Den Herbst 2016 habe ich mit ziemlicher Vorfreude erwartet, denn
dieses Jahr plante ich, schon Ende August nach Island zurückzukehren.
Das ist insofern etwas Besonderes, als dass das Hochland dann noch
erreichbar ist, und ich zum ersten Mal seit Jahren wieder dort wandern
wollte. Bevor ich aber nähere Pläne über meine Touren machen konnte,
erwartete mich das neue Island, also das des Massentourismus.
Klar: August war noch Hochsaison, und dieses Jahr wird wieder einmal ein
neuer Touri-Rekord eingestellt werden: 1.7 Millionen Besucher erwartet
man noch bis Dezember. Und man jubelt schon den erwarteten
2.3 Millionen Besuchern für 2017 entgegen. Welch ein Wahnsinn...
Die
Veränderungen sind von Besuch zu Besuch so gravierend, dass ich es
einfach nicht verschweigen kann: was hier gerade abgeht, dürfte jeden
schockieren, der Island schon etwas länger kennt. Die erste große Neuerung
seit dem Frühjahr ist, dass Island ein Schilderwald geworden ist. Jedes
Hotel, jedes Museum, jede Stadt, jedes Restaurant und jeder Supermarkt muss nun an den
Straßen ankündigen, dass es da ist und dass man nach x Metern zu einer
extrem wichtigen Abzweigung gelangt. Die Entwicklung war schon seit Jahren absehbar, aber diesen Sommer ist es ausgeartet. Ich habe nicht zählen können,
wie viele großflächige Schilder allein zwischen dem Flughafen und der
Hauptstadt stehen - es ist eine reine Werbe-Schlacht.
Die
zweite Neuerung ist, dass Dinge nun auf Englisch ausgeschildert sind -
und zwar teilweise ausschließlich auf Englisch. An einigen Supermärkten
steht jetzt nur noch „Grocery store“, nicht mehr „verslun“, und auch
sonst ist die isländische Beschriftung einfach verschwunden. Das
verwundert mich extrem, sind die Isländer doch so stolz auf ihre
Sprache. Dass es da keinen Widerstand gibt, finde ich erstaunlich.
Der
Laugavegur in Reykjavík hat sich in eine reine Touristenmeile verwandelt, in ein Disneyland der Superlativen, in dem
jeder Laden den gleichen Schrott aus China verkauft. Man findet kaum
noch Islandpullis, die in Island von Isländern gestrickt wurden; statt
dessen wird zum gleichen Preis maschinengefertigter Mist aus Portugal
oder Fernost angeboten, mit dem Lable "Designed in Iceland". So
ein Farce!
Die isländischen Outdoorläden 66°Norður und Cintamani
verkaufen nur noch überteuerte, modische Klamotten, die man bei echten Touren
nicht mehr tragen kann, weil sie unpraktisch sind, billigst hergestellt werden und nicht
mehr als einen Regenschauer aushalten. Das ist Stadtkleidung für modebewusste Touristen, hergestellt in Fernost ohne Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen oder gar Umweltauflagen. Echt traurig, wie die Nachfrage den Markt bestimmt.
Dadurch, dass der Tourismus so dermaßen boomt,
gibt es jede Menge neue Arbeitsplätze in Island: allerdings hauptsächlich in der Dienstleistungsbranche. Nun ist es aber so, dass
die wenigsten Isländer sich dazu herablassen wollen, zu putzen oder
Touristen zu bedienen: moderne Isländer wollen möglichst nur im
Management arbeiten. Das Wiederum bedeutet, dass extrem viele Ausländer
die Billigjobs ausüben und man in Island eigentlich nur noch Englisch
sprechen kann. Egal wo man hinkommt: ich kann mein Isländisch kaum
einsetzen, da irgendwelche meist kaum angelernten Ausländer mit mir
kommunizieren. Es fängt an bei Reinigungspersonal, sämtliche Verkäufer
in Touri-Buden, Kassenpersonal in egal welchen Supermärkten/Shops, geht
über Tankstellenwarte, Bedienungen in Imbissen und Restaurants, Köche,
und selbst in "normalen", also gut angesehenen Jobs wie Busfahren findet
man vermehrt Ausländer (sowohl bei den Langstreckenbussen als auch bei
den Stadtbussen in Reykjavik), in Hotelrezeptionen und auch bei den
Guides.
