Montag, 31. Oktober 2016

Massentourimus in Island - Reaktion

Hallo zusammen,

ich muss ehrlich zugeben, dass ich überrascht bin über die Aufmerksamkeit, die mein letzter Blogeintrag erhalten hat. Sowohl hier als auch auf Facebook und in privaten Mails erreichten mich Dutzende von Kommentaren - auf die ich leider nicht einzeln eingehen kann, dazu fehlt mir momentan die Zeit. Daher möchte ich an dieser Stelle eine Email mit euch teilen, für den Blog leicht umgeändert, die meine Antwort auf eine Reaktion aus Island war.
 
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Danke für deine ehrlichen Worte, die ich gut nachvollziehen kann. Ich bin mir sehr bewusst, dass mein Artikel nicht “politisch korrekt” ist und ich deshalb sicherlich vielen Leuten auf die Füße trete: inklusive dir. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich wahrscheinlich eine ganz andere Tonart angeschlagen hätte, hätte ich geahnt, dass dieser Blogeintrag auf ein solches Interesse stoßen würde. So aber habe ich meiner Wut Luft gemacht, spontan und emotional. Und ja, ich verallgemeinere, rede von "den Touristen" und "den Isländern". Mir ist selbstverständlich bewusst, dass nicht alle in einen Topf zu schmeißen sind: das ist doch völlig klar. Aber es gibt eine Mehrheit, die Außenwirkung erzielt: und die spreche ich hier an.

Ich kenne Island seit über 15 Jahren, spreche die Sprache, habe gute Freunde dort und von der ersten Minute versucht, zu verstehen, worin die Unterschiede der isländischen und deutschen Mentalität begründet sein mögen. Wir könnten hier jetzt zu philosophieren beginnen, es wäre sicherlich interessant, sich darüber auszutauschen: es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Islands Natur von vielen Isländern wenig geschätzt und noch weniger geschützt wird. Ja, Island wird gerade vom Tourismus überrannt, und die 330.000 Einwohner sehen sich einer Lawine gegenüber, der sie kaum etwas entgegensetzen können. Aber es wäre nicht so, dass diese Lawine sich nicht angekündigt hätte! Ich habe 2007 auf Hólar Tourismus studiert, und die Zahlen waren da klipp und klar: bis zu 5 Millionen Touristen erwartete man im Jahr 2020. Das entspricht ziemlich genau der Realität. Es wurde aggressivstes Marketing für Island getrieben: Icelandair an vorderster Front, dazu die vom Staat geförderte Kampagne "Inspired by Iceland", und in den letzten Jahren Touren durch die großen Städte Chinas, um die Insel bekannt zu machen. Sicher, die Allgemeinheit wusste davon nicht viel, machte sich aber auch keine Gedanken.

"Þetta reddast", die isländische Version von "Hakuna matata", ist eine Philosophie, die im normalen isländischen Leben wunderbar ist. Der tiefe Glaube daran, dass alles schon irgendwie gut werden wird, bringt Gelassenheit und entspannt so einiges im normalen Alltag - aber nicht in großen Zusammenhängen. Was die momentane Situation angeht, hat die Politik völlig versagt, und mit ihr die Allgemeinheit, die ja die Politiker wählt und mit ihrem Konsum den Markt und die Entwicklung mitsteuert. Auch auf die Gefahr hin, wieder besserwisserisch zu klingen: Ich habe die Entwicklung seit Jahren vorausgesagt, habe versucht, Augen zu öffnen, aber ohne Erfolg. Ich habe festgestellt, dass in Island sehr, sehr gerne diskutiert wird, aber man extrem zögert, Veränderungen anzugehen. Besonders in einem Land und einer Zeit, in der Geld von vielen als das oberste Gut angesehen wird. Und so wurde immer nur auf die Verantwortung der Politik verwiesen, die dann aber mit scheinbar wichtigeren Sachen beschäftigt war. Und jetzt ist es zu spät, ganz nach Goethes Zauberlehrling:
"Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los."

Auch wenn "die Isländer" im globalen Vergleich sicherlich nicht alleine stehen und es ähnliche Fehlentscheidungen und drastische Entwicklungen auch andernorts gibt oder gab, so kann ich sie garantiert nicht loben, was das angeht. Es ist einfach zu viel falsch gelaufen, und tut es noch. Island gehört den Isländern, ja: aber nicht nur den Isländern dieser Generation, sondern auch denen, die in Zukunft dort geboren werden. Und auch den Neuisländern, zu denen auch ich mich zählen könnte.
Ich frage ganz unverhohlen: was gibt dieser jetzt lebenden Generation das Recht, die einzigartige Natur zu zerstören? Denn das geschieht gerade, aktiv durch Industrie und Infrastruktur, und indirekt durch den Tourismus, der ganz bewusst in diese Bahnen gelenkt wurde. Da auf die "Þetta reddast"-Lebenseinstellung zu verweisen und zu sagen „Reg dich nicht auf, der nächste Vulkanausbruch richtet das schon“ ist meiner Meinung nach nichts anderes als das Abgeben der eigenen Verantwortung.

Für mich sind klare Worte und Kritik ein Weg, um einige Leute dazu zu bringen, zu reagieren, zu diskutieren und vielleicht sogar zu handeln. Dass es funktioniert, zeigt unser Emailaustausch und die vielen Kommentare, die mein Beitrag erhielt. Dafür lasse ich mich gerne von einigen als "unhöflich" und "besserwisserisch" bezeichnen, denn: nichts ist schlimmer, als ein stummer Beobachter zu sein und Dinge einfach geschehen zu lassen. "Wir Deutschen" lernten dies spätestens im zweiten Weltkrieg: vielleicht ist das ein Grund, weshalb "wir" so kritikfreudig sind. Jegliche Diskussion ist gut, denn die geht jedem Handeln voraus. Denn wie der französische Dramatiker Moliere einmal sagte:
"Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun."

