Sonntag, 20. November 2011

Dunkel war's...

... der Mond schien helle,
Schnee lag auf der grünen Flur,
als ein Auto blitzesschnelle
langsam um die Ecke fuhr.

Wohl jeder kennt den Anfang des Lügengedichtes "Verkehrte Welt", das später von schlittschuhlaufenden Hasen und einer Kuh im Schwalbennest berichtet. Ich weiß nicht, ob ihr jemals über den Wahrheitsgehalt dieser Zeilen nachgedacht habt - wahrscheinlich braucht man eine Kombination aus Langeweile und Zeit, um dies zu tun... Gut, dass ich gerade über beides verfüge!

So lustig und abstrus das Gedicht auch sein mag: diese erste Stophe klingt für mich seit neuestem eher philosophisch als spöttisch. Schnell-langsam um die Ecke zu fahren bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man das mit einem Auto auf Glatteis tut. Auch Schnee auf grüner Flur ist etwas, das ich jedes Jahr mindestens einmal erlebe. Und als vor genau einer Woche Vollmond war und ich um die Mittagszeit Sterne zählte, da bekam auch die erste Zeile eine ganz neue Bedeutung. Der Mond kann sogar hell am dunklen Tag scheinen - so sureal ist die "verkehrte Welt" gar nicht!

Der Blick aus meinem Fenster an einem selten schönen und hellen Abend!

Der Einstieg in die Polarnacht ist eine wahrlich interessante Erfahrung! Nachdem der Polartag so ewig lange dauerte und es partout nicht dunkel genug fürs Polarlicht werden wollte, ging nun alles Schlag auf Schlag. Innerhalb eines Monats verwandelte sich der lange Tag in eine ewige Nacht: es war, als habe jemand von jetzt auf gleich den Lichtschalter umgelegt.
Dies geht an niemandem spurlos vorüber: hier kämpft gerade jeder mit physischen wie psychischen Problemen. Schlafstörungen sind an der Tagesordnung; es ist beinahe ungewöhnlich, wenn Leute keine tiefen Ringe unter den Augen haben oder problemlos um 8 Uhr morgens aus dem Bett kommen. Der plötzliche Entzug von Licht nimmt einem jeglichen Tagesrhythmus: um die Mittagszeit könnte man vor Müdigkeit einschlafen und nachts wälzt man sich dann putzmunter im Bett umher. Dann um 9 Uhr zur Vorlesung anzutanzen scheint geradezu Folter zu sein!

Genauso heftig wie der verlorene Biorhythmus ist allerdings auch der psychische Effekt der Polarnacht. Die Dunkelheit engt einen ein: selbst ich, welche ich die Nacht liebe, fühle mich eingesperrt in der Stadt, dem engen Tal und den hohen Bergen. Der Drang, neue Gegenden zu erkunden, ist wie weggeblasen. Überhaupt sind "Lust" und "Energie" Worte, die momentan selten fallen. Alles konzentriert sich jetzt auf den Alltag sowie das Soziale, sprich: auf Tätigkeiten, die in hellen Häusern stattfinden. Schwimmbad, Turnhalle und Fitnesscenter erleben einen Ansturm, die Chöre sind am Dauerproben, es werden Sprachkurse, Kochkurse, Strickkurse und sogar ein Eisbärhypnosekurs angeboten. Zu letzterem erschien eine große Menge neugieriger Menschen aber kein Lehrer - der Witzbold, der diesen Lehrgang ausgeschrieben hatte, wollte sich nicht zeigen...

Gesellschaftsspiele erfreuen sich bei Skandinaviern jederzeit größter Beliebtheit: auch und besonders wenn es sonst nichts anderes zu tun gibt. Norweger kennen unglaublich viele verschiedene Kartenspiele: ihr Wissen und Enthusiasmus bei allem, was kleine Spielkarten angeht, ist wirklich erstaunlich!

Mittag des 18. November 2011: stockfinster wird es noch nicht, aber "hell" kann man das auch nicht mehr nennen. Dies ist die Aussicht von Longyearbyens Küste hinauf ins Longyeardal, Richtung Süden...

... und dies der Aublick von derselben Stelle in Richtung Norden. Der Himmel ist dunkel genug, um im Norden viele Sterne ausmachen zu können, und die Berge erleuchtet vom Restlicht der weit entfernten Sonne sowie dem rötlichen Licht der großzügigen Stadtbeleuchtung. Und das Weiße im Vordergrund ist gefrierende Brandung. Temperaturen von im Durchschnitt -10°C lassen das Meer langsam aber sicher abkühlen. Nicht mehr lange, und es werden Eisschollen auf dem Fjord treiben!

Ein kleiner Rückblick: Noch vor zwei Wochen war es mittags immerhin noch so hell, dass die ebenfalls unter dem Horizont stehende Sonne ein paar Wolken anstrahlen konnte. Gefühlsmäßig scheint dies aber viel, viel länger zurückzuliegen als nur 14 Tage...

Der Mast ist übrigens ein gut erhaltenes Stück "cultural heritage" (freie Übersetzung von mir: "Kulturschrott") - ein Überbleibsel der Seilbahn, die bis vor drei Jahrzehnten noch Kohle von den Mienen zum Hafen tansportierte. Heute haben sie hier nichts besseres zu tun, als die Dinger von unten anzuleuchten und die ohnehin nicht geringe Lichtverschmutzung der Stadt dadurch noch zu verstärken... Der Mensch tut hier oben wirklich alles, um bloß nicht das Gefühl zu haben, mit der Natur zusammen zu leben!

Aber manchmal, so etwa einmal im Monat, setzt sich Mutter Natur dann doch gegen den Lichtsmog der Stadt durch und schenkt all jenen, die noch aus dem Fenster schauen oder zu Fuß unterwegs sind, ein Feuerwerk sondergleichen. Wenn man dann noch ganz viel Glück hat, dann heißt man Kerstin und ist genau zu dem Zeitpunkt mit der Kamera draußen, als die Aurora am hellsten erstrahlt!


An den allermeisten Abenden aber lässt sich hier kein Polarlicht blicken. Das hängt einerseits damit zusammen, dass letzten Monat generell wenig Nordlichter zu sehen waren, andererseits sind wir wohl tatsächlich zu weit nördlich für garantierte Sichtungen. Es ist ironisch: ich bin so weit im Norden unseres Planeten wie noch nie zuvor, habe aber dennoch in etwa so große Aurorasichtungschancen wie in Nordengland. Der Nordlichtgürtel ist sehr schmal und liegt normalerweise genau über Island und Nordnorwegen - nicht aber über Svalbard!
Tja, nun weiß ich das auch, man lernt halt immer dazu...

Doch zum Glück braucht man ja nicht nur Polarlichter, um sich nachts draußen aufzuhalten. Man kann ja auch Sport und Spiel als Anreiz nehmen und beispielsweise einen "Kite" steigen lassen, einen großen Drachen in Gleitschirmform, und damit lustige Muster an den Nachthimmel malen.

Entfernt man sich dann noch weiter von der Stadt, dann wird es dank der Abwesenheit der Aurora auch möglich, Aufnahmen vom Sternenhimmel zu machen, genauer gesagt von der Mitte unserer Galaxie, der wir den Namen Milchstraße gegeben haben. Die klare, kalte Luft und die Abwesenheit der menschlichen Zivilisation lässt einen so viele Sterne entdecken, dass man von Dunkelheit gar nicht mehr reden kann - ein atemberaubend schöner Anblick!