Samstag, 5. Januar 2013

Auf in den Süden

Montag, 31. Dezember 2012, 21 Uhr. Seit Stunden schon hörte und sah man immer mal wieder Feuerwerkskörper in den Himmel aufsteigen, weniger und weniger Menschen waren in den Städten und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und dann meist in Feierlaune. Im ICE zum Frankfurter Flughafen saßen ungewöhnlich wenige Reisende, und auch der Frankfurter Flughafen war so menschenleer, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Es gab keine Schlangen, ich kam problemlos durch die Kontrollen – irgendwie war alles etwas surreal. Und als ich schließlich die Maschine erblickte, die mich nach Buenos Aires bringen sollte, wurde mir allein durch die schiere Größe der Boeing 747-400 klar, dass ich nicht in gewohnte Gefilde reisen würde.

Wider Erwarten (und entgegen meiner Hoffnungen) wollten erstaunlich viele Leute über Silvester nach Argentinien fliegen: die doppelstöckige Boeing war zu gut zwei Dritteln belegt. So musste ich mir leider eine Reihe mit einem älteren Mann teilen, der sich, genau wie ich, eigentlich auf den Sitzen hinlegen wollte. Ich ließ ihm den Vortritt, denn erstens war ich partout nicht müde und wollte außerdem das Silvesterfeuerwerk aus der Luft sehen. Das Wetter war super: über der Schweiz und Südfrankreich konnte ich immer mal wieder einzelne Lichtblitze sehen, gezündet von all jenen, die nicht bis Mitternacht warten konnten. Leider leider befanden wir uns zum Jahreswechsel irgendwo südlich von LaPalma über dem Mittelmeer, und als wir später Algerien überquerten, schien niemand (mehr?) Silvester zu feiern.
Zu Sonnenaufgang hatten wir den Äquator schon überflogen; unser Stern tauchte die unter uns dahingleitenden Landschaft aus Cumulus congestus Wolken in wärmste Farben.
Irgendwann, wir flogen schon seit längerem die brasilianische Küste hinab, sah ich aus der Ferne eine riesige Stadt: die Karte auf den Bildschirmen im Flugzeug wies sie als Rio de Janeiro aus. Ich hatte noch nie Luftfotos von Rio gesehen, wusste bloß, dass die berühmte Jesus-Statue in relativer Nähe zum Meer auf einem Zuckerhutberg steht. Es war schwer, aus dieser Höhe das Relief zu erkennen, aber mithilfe meiner Kamera entdeckte ich ihn doch tatsächlich: den "Cristo Redentor" auf dem 700m hohen Berg "Corcovado". Cool – jetzt kann ich behaupten, ihn mit eigenen Augen gesehen zu haben, und das ohne dass ich mich je in diese Stadt begeben musste! Praktisch! :-)
Nach 13½ Flugstunden und sehr wenig Schlaf fand ich mich plötzlich im sommerlichen Buenos Aires wieder und kam mir völlig fehl am Platze vor. Wie absolut verrückt es doch ist, im Winter auf der einen Seite der Erde in ein Flugzeug zu steigen und nach einem kurzen Nickerchen im Sommer der Südhemisphäre zu stehen. Irgendwie fühlt sich das nicht richtig an...
Ich hatte ein paar Stunden Aufenthalt, verzichtete aber dankend auf eine Besichtigung des Riesenmolochs: mir war viel zu warm! Ich hatte mich für die Antarktis eingekleidet, nicht für Flip-Flop Wetter und angeln am braunen Meer, das kein Meer sondern der breiteste Fluss war, den ich je gesehen hatte... Statt dessen schlug ich mich zum Inlandsflughafen durch, wo ich einige Stunden später in meinen Anschlussflug nach Ushuaia stieg. Zu meiner Überraschung wurde ich in der ersten Klasse einquartiert – ich weiß ja nicht, wie ich zu der Ehre kam, aber ich genoss die viele Beinfreiheit und bekam obendrein noch ein belegtes Brötchen zum Mittagessen!
Beim Start bestätigte sich mein Eindruck von der Landung: Buenos Aires ist ein Moloch. Häuser, wohin das Auge nur schaut, von Horizont bis Horizont – warum sich Menschen so etwas antun wird  mir wohl nie begreiflich sein!