Viele Grüße,
Kerstin

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Sonntag, 23. Oktober 2016

Island - mit Vollgas in die nächste Krise

Den Herbst 2016 habe ich mit ziemlicher Vorfreude erwartet, denn dieses Jahr plante ich, schon Ende August nach Island zurückzukehren. Das ist insofern etwas Besonderes, als dass das Hochland dann noch erreichbar ist, und ich zum ersten Mal seit Jahren wieder dort wandern wollte. Bevor ich aber nähere Pläne über meine Touren machen konnte, erwartete mich das neue Island, also das des Massentourismus. Klar: August war noch Hochsaison, und dieses Jahr wird wieder einmal ein neuer Touri-Rekord eingestellt werden: 1.7 Millionen Besucher erwartet man noch bis Dezember. Und man jubelt schon den erwarteten 2.3 Millionen Besuchern für 2017 entgegen. Welch ein Wahnsinn...

Die Veränderungen sind von Besuch zu Besuch so gravierend, dass ich es einfach nicht verschweigen kann: was hier gerade abgeht, dürfte jeden schockieren, der Island schon etwas länger kennt. Die erste große Neuerung seit dem Frühjahr ist, dass Island ein Schilderwald geworden ist. Jedes Hotel, jedes Museum, jede Stadt, jedes Restaurant und jeder Supermarkt muss nun an den Straßen ankündigen, dass es da ist und dass man nach x Metern zu einer extrem wichtigen Abzweigung gelangt. Die Entwicklung war schon seit Jahren absehbar, aber diesen Sommer ist es ausgeartet. Ich habe nicht zählen können, wie viele großflächige Schilder allein zwischen dem Flughafen und der Hauptstadt stehen - es ist eine reine Werbe-Schlacht.

Die zweite Neuerung ist, dass Dinge nun auf Englisch ausgeschildert sind - und zwar teilweise ausschließlich auf Englisch. An einigen Supermärkten steht jetzt nur noch „Grocery store“, nicht mehr „verslun“, und auch sonst ist die isländische Beschriftung einfach verschwunden. Das verwundert mich extrem, sind die Isländer doch so stolz auf ihre Sprache. Dass es da keinen Widerstand gibt, finde ich erstaunlich.

Der Laugavegur in Reykjavík hat sich in eine reine Touristenmeile verwandelt, in ein Disneyland der Superlativen, in dem jeder Laden den gleichen Schrott aus China verkauft. Man findet kaum noch Islandpullis, die in Island von Isländern gestrickt wurden; statt dessen wird zum gleichen Preis maschinengefertigter Mist aus Portugal oder Fernost angeboten, mit dem Lable "Designed in Iceland". So ein Farce!

Die isländischen Outdoorläden 66°Norður und Cintamani verkaufen nur noch überteuerte, modische Klamotten, die man bei echten Touren nicht mehr tragen kann, weil sie unpraktisch sind, billigst hergestellt werden und nicht mehr als einen Regenschauer aushalten. Das ist Stadtkleidung für modebewusste Touristen, hergestellt in Fernost ohne Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen oder gar Umweltauflagen.  Echt traurig, wie die Nachfrage den Markt bestimmt.


Dadurch, dass der Tourismus so dermaßen boomt, gibt es jede Menge neue Arbeitsplätze in Island: allerdings hauptsächlich in der Dienstleistungsbranche. Nun ist es aber so, dass die wenigsten Isländer sich dazu herablassen wollen, zu putzen oder Touristen zu bedienen: moderne Isländer wollen möglichst nur im Management arbeiten. Das Wiederum bedeutet, dass extrem viele Ausländer die Billigjobs ausüben und man in Island eigentlich nur noch Englisch sprechen kann. Egal wo man hinkommt: ich kann mein Isländisch kaum einsetzen, da irgendwelche meist kaum angelernten Ausländer mit mir kommunizieren. Es fängt an bei Reinigungspersonal, sämtliche Verkäufer in Touri-Buden, Kassenpersonal in egal welchen Supermärkten/Shops, geht über Tankstellenwarte, Bedienungen in Imbissen und Restaurants, Köche, und selbst in "normalen", also gut angesehenen Jobs wie Busfahren findet man vermehrt Ausländer (sowohl bei den Langstreckenbussen als auch bei den Stadtbussen in Reykjavik), in Hotelrezeptionen und auch bei den Guides.

Isländer, die arbeiten lieber hinter den Kulissen in Büros, also hinter Computern, auf jeden Fall dort wo sie sich nicht die Finger schmutzig machen müssen, oder auch hinter den Steuern von Superjeeps, oder eben als Guides. Es ist eine erschreckende Entwicklung, denn diejenigen, mit denen man als Reisender Kontakt hat, haben teilweise kaum Ahnung und können einem keine guten Auskünfte geben.


Die Preise von Übernachtungen sind allein in den letzten Monaten um 20-30% gestiegen: Island ist dabei, unbezahlbar zu werden. Das gilt auch und besonders für jene, die in Reykjavik leben. Weil mittlerweile jeder Hinz und Kunz seine Zimmer, seine Wohnung oder gar ganze Häuser über Airbnb an Touristen vermietet, ist es beinahe unmöglich geworden, in Reykjavik bezahlbare Mietwohnungen zu finden. Das ist vor allem für Studenten und Niedrigverdiener (sprich: in Island lebende Ausländer) ein echtes Problem geworden. Die Mietpreise sind absoluter Wucher - und als wäre das nicht genug, muss man als Mieter ständig um seine Wohnung bangen. Freunde von mir sind im vergangenen Jahr dreimal umgezogen, weil ihr Zuhause jedes Mal in eine Übernachtung für Touristen umgewandelt wurde: klar, das bringt dem Vermieter viel mehr Geld. Und einen Mietschutz wie in Deutschland gibt es hier scheinbar nicht. Stellt euch mal vor, wie ihr euch fühlen würdet, wenn euch euer Zuhause immer wieder weggenommen wird - um es an Touristen zu vermieten!

