Dienstag, 27. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #3

Tag Nummer vier in Þjófadalir war der Tag gewesen, an dem ich den wunderbaren Sonnenaufgang mit dem filigranen Bodennebel erleben durfte. Als ich zur Mittagszeit zum Zelt zurückgekehrt war, drehte der Wind und schob sich eine Wolkenfront in meine Richtung. Einen kurzen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, meine Sachen zusammenzupacken und zur nächsten Hütte zu wandern: die 13 Kilometer Wegstrecke hätte ich bestimmt noch vor der Dunkelheit und dem vermuteten Regen geschafft. Ich entschied mich trotzdem, zu bleiben, räumte aber dennoch mein Zelt leer und setzte es um. Das tat ich einerseits, weil der Wind um 90 Grad gedreht hatte, und andererseits, um das Gras zu schonen, das ich jetzt schon vier Tage lang um sein Sonnenlicht gebracht hatte.
Sollte der Regen ruhig kommen: ich hatte mehrere Tausend Seiten Lesestoff dabei und war gerade voll in Urlaubsstimmung!



Und dann regnete es: zwei Nächte und anderthalb Tage hindurch, wobei es von Stunde zu Stunde kälter wurde. Zur Mittagszeit des sechsten Tages hatte sich der schwache Dauerregen in starke, aber sehr lokale und kurze Regenschauer verwandelt. Es herrschte dieses typische Islandwetter: Wolken, Sonne und Regen wechselten sich im Minutentakt ab. Nichts hielt mich mehr im Zelt: also flitzte ich am Nachmittag wieder den Rauðkollur empor.





Schon während des Aufstiegs wurde mir klar, dass es sich hierbei nicht mehr um Regen handelte: wenn man Niederschläge so gut sehen kann, dann hat man es mit Schnee oder zumindest mit Hagel zu tun. Die Temperaturen nahmen mit jedem zurückgelegten Meter ab, und als die nächste Wolke die Sonne verdunkelte, packte ich den Kamerarucksack vorsichtshalber in einen schwarzen Müllsack.





Der folgende Regenschauer dauerte länger als gedacht: eine halbe Stunde lang saß ich in einem wirbelnden Allerlei aus Regen, Schnee und Hagelkörnern. In den Windschatten des Gipfel-Steinhaufens gekauert, wartete ich auf das Ende des dann doch ziemlich überraschenden Schneesturm, der von jetzt auf gleich die Sicht auf unter fünf Meter reduzierte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab es eine kleine Wolkenlücke, in der mir mein Lieblingsbild des Tages gelang: bevor der zweite Teil dieser Wolke den Gipfel wieder in Beschlag nahm.

Nach einem weiteren, ordentlichen Schnee-Hagel-Beschuss gab mir die Wolke eine Atempause, die allerdings zeitlich ganz klar begrenzt war: in wenigen Minuten würde der nächste Brummer kommen, der sich unheilsvoll-grau von Norden aus näherte. Ich genoss die Aussicht dieser verrückt gepuderten Welt und war beinahe traurig, erst so spät auf den Gipfel gekommen zu sein, denn bald würde die Sonne untergehen. Das warme Licht zauberte tolle Farben und Kontraste in diese abstrakt anmutende Bergwelt. Und schon wieder wollte ich die Zeit anhalten und partout nicht von diesem Berg herunter. Egal was komme: morgen früh musste ich wieder hier hinauf!!!

