Das Wetter war den ganzen Flug über fantastisch: ich konnte mir einen ziemlich guten Eindruck von der Landschaft der südamerikanischen Küste machen. Und dieser Eindruck war sehr ernüchternd: ich sah ausnahmslos Städte, Acker und Weideland. Kaum ein Baum stand in der grünen Landschaft unter mir; winzige Wald- und Feuchtgebiete gab es allerhöchstens in direkter Nachbarschaft zu kleineren, quadratischen Städten. Im Gegensatz zu diesen endlosen Nutzgebieten erschien mir Mitteleuropa wie ein bewaldetes Paradies!
Je weiter wir nach Süden flogen, desto bergiger und unwegsamer wurde die Landschaft unter uns: endlich gab es größere, zusammenhängende Waldgebiete, durchzogen von gelegentlichen menschlichen Großbauten wie Straßen, Gruben oder Staudämmen. Dann setzten wir zum Landeanflug an.
In Ushuaia angekommen, schlief ich erstmal die ganze Nacht hindurch und machte mich am nächsten Morgen daran, die bewaldeten Berghänge hinter dem Ort zu erkunden. Die Stadt hat durch den Kreuzfahrttourismus einen solchen Boom erlebt, dass bezahlbarer Wohnraum knapp geworden ist und die Menschen einfach begonnen haben, illegal in den Wäldern zu wohnen. 
Ohne Müllabfuhr und Kanalisation entstehen um die selbstgezimmerten Häuser dann Müllhalden, um die sich später keiner mehr kümmern will. Im Gegenteil: vieles machte den Eindruck, dass diese Müllhalden von Einheimischen noch vergrößert wurden, vielleicht um sich die Müllabgabegebühr zu sparen. Es waren herbe Anblicke, die sich mir da boten, und ein trauriger erster Eindruck des mir so neuen Kontinentes.
Ich versuchte, die bewohnten und vermüllten Waldbereiche so schnell wie möglich zu verlassen: dann, endlich, konnte ich so richtig eintauchen in diesen feuchten, subtropischen Südbuchenwald und seine gelegentlichen Lichtungen. Ich konnte einige unbekannte Vogelarten beobachten, die ich immer nur grob einzuordnen wusste: regenpfeiferartige, drosselartige, ein Ibis, und viele kleine, oft sehr lautstarke Singvögel die mich an Zaunkönige und Pitpits erinnerten. 
Auch die Pflanzenwelt war mir oft gänzlich unbekannt: flechtenbehangene Südbuchen, orchideen-, stiefmütterchen- und erdbeerenartige Blumen, Binsen und gelegentliche Farne wuchsen zwischen wunderschön beblümten Sträuchern. Besonders auffällig war die hohe Anzahl von parasitären Pflanzen und Pilzen; der auffälligste Vertreter hing wie eine Ansammlung orange-gefleckter Marzipankugeln an den Stämmen und Ästen der Bäume. 
Cyttaria darwini, parasitischer Schlauchpilz, auch Golfkugelpilz genannt, auf Südbuche/Scheinbuche
Als ich am späten Nachmittag nass, dreckig und glücklich nach Ushuaia zurückkehrte, sah ich eine alte Bekannte im Hafen liegen: „Fram“, das Expeditionsschiff von Hurtigruten, lag am Kai vertäut. Ich versuchte sofort, in den Hafenbereich zu gelangen, da ein ANG-Student meines Jahrgangs auf dem Schiff arbeitete. Leider ließen mich die Hafenarbeiter nicht hinein – schade, das wäre eine lustige Begegnung gewesen. Statt dessen aber traf ich meinen Chef Morten von PolarQuest und zwei weitere Guides, die ich in der Arktis kennengelernt hatte – das Gelächter war groß, als wir uns gegenseitig erkannten. Die Welt der Expeditionskreuzfahrt-Guides ist offensichtlich ziemlich klein!
Abends lief die MS Expedition im Hafen ein, das Schiff, auf dem ich bis März arbeiten werde. Die Hälfte der Saison war nun vorbei: fünf im bestehenden Team wurden durch einen neuen Expeditionsleiter, den Camping-Master, den Zodiak-Master, einen General Naturalist und mich als neuen Expeditionsleiter-Assistenten ersetzt. Um 15 Uhr kamen die neuen Gäste an Bord, um 17 Uhr stachen wir in See: für die kommenden zweieinhalb Monate würde ich nun unterwegs sein. Man, was war ich auf die Antarktis gespannt!