Und es ist eigentlich völlig egal, welche Dienstleistung man in Island in Anspruch nimmt: es wird alles immer teurer. Übernachtungen, Transport, sämtliche Touren welche man buchen kann: Monat für Monat kostet es mehr. Die Preissteigerungen sind so extrem, dass ich mich frage, wie die Touristen das einfach hinnehmen können - aber klar, welche Wahl haben sie schon? Die Gier der Isländer kennt keine Grenzen, und die Dreistigkeit, mit der sie willkürlich die Preisschraube immer weiter andrehen, verschlägt mir regelrecht die Sprache. Island ist jetzt teurer, als vor der Finanzkrise. Und auch ich muss mir nun dreimal überlegen, was ich hier unternehme. Denn selbst Übernachtungen in Schlafsackunterkünften kosten teilweise so viel, dass man schlucken muss. Und da ist das Frühstück dann noch nicht inklusive!



Das völlig Absurde ist, dass der Tourismus den Isländern zwar aus der Finanzkrise geholfen hat, und sie so viel verdienen, wie seit Jahren nicht mehr: aber niemand scheint bereit zu sein, dieses Geld in die Zukunft des Landes zu investieren. Es ist die Natur, welche die Touristen hierher lockt - aber meint ihr, die Isländer würden etwas tun, um diese zu schützen? Hier und da entstehen zwar neue Plattformen, Gehsteige und Absperrungen, dann aber meist völlig spontan und scheinbar ohne länger darüber nachzudenken, ob man das Ganze nicht auch weniger auffällig hätte gestalten können, so dass es sich eher in die Landschaft einfügt. Meistens aber wird gar nichts gemacht. Es mangelt an Infrastruktur, vor allem an Toiletten - überall. Klopapier ist der gängigste Müll, gefolgt von Verpackungen von Snacks, denn auch Mülltonnen gibt es kaum welche, und wenn, dann quellen sie über und fliegt alles durch die Gegend.

Mit steigender Anzahl von Autofahrern nimmt auch das Offroadfahren zu, und natürlich die Erosion, die allein durch Fußtritte ausgelöst wird. Die Vegetation ist so dermaßen empfindlich, wie man es als Tourist nicht kennt: die wenigsten wissen, welchen Schaden sie eigentlich anrichten. Und so werden die bekannten Attraktionen von Tausenden von Naturliebhabern kaputt getrampelt: ein Netz von Pfaden zerstört die karge Vegetation und vor allem das Moos, das die Leute so begeistert, dass sie sich ständig darauf fotografieren müssen. Inklusive Justin Bieber und seinen Tänzern, die der Welt zeigen, wie herrlich es doch ist, in Island tun und lassen zu können, was man man will.

Screenshot aus dem neuen Musikvideo von Justin Bieber
Quelle: www.grapevine.is

    
Dies sind die Auswirkungen einer fehlgeschlagenen Marketingstrategie: "Inspired by Iceland", Icelandair und alle möglichen Pseudo-Abenteuergeschichten haben dafür gesorgt, dass viele Besucher der Meinung sind, hier im Land der unendlichen Möglichkeiten zu sein. Alles ist erlaubt, möglich, "fun" und natürlich ohne Gefahr und Folgen, eine Reise durch ein reales Computerspiel, scheinen manche zu denken. Schaut man sich den Trubel einmal an, erlebt man hier Dinge, die einen sich wundern lassen, wie niedrig der IQ des normalen Islandtouristen bloß sein muss.

Wandern auf Jökulsárlón. Bild von Gylfi Blöndal
Quelle: www.guidetoiceland.is/nature-info/things-that-can-kill-you-in-iceland

                  
Die gängigste Reaktion ist momentan, dass gar nichts geschieht. Mancherorts werden Attraktionen geschlossen: in Form einer Absperrung und eine Schildes, dies ist aber (noch) die Ausnahme. Denn Massentourismus lässt sich weder durch Seile noch Schilder stoppen: die Touristenschafe klettern einfach drüber und laufen trotzdem hin, den immer breiter werdenden Trampelpfaden nach, schließlich haben sie sich in den Kopf gesetzt, den jeweiligen Ort jetzt zu besuchen. Das geht solange, bis der Landbesitzer herkommt und Eintritt verlangt. Und das geschieht nun an immer mehr Orten - offiziell wie inoffiziell.

Nur ein paar Beispiele: Bei Stokksnes (Höfn) fährt der Landbesitzer den Touris hinterher und verlangt 800 Kronen pro Person, um dort zu fotografieren - er nennt es "Umweltschutz-Gebühr". Die beiden bekanntesten Lavahöhlen auf Reykjanes, Raufahólshellir und Leiðarendi, je 30-40 Minuten Autofahrt von Reykjavík entfernt, werden jetzt geschlossen: ein Holz-Tor soll über die Eingänge gebaut werden, angeblich um die Höhlen vor Schäden durch Besucher zu schützen. Ich kenne beide Höhlen und muss sagen: da hat sich in den letzten Jahren nicht viel verändert; die Schäden sind vermutlich von den ersten Isländern begangen worden, die Tropfsteine abbrachen und mit nach Hause nahmen. Nein, hier handelt es sich einzig und allein ums Geldverdienen: denn ab sofort kann man die Höhlen nur noch auf geführten Touren besichtigen. Ein Schlag in den Magen für all diejenigen, die in Reykjavík leben und die Höhlen in ihrer Freizeit regelmäßig besuchten, einfach weil es ein tolles Erlebnis ist.




Ich bin nicht die einzige, die diese Dinge beobachtet und sehr kritisch sieht. Ich habe mittlerweile mit einigen Island-Freunden gesprochen, und viele sind genauso geschockt und hilflos den Entwicklungen gegenüber, wie ich. Und alle kommen sie zu einem Schluss, den ich sehr skeptisch betrachte: dass Island zwar an den bekannten Attraktionen überlaufen ist, man sich aber bei Wanderungen abseits der Straßen noch gänzlich alleine wähnt.

Das stimmt zwar ohne Zweifel: aber was glaubt ihr denn, wie lange das noch so bleibt, wenn jedes Jahr 400.000 bis 600.000 Touristen mehr nach Island kommen? Was glaubt ihr, wie lange die stillen Ecken noch einsam sind, wenn eure Bilder und Berichte online gehen und in drei Jahren vom Lonely Planet als neuer "Insidertipp" vorgestellt werden? Viele der Touristen wollen etwas "einzigartiges" erleben, wollen nicht mit den Massen zusammen sein. Und als Konsequenz werden dann auch die weniger bekannten Orte bekannt, zugemüllt und zertrampelt.