Ich schlief nicht viel in dieser Nacht und wachte vor dem Wecker auf, gespannt wie ein Kind am Weihnachtstag. Beim Blick aus dem Zelt erkannte ich trotz Dunkelheit, dass sich der Schneehagel des Vorabends gehalten hatte. Die Bergflanken waren noch gepudert - zumindest soweit ich es erkennen konnte. Etwa 50 Meter über mir lag eine ziemlich durchgängige Nebelschicht und verschluckte die Bergspitzen der Umgebung. Ob sich der Aufstieg auf den Rauðkollur noch einmal lohnen würde? Trotz ungewissen Ausgangs machte ich mich tatsächlich noch einmal auf den Weg: und war begeistert, als ich begriff, dass ich über die Wolken steigen können würde. Denn 500 Meter höher offenbarte sich mir dann folgender Anblick:














Zum sechsten Mal in sieben Tagen stand ich nun auf diesem Berg, und jedes Mal hatte er sich mir anders präsentiert. Heute war plötzlich Winter: eine hauchdünne Schicht aus Schnee, Hagel und Raureif überzog die Bergrücken. Wie ein Meer lag der Nebel unter mir, floss über das dunkle Land hinweg und verzauberte es in eine mystische Märchenlandschaft. In Momenten wie diesen verstehe ich, wo die Geschichten über Elfen und Trolle ihren Ursprung haben...


Als wäre dem nicht genug, ging allmählich die Sonne auf und tauchte erst den Himmel und dann die Gletscher und Wolken in warme Farben. Ich war sprachlos - wieder einmal.
Und wollte die Zeit anhalten - wieder erfolglos.




Wie kann ein und derselbe Ort nur so unterschiedlich sein? Die Vielseitigkeit von Natur und Wetter lässt mich immer wieder staunen - und ist der einzige Ausschlaggeber für meine ungewöhnliche Reisephilosophie. So oft habe ich schon Unverständnis und Kopfschütteln geerntet von anderen Reisenden, die partout nicht begreifen können, warum ich meine wertvolle Urlaubszeit nur an einem einzigen Ort verbringe, ohne Auto, ohne durchgetakteten Plan, ohne eine To-do-Liste.

Aber diese Menschen haben wohl niemals erlebt, wie schön es ist, eine Landschaft richtig kennen zu lernen. Wie wertvoll es sein kann, genug Zeit zu haben, um auf das Wetter zu reagieren und das eigene Bauchgefühl hören zu können. Wenn ich wandern will, dann wandere ich meine 3-20 Kilometer pro Tag. Wenn ich lesen will, dann lese ich meine 50-700 Seiten pro Tag. Und wenn ich weiterziehen will, ziehe ich halt weiter - aber nicht, weil es so vorgeplant ist, sondern weil es sich richtig und gut anfühlt.

Ja, ich habe gerade eine Woche lang am gleichen Ort verbracht, ja, ich habe "nur" einen Radius von etwa sieben Kilometern um mein Zelt herum erkunden können. Ja, ich bin täglich denselben Berg hinaufgekraxelt - immer denselben Berg.
Und nein, es war nie gleich.
Und definitiv nie langweilig!





Mit jeder verstrichenen Minute stieg die Sonne höher, wurde die Welt heller und der Nebel aktiver. Er hob und senkte sich, verschluckte Bergspitzen, um sie dann bald wieder freizugeben. Es war zu schön, um wahr zu sein!

Das Bergmassiv der Kerlingarfjöll



            
Nachdem ich genug fotografiert hatte, gönnte ich mir ein kleines Frühstück und genoss die Stille hier oben. Neben meinem Herzschlag hörte ich einzig und allein das leise Rauschen des Windes und das Zwitschern einer Gruppe Schneeammern, die im ersten Sonnenschein munter zwischen den Steinen umherflogen. Noch lag das Tal im Schatten von Bergen und Wolken, noch ruhten die Schafe und Hüttengäste - nicht ahnend, was sie verpassten.







Im Gegensatz zu meinen vorherigen Besuchen hier oben fühlte ich diesmal, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Ich habe hier ja alles erlebt: komplettes Nebel-Whiteout, Regenschauer mit Regenbögen, strahlenden Sonnenschein unter azurblauem Himmel, dunkle Schlechtwetterstimmungen, sanfter Bodennebel: und nun der erste Wintereinbruch inklusive einer watte-weichen Nebeldecke. Es war nicht zu toppen - unmöglich!





