In den vergangenen zwei Wochen entdeckte ich ein neues Hobby für mich: warm eingepackt im Licht der Mitternachtssonne im Schnee zu hocken und Rentiere zu beobachten. Genauergesagt Spitzbergen-Rentiere, deren lateinischer Name diesem Blogeintrag seinen Titel gab.
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Es begann alles an einem Nachmittag Mitte April. Ohne Ziel wanderte ich in Richtung des Flughafens, hinein in eine Gegend, in der sich kaum jemand in seiner Freizeit aufhält. Das Rollfeld des internationalen Flughafens trennt Berge und Meer voneinander und ist dabei umgeben von einem zweieinhalb Meter hohen, stabilen Drahtzaun. Anfangs dachte ich naiverweise noch, dass es die Eisbären wären, die vom Flugzeugverkehr getrennt werden sollten. Seit in den vergangenen neun Monaten ganze null Eisbären in der Umgebung gesichtet wurden, bin ich eines Besseren belehrt. Rentiere sind es, denen der Zaun gilt! Von denen gibt es hier im Moment nämlich ein gutes Dutzend, die einzeln oder in kleinen Herden in Meereshöhe nach Futter suchen.
An jenem besagten Tag wanderte ich ziellos zwischen einer Stromleitung und dem Flughafengelände umher. Motive für Landschaftsfotos fand ich keine, zu viel Kulturschrott steht dort in der Gegend herum. Doch ich genoss die Lichtstimmung und Ruhe außerhalb der Stadt. Es war Abend, die Sonne stand tief und erleuchtete die verschneite Landschaft in warmen Pastellfarben. Ein kalter, starker Wind trieb den feinen Pulverschnee prasselnd über die vereiste Landschaft hinweg. Und da sah ich, als ich mich langsam auf den Rückweg Richtung Longyearbyen machte, ein einsames Rentier durch die Schneeverwehungen stapfen.
Das Besondere an diesem Tier war, dass es noch sein Geweih besaß. Die alten Männchen hatten ihre Geweihe schon vor Weihnachten abgeworfen. Meines Wissens nach sollten nur noch jungeführende Weibchen ihre Stangen tragen, doch diese sind im allgemeinen recht scheu und reagieren mit Flucht auf menschliche Anwesenheit. So etwa dieses (wahrscheinlich) weibliche Rentier, das in einer Dreiergruppe unterwegs war und, vermutlich, sein Jungtier verloren hatte.
Wer mich und meine Philosophie kennt der weiß, dass ich Natur tunlichst nicht stören möchte. Rentiere zur Flucht anzuspornen bedeutet, sie Kalorien verbrennen zu lassen, wertvolle Energie, die in den kommenden, harten Wochen über Leben und Tod entscheiden kann. Es tut mir regelrecht weh, wenn Tiere meinetwegen flüchten und ich dies hätte verhindern können - daher bin ich niemand, der sich anderen Wesen zu sehr aufdrängt. Gerade und besonders nicht, wenn es um Fotos geht!
Bei meinem einsamen Rentier aber war die Ausgangssituation eine andere. Es war kein Weibchen, sondern ein junges, wohlgenährtes Männchen, das schnurstracks auf mich zumarschierte, als es mich entdeckte. Es war ein tolles Gefühl, als wir auf jeweils zwei weit auseinanderliegenden Hügeln standen und nach kurzem Verharren gegenseitig beschlossen, mal zu gucken, wer der andere sei.
Es folgte ein ruhiges Spiel aus Näherkommen, Verharren und sich Entfernen. Der junge Bock war neugierig, bis er sich davon überzeugt hatte, dass ich kein Rentier war. In der Zeit sah er mich ständig an - fotogen war das nicht! Dann entfernte er sich wieder, ich klickender Zweibeiner in meiner knallroten Daunejacke war ihm wohl doch nicht so ganz geheuer. In den folgenden zwanzig Minuten ließ er es zu, dass ich mich ihm wieder bis auf fünfzehn Meter näherte. Bis dahin hatten wir fotogenes Gelände erreicht und konnte ich den kleinen Burschen ohne störende Masten und Zäune im wind- und schneegepeitschten Abendlicht dabei beobachten, wie er nach Nahrung suchte.
Spitzbergen-Rentiere sind ausdauernde und ziemlich zähe Wesen. Den ganzen Tag sind sie damit beschäftigt, Flechten, Moose und Pflanzen zu suchen und zu fressen. Auch Seetang und Algen verschmähen sie nicht, im Gegenteil: gestern konnte ich eine größere Gruppe dabei beobachten, wie sie stundenlang am Stand herumstanden und einen gefrorenen Tangstengel nach dem anderen verspeisten. Mit ihren spitzen Vorderhufen kratzten sie die Pflanzen frei oder lösten die gefrorenen Stengel aus dem Eis. Jede Bewegung war langsam und bedacht; die Tiere sparten Energie, wo sie nur konnten.
Rentiere gehören zur Familie der Hirsche, und wie alle Hirsche so werfen sie ihr Geweih einmal im Jahr ab. Es sind die einzigen Hirschartigen, bei denen sowohl Männchen als auch Weibchen ein Geweih wächst. Alte Männchen haben allerdings mit Abstand die größten Stangen auf dem Kopf - es ist teilweise beeindruckend, was für Aufbauten die Bullen auf dem Kopf tragen! Beziehungsweise trugen: die alten Männchen sind immer die ersten, die ihren Kopfschmuck gen Jahresende verlieren, und sie sind jetzt auch die ersten, bei denen man das neue Geweih als kleine Knubbel / Hörner über den Augen erkennen kann.