Noch gilt in Island das Jedermannsrecht: aber wie lange wohl noch? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es abgeschafft wird - und dann ist die Freiheit für uns Natur- und Wanderliebhaber dahin. Aber wie sonst sollte man die Vegetation des Hochlandes schützen, die so dermaßen empfindlich ist, dass eine einzige Wandergruppe pro Jahr in einigen Gegenden schon für die Bildung von Pfaden sorgen kann?!
Moos stirbt, wenn mehr als einmal darauf getreten wird. Fuß- und Reifenspuren halten sich über den Winter hinweg, Klopapier überdauert ganze Jahrzehnte - das isländische Hochland verkraftet nur einen sanften Individualtourismus, und der wird bald auch in den entlegenden Gegenden der Vergangenheit angehören.



Die Toleranz der Isländer den Touristen gegenüber sinkt Jahr für Jahr, denn es benehmen sich einfach zu viele komplett daneben und beginnt die reine Masse an Leuten einfach nur zu nerven. Und ja, es gibt auch jene Isländer, die die Entwicklung genauso skeptisch sehen wie ich und versuchen, das Thema zur Diskussion zu bringen. Der Ruf nach Regeln wird laut, nach Verboten. Bisher haben sich die Isländer diesbezüglich sehr zurückhaltend gezeigt - aber welche Wahl bleibt ihnen schon angesichts von 4-5 Millionen Touristen im Jahr 2020? Icelandair pusht und pusht, sagt, Island vertrage locker 3-5 Millionen Touristen, prahlt damit, wie viele Arbeitsplätze allein am Flughafen entstehen würden. Und die Allgemeinheit nickt und lächelt, spricht von der Kaufkraft der Touristen, von der Erschließung der Natur, vom Bau von Infrastruktur und von einer rosigen Zukunft. Dabei ignorieren sie, dass das Glas jetzt schon voll ist - und langsam aber sicher überläuft.



Bekannte von mir, die im Tourismus arbeiten, sind müde wegen der harten Arbeit durch die ständig steigenden Touristenzahlen, fluchen genau darüber und besonders über die vielen Asiaten - aber sie sehen es gleichzeitig als „Opfer“ an, das sie bringen müssen, um sich ihren hohen Lebensstandard leisten zu können. Ja es kommen zwar viele Touris, sagen sie, aber es sei doch prima dass alles teurer wird, dann kommen nur noch die mit viel Geld ins Land. Überhaupt sei Massentourismus besser, als Individualtourismus, denn die Massen bleiben ja nur auf dem „Golden Circle“ oder der Ringstraße und machen nichts kaputt.
Hä? Wie passt das zusammen mit den erhitzten Diskussionen in den isländischen Medien über dummes Verhalten von Touristen, und mit Klopapier und Menschenscheiße gesäumte Parkplätze?
Und angesichts meiner Frage, ob sie nicht der Meinung wären, dass in Island einiges falsch liefe, zuckten sie mit der Schulter und sagten: „Ja vielleicht, aber was können wir schon tun...?“

Ich, die ich selber ja auch "nur" Tourist bin, komme mir vor, wie in einem schlechten Film. Sind die Isländer denn wirklich sowohl blind als auch blöd? Realisieren sie denn tatsächlich nicht, dass sie sich alles kaputt machen mit diesem zügellosen Wildwuchs und ihrer rücksichtslosen, egozentrischen Geldgier?

Niemand scheint es für besorgniserregend zu halten, dass Island wieder komplett konsumgesteuert ist und es niemanden gibt, der die Entwicklung kontrolliert oder in nachhaltige Bahnen lenkt. Alles ist so dermaßen auf Gewinnmaximierung getrimmt, so was von kaum zukunftsorientiert, dass sich der nächste Crash mit einem Trommelwirbel anzukündigen scheint. Ich bin ja nun kein Wirtschaftsexperte, aber die Zeichen sind für mich alarmierend deutlich. Schon wieder gibt es bis über 5% Zinsen auf Sparkonten bei den Banken, schon wieder schmeißen diese mit Krediten nur so um sich. Schon wieder sind die Isländer vollkommen größenwahnsinnig, schon wieder dreht sich alles nur um Geld, verdienen alle wie blöde und jammern gleichzeitig, dass sie nichts besitzen. Ja, diesmal gibt es den Tourismus, der Geld ins Land schwemmt, auf Kosten der Natur. Dennoch: für mich ist dies gerade ein Déjà vu; ich fühle mich 10 Jahre zurückversetzt in die Monate vor der Finanzkrise. Die Blase, welche die Isländer munter weiter aufpumpen, ist wie der erwartete Ausbuch des Vulkans Katla: Die Frage ist nicht, ob es geschieht, sondern nur noch, wann es soweit sein wird.

Freitag, 14. Oktober 2016

Svalbard 2016 - Bildimpressionen

Von Mai bis August 2016 war ich im fünften Jahr in Folge auf und um Spitzbergen unterwegs. Für mich war dieser Sommer insofern etwas ganz Besonderes, als dass es mein vorerst letzter in der Region gewesen sein könnte. Noch ist nicht entschieden, was ich in den nächsten Jahren wohl machen werde, aber da mir der Sinn nach einer neuen Herausforderung steht, habe ich erst einmal alle Jobangebote abgelehnt. Es ist aber nur ein Abschied auf Zeit: dass ich zurückkehren werde, steht für mich außer Frage!

Die folgenden Bilder gehören zu meinen liebsten Erinnerungen an den vergangenen Sommer. Und so wird dies kein thematisch geordneter Blogeintrag, sondern ein Sammelsurium kleiner Geschichten.


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Wie schon erwähnt, so war der Sommer 2016 unglaublich warm. Das hatte nicht nur negative Auswirkungen: den meisten Pflanzen kam die Wärme zugute! Zweimal war ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und konnte einige Blumen in voller Blüte fotografieren: hier beispielsweisen den Moorsteinbrech unterhalb des Vogelfelsens Gnålodden im Hornsund. Für Pflanzen herrschen dort regelrecht paradiesische Verhältnisse: ein Hang mit Ausrichtung nach Süden, viel Dünger von oben, Humus und Vegetation, welche die karge Feuchtigkeit speichern... All dies bewirkt, dass sich die hiesige Tundra für ein paar Tage in ein farbiges Blütenmeer verwandelt. Für mich war es das erste Mal in fünf Jahren, dass ich genau zum richtigen Zeitpunkt für die Moorsteinbrechblüte hier war: ein rauschendes Fest für alle Sinne, und dann auch noch bei dem Kalenderwetter...

