangene Winter aber fällt unter die Kategorie "Wie in alten Zeiten", zumindest was die Schneemengen angeht, die gefallen sind. Man kann auf dem obigen Bild gut erkennen, dass vom Hotel-Restaurant-Gebäude eigentlich nur noch das Dach aus dem Schnee ragte. Eine meiner ersten Aktionen war es folglich, die Aussicht vom Dachfirst aus zu genießen...
Für diese an sich niederschlagsarme Gegend ist das wirklich enorm viel Schnee! In den Jahren zuvor sah es hier ganz anders aus, und auch andere Gegenden meiner Tour sind mittlerweile selbst im Winter oft schneefrei. Jetzt aber war es ein Winterwunderland - anders lässt sich das nicht beschreiben!

Winterzelten in Hveravellir: mit Blick auf den Álftafell und den Hofsjökull


  
Ich nutzte den warmen Spätnachmittag, um in aller Ruhe mein Zelt aufzubauen. Und als ich gerade fertig war, hörte ich Motorengeräusch und sah einen riesigen Superjeep direkt ans Hotelgebäude fahren. Es war Pétur, der Manager von Hveravellir, mit dem ich schon vor und während der Tour in Kontakt gestanden hatte, und der auf Facebook sofort ein Foto von meinem Zelt postete, mit dem Kommentar „Looks like the campsite is open“...

Pétur sagte mir, dass er wegen des Coronavirus alle Buchungen für Ostern abgesagt habe und nur hier sei, um die Hütten für eine längere Pause vorzubereiten, da wahrscheinlich bis zur Öffnung der Straße Ende Juni niemand mehr hier übernachten würde. Und, ja, er könne mich und meinen Schlitten übermorgen ohne Probleme mit zurück nach Reykjavík nehmen.

Das ist wieder einfach nur typisch Island: þetta reddast.
Hammer!!!

Meine Füße und mein innerer Schweinehund freuten sich sehr über die Nachricht! Und der Fotograf in mir auch, schließlich bedeutete dies, dass ich morgen nicht die Weiterreise nach Norden antreten 'musste' (um das gute Wetter auszunutzen), sondern alle Zeit der Welt hatte,  um das winterliche Hveravellir zu erkunden. Ganz besonders freute ich mich auch auf ein Bad im 'heita pottinum', im Hot Pot!



Hveravellir ist ein Geothermalgebiet, in dem heiße Quellen zutage treten. Es ist schwierig geworden, hier zu fotografieren, weil mittlerweile Holzstege und Absperrungen viele Fotomotive verschandeln, aber trotzdem ist es ein faszinierender Ort, gerade und besonders jetzt im Winter, mit all dem Schnee. Überall dampft und zischt es, feinste Sinterterrassen zieren das fußballplatzgroße Areal aus Quellen, Fumarolen und Solfataren.






Direkt bei der alten Hütte liegt ein kleiner, tiefer Pool, der über ein Rohr mit heißem Wasser gespeist wird. Im Sommer fließt durch zwei andere Rohre auch kaltes Wasser ein, aber das war jetzt im Winter gefroren, sodass der Pot mindestens 70°C heiß war. Am ersten Abend hob ich deshalb die Heißwasserzufuhr aus dem Pool, woraufhin er sich über Nacht soweit abkühlte, dass man darin baden konnte. Oh, Leute, was ein Luxus, das mutterseelenallein genießen zu können! Nachts saß ich Ewigkeiten drin, beobachtete die Rauchschwaden, die unter den Sternen und einem Streif farbloser Nordlichter umherzogen. Ein Traum!



Und dann erlebte ich tatsächlich sowohl zwei farbige Sonnenuntergänge als auch einen pinken Sonnenaufgang - ich konnte es gar nicht fassen! All diese Tage, in denen die Welt nur aus Weiß, Schwarz und Blau zu bestehen schien, hatten mich fast vergessen lassen, wie farbig die Dämmerungen sein können. Es war der krönende Abschluss einer Tour, die so ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt hatte, und doch so perfekt.












Dies war meine bisher längste Solo-Tour gewesen: technisch nicht anspruchsvoll, auch nicht von der Kilometeranzahl her. 125 Kilometer legte ich in sieben Etappen zurück, mit ebenso vielen Pausen- bzw. Sturmtagen, plus dann nochmal die zwei herrlichen Foto- und Hotpot-Tage in Hveravellir. Es schien fast absurd, als ich dann am 18ten Tag meinen Pulka zu Péturs Monster-Superjeep zog, wir diesen in seinen Kofferraum verfrachteten, und dann innerhalb von 3,5 Stunden zurück nach Reykjavík rasten. Dreieinhalb Stunden, um dahin zurückzukehren, wo ich vor 18 Tagen aufgebrochen war... Schon verrückt, wie schnell ich plötzlich zurück in der Zivilisation war.



Und damit beende ich diesen laaaaaangen Bericht: schön, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid! Wenn ich das nächste Mal etwas Spannendes erlebe, melde ich mich wieder. Eine weitere Skitour wird es nicht geben, denn mit meiner Rückkehr setzte im ganzen Land Tauwetter ein, und jetzt ist der Schnee eigentlich überall weg und habe ich keine Möglichkeit mehr, einen guten Start- oder Endpunkt zu erreichen. Aber ich hatte ja meine 18 Tage Winter-Abenteuer auf der Kjölur: und jetzt geht's halt mit Frühling und Sommer weiter!

Wegen Corona werde ich auch die kommenden Monate in Island verbringen, denn hier lässt es sich viel besser aushalten, und außerdem reizt mich die Aussicht, dass diesen Sommer kaum Touristen herkommen werden. Ich bin gerade dabei, mir einen Job / Freiwilligenjob zu suchen, damit ich mich noch mehrere Monate in diesem teuersten Land Europas über Wasser halten kann. Genau wie bei meiner Skitour bin ich da sehr optimistisch: das wird schon klappen, "þetta reddast" - garantiert!
:-)

Liebe Grüße - und auf bald!
Eure Kerstin




























Am vorletzten Abend gab's dann nochmal ein Halo zu bestaunen, eine 'obere Lichtsäule'.
Das Gebäude ist passenderweise die (unbemannte) Wetterstation in Hveravellir.




















2 Kommentare:

  1. Ein sehr beeindruckender Bericht mit tollen Bildern! Vielen lieben Dank dass Du uns an dieser außergewöhnlichen Tour teilhaben lässt. Und was für eine Ehre, dass auch ich darin vorkomme :-)
    Umarmende Grüße
    Claudia

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  2. liebe Kerstin, das war wieder mal ein toller Erlebnisbericht, sehr interessante Fotos wie immer.
    So gesehen hast du es ja toll getroffen auf Island gefangen zu sein. Ich wünsche dir weiterhin eine abwechselunhsreiche Zeit mit wenig Touristen, eine neue Eerfahrung auf Island. Für mich ist reisen für dieses Jahr gestrichen, dann sehen wir weiter. Alles gute von Ulla

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