Wie alle Hirsche so sind auch Rentiere Wiederkäuer. Jeder Mahlzeit folgt eine Periode des Ruhens, bei der die Tiere einfach still in der Gegend herumstehen oder liegen, und ihren Mageninhalt ein zweites Mal kauen, um die ansonsten unverdauliche Zellulose aufzubrechen.
Ihr Fell ist im Tierreich einzigartig: dicke, hohle Haare bilden eine perfekte Isolation und Anpassung ans harsche Klima der Arktis- und Subarktis. Spitzbergen-Rentiere haben sich ganz besonders an das Leben der Arktis angepasst. Sie kamen nach Svalbard, als das Archipel während der letzten Eiszeit mit Skandinavien verbunden war. Als die Gletscher schmolzen, wurde der Bestand isoliert und veränderte sich in den vergangenen 10.000 Jahren stark. Spitzbergen-Rentiere wurden die kleinsten Rentiere überhaupt, sie sind quadratischer gebaut als ihre Kollegen in Amerika, die Caribous, oder die schlanken Festlandrentiere Skandinaviens. Sie haben ein kleineres Geweih und eine kürzere Schnauze, einen kürzeren Hals und wesentlich kürzere Beine: alles Anpassungen an die extreme Kälte, die einem filigranen Körper mehr Wärme entzieht, als einem kompakten.
Ihr Magen ist perfekt angepasst an die karge Kost auf Spitzbergen und beherrbergt Mikroorganismen, die ihnen ein Überleben ermöglichen, wo ihre Artgenossen vom Festland verhungern würden. Sie sind träger und weniger scheu, weil sie hier keine natürlichen Feinde haben: Eisbären haben kein Interesse an magerer Rentierkost (sie ernähren sich fast ausschließlich von Robben und gelegentlich Walen), und die menschliche Jagd hält sich auch sehr in Grenzen.
Eine ganze besondere Eigenschaft der Rentiere aber ist, dass sie einen Wärmetauscher in der Schnauze besitzen. Selbst in der klirrensten Kälte sieht man niemals ihren Atem. Wir Menschen und fast alle anderen Tiere besitzen in der Nase einfach nur einen simplen Kanal, durch den die körperwarme Luft nach Außen gelangt. Rentiere aber haben in der Schnauze ein ausgeklügeltes System von Hautlappen, welche mit einer dicken Schleimhaut verkleidet sind. Diese Schleimhaut ist ein perfekter Wärme- und Wasserspeicher.
Die kalte Luft passiert beim Einatmen die warme Schleimhaut und wird dabei auf Körpertemperatur erwärmt und mit Wasserdampf angereichert bevor sie die Lungen erreicht. Das kühlt die Nasenschleimhaut. Wird die Luft jetzt wieder ausgeatmet, dann kommt die warme, feuchte Luft in Kontakt mit der kalten Schleimhaut, welche daraufhin wieder erwärmt und mit Wasserdampf angereichert wird.
Wie effektiv das ist, versteht man erst, wenn man Rentiere mit uns Menschen vergleicht. Die Temperatur unseres Atems liegt immer nur knapp unter unserer Körpertemperatur und kann in großer Kälte maximal auf 26°C gesenkt werden, wenn wir warm angezogen sind und uns nicht körperlich anstrengen. Wir verlieren über 20% unserer Körperwärme nur über die Atmung, die unserem Körper außerdem extrem viel Wasser entzieht.
Der Atem eines Rentieres, das in -30°C ruhig im Schnee liegt, hat dagegen eine Temperatur von 6°C - das ist 33 Grad kälter als Körpertemperatur. Auf die Art und Weise verlieren Rentiere 70% weniger Wärme und 80% weniger Wasser als Lebewesen ohne "nasal heat exchange". Faszinierend!
Ich habe es in der vergangenen Woche wirklich sehr genossen, mehrmals abends und nachts zum Flughafen zu radeln und mich dort mit den Rentieren zu beschäftigen, die im Licht der tiefstehenden Mitternachtssonne ihrem entspannten Alltag nachgingen. Mit Ruhe und Geduld kann man diesen wenig scheuen Tieren sehr nahe kommen. Es hat wirklich Spaß gemacht, einfach nur im Schnee zu hocken und die Tiere zu beobachten. Mal schubsten sie sich gegenseitig von guten Weidegründen weg, mal nervte sie das nachwachsende Geweih, dass sie offensichtlich sehr zu jucken schien. Beim Wiederkäuen drehten sie sich fast immer in meine Richtung - dieses ständige Hochwürgen und Kauen muss ziemlich langweilig sein, da schienen sie froh gewesen zu sein über eine Abwechslung wie mich, die weder Flucht noch Gefahr bedeutete...
Mein schönstes Erlebnis hatte ich vorgestern, als ich einer Gruppe geweihloser Tiere drei Stunden lang nicht von der Seite wich. Sie ließen mich immer näher an sich heran und vertrauten mir letztenendes so sehr, dass sie sich unmittelbar neben mir zum Schlafen in den Schnee legten. Ein schöneres Kompliment hätten sie mir kaum machen können!