 
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Ein anderer Höhepunkt war eine Reise mit Rolf Stange, der unter uns Deutschsprachigen auch als "Mr. Spitzbergen" bekannt ist. Rolf kennt Svalbard so gut wie seine Westentasche: und führte uns zu diesem Ort, an dem es die Fußspuren von Iguanodonten zu sehen gab. Das verrückte ist, dass ich schon mehrere Male dort war: aber von den Fußspuren wusste ich nicht, da bin ich einfach dran vorbeigelaufen! Es war ein Kindheitstraum, vor diesen versteinerten Spuren zu stehen und sich die Dinos vorzustellen, die hier vor etwa 125 Millionen Jahren durch den Matsch gelaufen sind. Geologen schreiben diese Spuren einer kleinen Art von Iguanodonten zu, Caririchnium billsarjeanti mit Namen: Dinos, die teils auf allen Vieren, teils auf ihren Hinterbeinen liefen und deren Daumen dornenförmig waren und wohl zur Verteidigung genutzt wurden.

 

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Steinpolygone auf der Blomstrandhalvøya. Permafrost ist für einige faszinierende geologische Phänomene verantwortlich: u.a. für Frostmusterboden, wie hier zu sehen. Im Laufe von Jahrtausenden führt das ständige Tauen und Gefrieren der Oberfläche dazu, dass der Boden nach Korngröße sortiert wird: das feine Material wie Sand landet im Inneren, während die größeren Steine nach außen geschoben werden. Solche Strukturen können bis zu 10 Meter im Durchmesser erreichen; hier maßen es im Durchschnitt 2 Meter.


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Ein Eissturmvogel vor Lenticulariswolken, die in der Arktis oft bei hohen Windstärken entstehen und daher direkte Vorboten von Stürmen sind. Sieht man sie, dann kann man davon ausgehen, dass es innerhalb der nächsten drei Stunden ordentlich zu winden beginnen wird... Den Eissturmvögeln ist das gerade recht, denn es sind perfekte Segler, denen es gar nicht windig genug sein kann!


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Ein Finnwal, der zweigrößte Wal unserer Ozeane, bläst vor der Kulisse Südost-Spitzbergens. Finnwale sind ziemlich schnelle Schwimmer und nur dann gut zu beobachten, wenn sie fressen, denn dann tauchen sie immer wieder in der gleichen Gegend auf und ab. Da sie über 20 Meter lang werden können, haben sie auch ziemlich große Lungen und dementsprechend einen hohen Blas: bis zu sechs Meter hoch spritzt das Wasser, wenn sie ausatmen. Genau wie wir, haben sie natürlich nur Luft in den Lungen: das Spritzwasser stammt aus der kleinen Delle, in der ihre Nasenlöcher liegen. Da sie ja grade auftauchen, befindet sich in den Nasenlöchern selbst noch etwas Wasser, das bei den Finnwalen vielleicht dem Volumen eines normalen Suppentellers entspricht. Dieses bisschen Wasser wird von der unter hohem Druck ausströmenden Luft regelrecht zerstäubt und formt den sichtbaren Teil des Blases.


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Zeit für einen Eisbären! Dieses mittelalte Weibchen beschloss, das Schiff auszukundschaften, und kam zügig auf uns zumarschiert. Dies ist ein Anblick, den ich niemals an Land erleben möchte, denn diese Bärin hatte keinerlei Hemmungen uns gegenüber und kam ziemlich zügig immer näher. Ich befand mich auf ihrer Augenhöhe, fotografierte durch ein Bullauge hindurch - das war schon ziemlich eindrücklich, muss ich sagen, und ich war heilfroh, eine Wand aus Stahl zwischen mir und diesem faszinierenden Raubtier zu wissen!

Der Knopf im Ohr ist ein Zeichen, dass sie vor gar nicht so langer Zeit von Wissenschaftlern gefangen und markiert wurde. Viel zu viel Bären werden vom Norwegischen Polarinstitut mit Helikoptern gejagt und dabei manchmal regelrecht traumatisiert - aber das ist eine andere Geschichte. Diese Bärin hat uns offenbar nicht mit ihren wissenschaftlichen Verfolgern in Verbindung gebracht: ein Glück für uns, denn so kam sie uns sehr, sehr nah!

 
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Eine Tierbegegnung, bei der ich mir um die Sicherheit keinerlei Sorgen machen musste, war die mit diesem jungen Polarfuchs. Wir befanden uns am Rande einer Kolonie von Krabbentauchern, und auf einmal tauchte dieser junge Blaufuchs auf. Und das war etwas Besonderes, denn: auf Spitzbergen sind Blaufüchse ein seltener Anblick!

Ein Polarfuchs in der Farbvariante "Silberfuchs"

Polarfüchse gibt es in zwei Farbvarianten: eine, die im Winter schneeweiß ist, im Sommer aber zweifarbig (grau-braun auf dem Rücken und gelb-grau am Bauch), das sind die sogenannten Silberfüchse. Dies ist die bekannteste und "normale" Färbung der Polarfüchse.