Isländer, die arbeiten lieber hinter den Kulissen in Büros,
also hinter Computern, auf jeden Fall dort wo sie sich nicht die Finger
schmutzig machen müssen, oder auch hinter den
Steuern von Superjeeps, oder eben als Guides. Es ist eine erschreckende Entwicklung, denn diejenigen, mit
denen man als Reisender Kontakt hat, haben teilweise kaum Ahnung und können einem
keine guten Auskünfte geben.
Die Preise von Übernachtungen sind allein in den letzten Monaten um
20-30% gestiegen: Island ist dabei, unbezahlbar zu werden. Das gilt auch
und besonders für jene, die in Reykjavik leben. Weil mittlerweile jeder
Hinz und Kunz seine Zimmer, seine Wohnung oder gar ganze Häuser über
Airbnb an Touristen vermietet, ist es beinahe unmöglich geworden, in
Reykjavik bezahlbare Mietwohnungen zu finden. Das ist vor allem für
Studenten und Niedrigverdiener (sprich: in Island lebende Ausländer) ein
echtes Problem geworden. Die Mietpreise sind absoluter Wucher - und als
wäre das nicht genug, muss man als Mieter ständig um seine Wohnung
bangen. Freunde von mir sind im vergangenen Jahr dreimal umgezogen, weil
ihr Zuhause jedes Mal in eine Übernachtung für Touristen umgewandelt
wurde: klar, das bringt dem Vermieter viel mehr Geld. Und einen
Mietschutz wie in Deutschland gibt es hier scheinbar nicht. Stellt euch
mal vor, wie ihr euch fühlen würdet, wenn euch euer Zuhause immer wieder
weggenommen wird - um es an Touristen zu vermieten!
Und
es ist eigentlich völlig egal, welche Dienstleistung man in Island in
Anspruch nimmt: es wird alles immer teurer. Übernachtungen, Transport,
sämtliche Touren welche man buchen kann: Monat für Monat kostet es mehr.
Die Preissteigerungen sind so extrem, dass ich mich frage, wie die
Touristen das einfach hinnehmen können - aber klar, welche Wahl haben sie schon? Die Gier der Isländer kennt
keine Grenzen, und die Dreistigkeit, mit der sie willkürlich die
Preisschraube immer weiter andrehen, verschlägt mir regelrecht die
Sprache. Island ist jetzt teurer, als vor der Finanzkrise. Und auch ich
muss mir nun dreimal überlegen, was ich hier unternehme. Denn selbst
Übernachtungen in Schlafsackunterkünften kosten teilweise so viel, dass
man schlucken muss. Und da ist das Frühstück dann noch nicht inklusive!
Das
völlig Absurde ist, dass der Tourismus den Isländern zwar aus der
Finanzkrise geholfen hat, und sie so viel verdienen, wie seit Jahren
nicht mehr: aber niemand scheint bereit zu sein, dieses Geld in die Zukunft des
Landes zu investieren. Es ist die Natur, welche die Touristen hierher
lockt - aber meint ihr, die Isländer würden etwas tun, um diese zu
schützen? Hier und da entstehen zwar neue Plattformen, Gehsteige und
Absperrungen, dann aber meist völlig spontan und scheinbar ohne länger
darüber nachzudenken, ob man das Ganze nicht auch weniger auffällig
hätte gestalten können, so dass es sich eher in die Landschaft einfügt.
Meistens aber wird gar nichts gemacht. Es mangelt an Infrastruktur, vor
allem an Toiletten - überall. Klopapier ist der gängigste Müll, gefolgt
von Verpackungen von Snacks, denn auch Mülltonnen gibt es kaum
welche, und wenn, dann quellen sie über und fliegt alles durch die
Gegend.
Mit steigender Anzahl von Autofahrern nimmt auch das Offroadfahren zu, und natürlich die Erosion, die allein durch Fußtritte ausgelöst wird. Die Vegetation ist so dermaßen empfindlich, wie man es als Tourist nicht kennt: die wenigsten wissen, welchen Schaden sie eigentlich anrichten. Und so werden die bekannten Attraktionen von Tausenden von Naturliebhabern kaputt getrampelt: ein Netz
von Pfaden zerstört die karge Vegetation und vor allem das Moos, das
die Leute so begeistert, dass sie sich ständig darauf fotografieren
müssen. Inklusive Justin Bieber und seinen Tänzern, die der Welt zeigen,
wie herrlich es doch ist, in Island tun und lassen zu können, was man
man will.