Durch eine Mutation gibt es aber auch die Blaufüchse, die im Sommer einfarbig schokobraun sind, und die im Winter nur minimal heller werden. Das Winterfell eine Blaufuchses variiert zwischen Hellgrau und Dunkelgrau, das im richtigen Licht einen bläulichen Schimmer hat: daher wohl der Name "Blaufuchs". In einem Wurf kann es beide Farben geben, der Blaufuchs ist allerdings dominant. Das erklärt, warum es beispielsweise in den isländischen Westfjorden vor allem Blaufüchse gibt. In Spitzbergen und der hohen Arktis generell aber sind Blaufüchse die absolute Ausnahme, denn ihre dunkle Färbung ist für sie ein evolutionärer Nachteil. Klar: je weiter nördlich man sich befindet, desto länger ist das Land mit Schnee bedeckt, und desto ungeschickter ist es für einen Polarfuchs, braun-grau zu sein. Es werden zwar einige Blaufüchse geboren, aber die wenigsten überleben ihren ersten Winter. Das sind keine guten Aussichten für diesen Jungfuchs, aber: auch in der Natur bestätigen Ausnahmen die Regel! :-)





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Im letzten Blogbeitrag berichtete ich ja über die Dickschnabellummen am Alkefjellet. Zu den Alken gehören verschiedene Vogelarten: unter anderem die kleinen Krabbentaucher. So sehr ich Dickschnabellummen mag: ich glaube, die Krabbentaucher habe ich noch einen Ticken mehr ins Herz geschlossen! Diese kleinen Kerle sind gerade einmal so groß wie eine Amsel, aber unwahrscheinlich drollig! Man trifft sie niemals alleine an: Krabbentaucher sind chronisch gesellig und lieben es, in der Gruppe zu sein. Zehntausende von ihnen brüten auf engstem Raum in Geröllhalden, wie viele es von ihnen gibt, kann man nur schätzen. Man vermutet, dass Krabbentaucher die häufigsten Vögel der Nordhalbkugel sind! Es gibt sie nur in der hohen Arktis: wie die Dickschnabellummen, so sind es echte Meeresvögel, die nur zum Brüten an Land kommen, den Winter aber auf dem Meer entlang des Packeises verbringen. Sie ernähren sich von Ruderfußkrebsen, winzigen Krebstieren, die es nur in direkter Nähe zum Packeis gibt. Wenn ihr Küken geschlüpft ist, transportieren sie die Ruderfußkrebse zu Dutzenden in ihrem Kropf (einem Kehlsack) zum Nest: das kann man auf dem obigen Bild schön sehen.

  

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Unvergesslich war für mich eine Eisbärenbegegnung, die eigentlich ziemlich unspektakulär war. Wir hatten eine Bucht im Nordosten Svalbards angesteuert, die selten von Expeditionsschiffen besucht wird, und einen kurzen, geschichtlich orientierten Landgang geplant. In einem Schneerest sah ich dann aber frische Eisbärenspuren, und unmittelbar darauf entdeckte ein Gast diesen Bären, der weit oben am Hang unterhalb einer Klippe geschlafen hatte. Das Tier war neugierig, verbrachte aber erstmal einige Zeit damit, Alpenampfer zu fressen. Irgendwann kam es, langsam aber zielstrebig, zu den Gummibooten herabgeklettert, die im Wasser dümpelten. Nach kurzem gegenseitigem Beobachten beschloss das schlanke Weibchen, dass wir zwar nicht von Interesse waren, aber auch keine Bedrohung für sie darstellten: und legte sich im Abstand von 20 Metern zu uns schlafen. Es war ein unglaublich tolles Gefühl, dass uns dieses wilde Tier solch ein Vertrauen schenkte - und sich auch dann nicht von uns stören ließ, als wir uns vorsichtig wieder zurückzogen und (ohne Landgang, da lag ja schließlich jetzt ein Bär herum...) wieder zum Schiff zurückkehrten.



















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Eine der vielen Folgen des Klimawandels ist es, dass die Gletscher schneller schmelzen - das wissen  wir mittlerweile alle. Vor Ort bedeutet dies, dass es mehr Eisberge gibt, da ja mehr Eis von den Gletscherfronten abbricht. Svalbard ist jetzt nicht unbedingt bekannt für seine Eisberge: im Gegensatz zu Grönland und der Antarktis sind die Fjorde hier recht flach, weshalb meist nur kleine Stücke von den Gletschern abbrechen. Eine Ausnahme bildet der Austfonna, der von den Norwegern als größter Gletscher Europas gehandelt wird (wobei die Isländer da anderer Meinung sind, für sie ist der rechtmäßige Inhaber des Titel der etwa gleichgroße Vatnajökull...).
An der Ostseite des Austfonna durfte ich dieses Jahr die größten und spektakulärsten Eisberge bestaunen, die mir auf Svalbard je begegnet sind. Eine echte Augenweide!

 
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Folgt man dem Austfonna ein paar hundert Kilometer weiter Richtung Südosten, erreicht man den Bråsvellbreen. Auch dies ist eines der faszinierensten Naturwunder Svalbards: eine 10 - 30 Meter hohe Gletscherkante, von der im Sommer Wasserfälle ins Meer stürzen. Dieses Jahr gab es einen Wasserfall, der mich besonders begeistert hat: er kam nicht von oben, sondern schoss an der Abbruchkante aus dem Eis heraus. Einfach nur toll!

 
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Dieses Jahr habe ich ziemlich wenig Robben gesehen: umso besonderer war jede einzelne Begegnung. Hier segelten wir an einer Bartrobbe vorbei, die sich auf dem Eis ausruhte und uns ebenso neugierig beobachtete, wie wir sie. Bartrobben sind (nach den Walrossen) die zweitgrößten Robben der Arktis und können uns Menschen gegenüber recht tolerant sein - oder auch sehr scheu, das scheint eine Charaktersache zu sein. Diese hier war tiefenentspannt! :-)


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Eisbären bin ich einigen begegnet diesen Sommer: dünnen und dicken, jungen und alten, lebenden und toten. Aufgrund des Mangels an Meereis bin ich nur auf einer von acht Fahrten zum Packeis gekommen: genau auf der Reise aber kam es zu meiner eindrücklichsten Eisbärenbegegnung des Sommers. Eine Mutter mit zwei eineinhalbjährigen Jungen sah das Schiff und - und verlor jegliche Kontrolle über ihre beiden Teenager. Bären in dem Alter sind völlig furchtlos: was darin resultierte, dass die beiden Draufgänger ihre Mutter direkt zum Schiff brachten.