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Screenshot aus dem neuen Musikvideo von Justin Bieber
Quelle: www.grapevine.is |
Dies sind die Auswirkungen einer fehlgeschlagenen Marketingstrategie: "Inspired by Iceland", Icelandair und alle möglichen Pseudo-Abenteuergeschichten haben dafür gesorgt, dass viele Besucher der Meinung sind, hier im Land der unendlichen Möglichkeiten zu sein. Alles ist erlaubt, möglich, "fun" und natürlich ohne Gefahr und Folgen, eine Reise durch ein reales Computerspiel, scheinen manche zu denken. Schaut man sich den Trubel einmal an, erlebt man hier Dinge, die einen sich wundern lassen, wie niedrig der IQ des normalen Islandtouristen bloß sein muss.
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Wandern auf Jökulsárlón. Bild von Gylfi Blöndal
Quelle: www.guidetoiceland.is/nature-info/things-that-can-kill-you-in-iceland |
Die gängigste Reaktion ist momentan, dass gar nichts geschieht. Mancherorts werden
Attraktionen geschlossen: in Form einer Absperrung und eine Schildes, dies ist aber (noch) die Ausnahme.
Denn Massentourismus lässt sich weder durch Seile noch Schilder stoppen: die Touristenschafe klettern einfach drüber
und laufen trotzdem hin, den immer breiter werdenden Trampelpfaden
nach, schließlich haben sie sich in den Kopf gesetzt, den jeweiligen Ort
jetzt zu besuchen. Das geht solange, bis der Landbesitzer herkommt und
Eintritt verlangt. Und das geschieht nun an immer mehr Orten - offiziell wie inoffiziell.
Nur ein paar Beispiele: Bei Stokksnes (Höfn) fährt der Landbesitzer den Touris hinterher und
verlangt 800 Kronen pro Person, um dort zu fotografieren - er nennt es "Umweltschutz-Gebühr". Die
beiden bekanntesten Lavahöhlen auf Reykjanes, Raufahólshellir und
Leiðarendi, je 30-40 Minuten Autofahrt von Reykjavík entfernt, werden
jetzt geschlossen: ein Holz-Tor soll über die Eingänge
gebaut werden, angeblich um die Höhlen vor Schäden durch Besucher zu
schützen. Ich kenne beide Höhlen und muss sagen: da hat sich in den
letzten Jahren nicht viel verändert; die Schäden sind vermutlich von den
ersten Isländern begangen worden, die Tropfsteine abbrachen und mit
nach Hause nahmen. Nein, hier handelt es sich einzig und allein ums
Geldverdienen: denn ab sofort kann man die Höhlen nur noch auf geführten
Touren besichtigen. Ein Schlag in den Magen für all diejenigen, die in
Reykjavík leben und die Höhlen in ihrer Freizeit regelmäßig besuchten,
einfach weil es ein tolles Erlebnis ist.
Ich
bin nicht die einzige, die diese Dinge beobachtet und sehr kritisch sieht. Ich habe mittlerweile
mit einigen Island-Freunden gesprochen, und viele sind genauso
geschockt und hilflos den Entwicklungen gegenüber, wie ich. Und alle
kommen sie zu einem Schluss, den ich sehr skeptisch betrachte: dass
Island zwar an den bekannten Attraktionen überlaufen ist, man sich aber
bei Wanderungen abseits der Straßen noch gänzlich alleine wähnt.
Das
stimmt zwar ohne Zweifel: aber was glaubt ihr denn, wie lange das noch
so bleibt, wenn jedes Jahr 400.000 bis 600.000 Touristen mehr nach
Island kommen? Was glaubt ihr, wie lange die stillen Ecken noch einsam
sind, wenn eure Bilder und Berichte online gehen und in drei Jahren vom
Lonely Planet als neuer "Insidertipp" vorgestellt werden? Viele der
Touristen wollen etwas "einzigartiges" erleben, wollen nicht mit den
Massen zusammen sein. Und als Konsequenz werden dann auch die weniger bekannten
Orte bekannt, zugemüllt und zertrampelt.
Noch gilt in Island das
Jedermannsrecht: aber wie lange wohl noch? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es abgeschafft wird - und dann ist die Freiheit für uns Natur- und Wanderliebhaber dahin. Aber wie sonst sollte man die Vegetation des Hochlandes schützen, die so
dermaßen empfindlich ist, dass eine einzige Wandergruppe pro Jahr in einigen Gegenden schon
für die Bildung von Pfaden sorgen kann?!