Nur als Anhaltspunkt: auf einigen Reisen sehen wir Eisbären nur als gelbe Flecken im Fernglas, eine normal-gute Eisbärenbegegnung spielt sich in einer Distanz von 100 Meter Entfernung ab. Wilde Eisbären in einem Abstand von weniger als 50 Metern zu erleben, ist etwas total besonderes. Und ein Abstand von unter 5 Metern ist unerhört, genau wie auch diese Bilder, die mit meinem 20 mm Weitwinkelobjektiv gemacht wurden.

Diese Jungbären wussten das aber nicht und wagten sich, Seite an Seite, bis direkt an den Schiffsrumpf heran. Wir hörten die Bären miteinander reden: leise, brummend-jammernde Töne, welche die Geschwister untereinander, aber auch mit der Mutter austauschten. Auch wenn ich schon viele Eisbären gesehen habe: diese Nähe ist die absolute Ausnahme und ging auch mir unter die Haut!





Dienstag, 11. Oktober 2016

Svalbard: Alkefjellet

Einer der für mich faszinierensten Orte auf Spitzbergen ist Alkefjellet, der "Alken-Berg". Diese senkrecht ins Meer fallende Felswand befindet sich mittig in der Hinlopenstraße, also der Meerenge zwischen den beiden größten Inseln des Archipels, Spitsbergen und Nordaustlandet.


Alkefjellet ist eine Klippe aus Doleritgestein, also sehr hartem Fels vulkanischem Ursprungs, der voller Kanten und Stufen ist und über 100 Meter hoch direkt aus dem Meer aufragt. Es ist ein perfekter Vogelfelsen: schätzungsweise 60.000 Paare Dickschnabellummen brüten hier, ebenso wie Tausende von Dreizehenmöwen.


Wann immer es möglich ist, besuchen Expeditionsschiffe diesen Ort: denn es ist ein Erlebnis, das sich kaum in Worte fassen lässt. Eine solche Menge von Vögeln kann man sich gar nicht vorstellen! Wenn 120.000 Elterntiere versuchen, auf engstem Raum ihr jeweils einziges Ei auszubrüten und das Junge großzuziehen, dann ist immer etwas los! Wohin man nur schaut, sieht man Vögel: in der Luft, am Felsen, im Wasser.


Es stinkt zum Himmel, der Geruch von Guano prägt sich einem hier auf ewig ein, und die Wahrscheinlichkeit ist ohnehin ziemlich groß, dass man von oben bombardiert wird und diesen einmaligen Geruch mit in die Kabine nimmt... Nicht umsonst ist der eigentlich graue Fels vom Kot der Vögel rosa-orange gefärbt!

Auch die Geräuschkulisse ist nicht von dieser Welt: selbst der Schiffslärm geht unter in diesem ohrenbetäubenden, wunderschönen Konzert krächzend-murrender Vogelstimmen. Unzählige Vögel fliegen gleichzeitig zu und von der Klippe, ihr Flügelschlag vermischt sich mit dem Rufkonzert zu einem brummenden Hintergrundgeräusch, welches an einen Bienenschwarm erinnert. 




Im Wasser vor der Klippe schwimmen Tausende weiterer Dickschnabellummen, oft Jungvögel oder solche, deren Brut nicht geklappt hat. In der ersten Hälfte des Sommers, wenn noch Eisschollen und / oder kleine Eisberge in der Hinlopenstraße treiben, sitzen die bis zu 48 Zentimeter großen Vögel gerne in Gruppen auf den treibenden Inseln - und erinnern einen ziemlich an Pinguine!


Lummen und Pinguine sind sich zwar in keiner Weise verwandt, ähneln sich aber so stark, weil sie eine vergleichbare Nische erobert haben, also ungefähr den gleichen Lebensraum für sich beanspruchen. Beide leben sie im kalten Wasser und tauchen nach Krebstieren und kleinen Fischen.



Im Gegensatz zu den Pinguinen haben die Alkenvögel aber Fressfeinde an Land und können sie deshalb aufs Fliegen nicht verzichten: weshalb sie sich mit Ach und Krach noch in der Luft halten können. Sie sind aber mittlerweile bessere Taucher als Flieger: und das merkt man besonders beim Start und der Landung. Erstmal rennen sie Ewigkeiten über's Wasser, bevor ihnen der Abflug gelingt, und dann landen sie mit einem Bauchplatscher im Wasser, der weder zu übersehen noch zu überhören ist...





Im Brutfelsen ist jeder noch so kleine Vorsprung und jede Nische von den Lummen in Beschlag genommen worden: dicht an dicht hocken sie unmittelbar am Abgrund. Das Ei legen sie einfach auf den Stein, denn Lummen bauen keine Nester.


Ihre Eier sind birnenförmig, sodass sie nicht einfach davonrollen können, und die Elterntiere sind außerdem ganz arg darauf bedacht, das Ei und später das Küken immer schön gegen die Felswand zu drücken. Es heißt, dass das etwas Übung bedarf und die jungen Vögel dies auf die harte Art lernen müssen: die 3-7 jährigen Dickschnabellummen haben scheinbar selten Bruterfolg, weil sie einfach zu viele Fehler machen und Ei und Küken verlieren.

Die Küken sind die Miniaturversion der erwachsenen Vögel, welche sich gleichberechtigt um die Aufzucht des Nachwuchses kümmern. Einer bleibt immer beim Ei bzw. Küken, während der andere Partner Nahrung herbeiholt, oder schlichtweg zusammen mit dem Partner auf das Kleine aufpasst.

Obwohl die Dickschnabellummen in solch extremen Steilklippen brüten, sind ihre Fressfeinde nicht weit. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass an und unter jedem Vogelfelsen mindestens ein Paar Polarfüchse lebt, die sich einerseits von toten und kranken Tieren ernähren, andererseits aber auch ganz aktiv die Vogelnester plündern. Mich hat allerdings erstaunt, wie vorsichtig und scheu die kleinen Räuber sind: sie fürchten die Schnäbel der wehrhaften Lummen und lassen sich von selbstbewusst-aggressiven Vögeln schnell von ihren Jagdplänen abbringen. Ihre Strategie ist es, sich die Eier und Küken von jenen Vögeln zu schnappen, die sich verscheuchen lassen: das klappt gerade und besonders bei den jungen Lummen und Dreizehenmöwen, die teilweise dort brüten, wo der Fuchs ohne weitere Probleme hinkommt.


Die Gefahr kommt für die Lummen aber nicht nur von Land, sondern auch aus der Luft. Da es auf Svalbard keine Greifvögel gibt, haben mehrere Möwen die Stellung der Raubvögel übernommen. Die Eismöwe, eine der ganz großen Möwen, ist wohl der Hauptfeind der Dickschnabellummen hier am Alkefjellet. Mehrere Dutzend Brutpaare ziehen ihre Jungen unmittelbar unterhalb des Vogelfelsens auf: praktisch, denn so müssen sie nur ein paar Meter fliegen, um Nahrung zu beschaffen.

Zwei fast flügge Jungtiere und ein Elterntier der Eismöwe. Wie so oft, sehen Möwen im Jugendkleid ganz anders aus, als ihre Eltern: bei den Eismöwen sind die Jungtiere braun gesprenkelt und werden erst im zweiten Lebensjahr weiß mit hellgrauem Rücken.
             
Genau wie der Polarfuchs, so versuchen auch die Eismöwen, die Dickschnabellummen durch schnelle Annäherung (z.B. niedriges Überfliegen) zu erschrecken und vom Nest zu verscheuchen. Immer wieder verursachen sie eine Massenpanik, in der Hoffnung, dass ein Ei herunterfällt oder ein Küken sichtbar wird.

Eine weitere Jagdstrategie ist es, andere Vögel in der Luft zu attackieren und zum Absturz zu bringen. Schlägt der aus dem Gleichgewicht gebrachte Altvogel auf dem Land oder auch auf dem Wasser auf, stürzt sich die Möwe darauf und versucht, ihn zu erwürgen. Es ist kein netter Anblick, aber harte Realität im Überlebenskampf der hohen Arktis: fressen und gefressen werden ist auch hier das allgegenwärtige Motto der Natur.

Eine Eismöwe erwürgt eine ausgewachsenen Dreizehenmöwe














                
Der Sommer in der hohen Arktis ist kurz, und die Dickschnabellummen haben nicht viel Zeit, um ihre Jungen großzuziehen. Die Eier werden gelegt, sobald der Felsen schneefrei ist, was meistens erst Ende Mai bis Anfang Juni geschieht. Das Eis muss dann ungefähr 32 Tage bebrütet werden: das Junge schlüpft also erst im Juli! Die Eltern füttern es dann drei Wochen lang: und dann hören sie einfach damit auf, zum Missfallen des Kükens. Das ist nämlich noch lange nicht flügge, wird aber nun von den Eltern ins Wasser gelockt. Wenn das Kleine hungrig genug ist, wagt es den Sprung ins Ungewisse. Es folgt ein Sturz, der manchmal senkrecht nach unten führt, manchmal aber zu einem schönen Gleitflug ausarten kann. Die Flügel der Küken sind zwar noch zu klein zum Fliegen, aber Gleiten, das bekommen sie oft hin!





Die allererste Landung ist der Moment, der für die Küken am kritischsten ist. Manchmal schlagen noch an Land auf. Dann titschen sie wie ein Gummiball ein, zwei Meter in die Höhe, purzeln über Stein und Vegetation - und rennen dann oft unbeschadet in Richtung Meer, unglaublich aber wahr!
Leider haben sich alle Raubtiere der Region nun am Vogelfelsen versammelt: der Tisch ist gedeckt, das wollen sie sich nicht entgehen lassen. Und so stürzen sich Raubmöwen und Füchse auf die Kleinen, die kaum wissen, wie ihnen geschieht.

Viele Küken landen jetzt in den Mägen von glücklichen Füchsen, Eismöwen und Skuas - aber vielen anderen gelingt eben auch der Spung ins Meer. Die nächste Herausforderung ist es, ständig vor angreifenden Eismöwen abzutauchen und gleichzeitig einen Elternvogel wiederzufinden. Für uns Menschen scheint das ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, aber Altvogel und Küken kennen die jeweilige Stimme so gut, dass sie sich durch gegenseitiges Rufen bald wiederfinden. Oft ist es der Vater, der sich nun um das Kleine kümmert, denn er kommt genau jetzt in die Mauser und wird flugunfähig - genau wie das Küken, dem die Flugfedern ja erst noch wachsen müssen.

In den kommenden Monaten paddeln die beiden bis nach Südgrönland. Sie verbringen den Winter auf dem Meer, wo das Küken sowohl Jagen als auch Fliegen lernt. Erst, wenn dem Vater die Flugfedern wieder nachgewachsen sind, wird er das Kleine verlassen. Das wiederum wird zwei bis drei Jahre später wieder zur Kolonie zurückkehren, um sich ab seinem vierten Lebensjahr an der ersten Brut zu versuchen.

Auf den ersten Blick bekommt man nicht mit, dass die Population der Dickschnabellummen jedes Jahr um etwa fünf Prozent zurückgeht: warum, weiß man nicht so genau, es ist vermutlich eine Kombination aus Überfischung der Ozeane, Klimawandel und der Tatsache, dass viele Vögel in Fischernetzen ertrinken, wenn sie sich während ihrer Tauchgänge darin verheddern.

Dieses Bild (vom letzten Blogeintrag) zeigt die Überreste einer in einem Fischernetz ertrunkenen Dickschnabellumme.
                 
Die Durchschnittsgröße einer Dickschnabellummenkolonie ist in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zurückgegangen, zumindest auf Bjørnøya und West-Spitsbergen. Und dort dort lebt der Großteil der weltweiten Dickschnabellummen. Die Zahlen sind alarmierend: aber noch gibt es, zum Glück, viele Lummen, die Jahr für Jahr wieder versuchen, ein Ei und Jungtier ins Erwachsenenalter durchzubringen.

Alkefjellet ist nur einer von vielen Vogelfelsen auf Svalbard, und gehört dabei nicht einmal zu den größten: sehr wohl aber zu den spektakulärsten. Ich werde nicht müde, diesen Ort zu besuchen: die Menge von Vögeln und die schiere Wucht von Eindrücken hinterlässt mich immer wieder sprachlos. Für mich gehört dieser Ort ganz eindeutig zu den großen Naturwundern der Welt!