Moos stirbt, wenn mehr als einmal darauf getreten wird. Fuß- und Reifenspuren halten sich über den Winter hinweg,
Klopapier überdauert ganze Jahrzehnte - das isländische Hochland
verkraftet nur einen sanften Individualtourismus, und der wird bald auch
in den entlegenden Gegenden der Vergangenheit angehören.
Die Toleranz der Isländer den Touristen gegenüber sinkt Jahr für Jahr, denn es benehmen sich einfach zu viele komplett daneben und beginnt die reine Masse an Leuten einfach nur zu nerven. Und ja, es gibt auch jene Isländer, die die Entwicklung genauso skeptisch sehen wie ich und versuchen, das Thema zur Diskussion zu bringen. Der Ruf nach Regeln wird laut, nach Verboten. Bisher haben sich die Isländer diesbezüglich sehr zurückhaltend gezeigt - aber welche Wahl bleibt ihnen schon angesichts von 4-5 Millionen Touristen im Jahr 2020? Icelandair pusht und pusht, sagt, Island vertrage locker 3-5 Millionen Touristen, prahlt damit, wie viele Arbeitsplätze allein am Flughafen entstehen würden. Und die Allgemeinheit nickt und lächelt, spricht von der Kaufkraft der Touristen, von der Erschließung der Natur, vom Bau von Infrastruktur und von einer rosigen Zukunft. Dabei ignorieren sie, dass das Glas jetzt schon voll ist - und langsam aber sicher überläuft.
Bekannte von mir, die im Tourismus arbeiten, sind müde wegen der harten Arbeit durch die ständig steigenden Touristenzahlen, fluchen genau darüber und
besonders über die vielen Asiaten - aber sie sehen es gleichzeitig als
„Opfer“ an, das sie bringen müssen, um sich ihren hohen Lebensstandard
leisten zu können. Ja es kommen zwar viele Touris, sagen sie, aber es sei doch
prima dass alles teurer wird, dann kommen nur noch die mit viel Geld ins
Land. Überhaupt sei Massentourismus besser, als Individualtourismus,
denn die Massen bleiben ja nur auf dem „Golden Circle“ oder der
Ringstraße und machen nichts kaputt.
Hä? Wie passt das zusammen mit den
erhitzten Diskussionen in den isländischen Medien über dummes Verhalten
von Touristen, und mit Klopapier und Menschenscheiße gesäumte
Parkplätze?
Und angesichts meiner Frage, ob sie nicht der Meinung wären, dass
in Island einiges falsch liefe, zuckten sie mit der Schulter und sagten: „Ja vielleicht, aber was können wir schon tun...?“
Ich, die ich selber ja auch "nur" Tourist bin, komme mir vor, wie in einem schlechten Film. Sind die Isländer denn wirklich sowohl blind als auch blöd? Realisieren sie denn tatsächlich nicht, dass sie sich alles kaputt machen mit diesem zügellosen Wildwuchs und ihrer rücksichtslosen, egozentrischen Geldgier?
Niemand
scheint es für besorgniserregend zu halten, dass Island wieder komplett konsumgesteuert ist und es niemanden gibt, der die Entwicklung kontrolliert oder in nachhaltige Bahnen lenkt. Alles ist so dermaßen auf Gewinnmaximierung getrimmt, so was von kaum zukunftsorientiert, dass
sich der nächste Crash mit einem Trommelwirbel anzukündigen scheint. Ich bin ja nun kein Wirtschaftsexperte, aber die Zeichen sind für mich alarmierend deutlich. Schon
wieder gibt es bis über 5% Zinsen auf Sparkonten bei den Banken, schon
wieder schmeißen diese mit Krediten nur so um sich. Schon
wieder sind die Isländer vollkommen größenwahnsinnig, schon wieder dreht
sich alles nur um Geld, verdienen alle wie blöde und jammern gleichzeitig, dass sie nichts besitzen. Ja, diesmal gibt es den Tourismus, der Geld ins Land schwemmt, auf Kosten der Natur. Dennoch: für mich ist dies gerade ein
Déjà vu; ich fühle mich 10 Jahre zurückversetzt in die Monate vor der Finanzkrise. Die Blase, welche die Isländer munter weiter aufpumpen, ist wie der erwartete Ausbuch des Vulkans Katla: Die Frage ist nicht, ob es geschieht, sondern nur noch, wann es soweit sein wird.