Und so nahm ich nun Abschied von diesem Ausblick, von diesem Berg und seinen umliegenden Tälern. Ein paar Minuten noch wollte ich hier bleiben, dann aber stand der Abstieg und der Abbau meines Zeltes auf der Agenda. Es ging, so hatte ich in eben diesen Minuten beschlossen, nicht weiter den Wanderweg hinab, sondern zurück nach Hveravellir, wo ich vor einer Woche aus dem Bus gehüpft war. Ein oder zwei Nächte wollte ich noch etwas anderes erleben: und einem heißen Bad in einer Naturquelle war ich nach einer Woche Camping auch nicht abgeneigt.

Also dann:
Bless Rauðkollur, takk fyrir mig, Þjófadalir.

Was für eine tolle Woche.
Was für eine fantastische Naturerfahrung.
Was für ein wunderbares Leben!
 


Freitag, 23. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #2

Der zweite Morgen in Þjófadalir brachte tiefliegende Wolken und feinen Nieselregen und damit perfekte Bedingungen zum herrlich-urlaublichen Herumlümmeln in Schlafsack und Zelt. Mein alter E-reader war gefüllt mit spannendem Lesestoff, weshalb mir Regenwetter auf dieser Tour absolut gar nichts ausmachte. Nachmittags aber, als die Pausen zwischen den Regenschauern immer länger wurden, schnappte ich mir meine Kamera und erkundete die nähere Umgebung. Auf der anderen Talseite fand ich ein interessantes Motiv: "mýrarauði", die "Moor-Röte".


Solch rostrot-orangefarbene Farbtupfer sieht man in Island ziemlich häufig. Wo eisenhaltiges Wasser länger steht, in einem Sumpf etwa, bilden sich durch chemische und biologische Prozesse kleine Knötchen aus Eisenerz. Wenn sich die im Laufe der Zeit verfestigen, zu einer Art eisenhaltigem Lehm, nennt man es Raseneisenstein oder Sumpfeisen. Die Wikinger wussten von diesem Eisenerz und verhütteten es: daher gab es in Island schon zur Landnahmezeit eine zwar kleine, aber konstante Versorgung mit Eisen aus einheimischer Produktion.

Um das Erz zu schmelzen, nutzte man sogenannte "Rennfeuer", welche auf eine Temperatur von 1150 bis 1200 °C gebracht werden mussten. Das war mit Holz nicht zu bewerkstelligen: für so hohe Temperaturen braucht es Kohle. Nun findet es auf einer jungen Vulkaninsel wie Island weder Stein- noch Braunkohle: aber es gab Büsche und Bäume, die man zu Holzkohle verarbeiten konnte. Innerhalb von 200 Jahren verschwanden die Wälder, die einst 30 % der Insel bedeckten: man nutzte sie als Bauholz, dann als Feuerholz, vor allem als Rohstoff für Holzkohle. Als die größeren Bäume alle gefällt waren, zog man auf der Suche nach Holz selbst ins Hochland, um dort jeden noch so kleinen, fingerdicken Ast in Kohlenmeilern zu Holzkohle zu wandeln. Dies gilt, in Kombination mit teils extremer Überweidung von einst viel zu vielen Schafen, als Hauptursache der Entwaldung des Landes - und daraus resultierender, starker Bodenerosion, mit der die Isländer bis heute kämpfen.


Die Kjölur, dieser öde Teil des westlichen Hochlandes, ist ein Paradebeispiel für den menschengemachten Wandel. Schaut euch das obige Bild an: eine braune Wüste, in der kaum etwas wächst. In alten Schriften steht, dass man diesen alten Reitweg mit teils großen Pferdeherden überquerte und in der Lage war, die Tiere zwischendurch grasen zu lassen. Damals war also selbst die trockene Kjölur wesentlich grüner, als es heute der Fall ist.



Ein Blick über die Lava-Wüste der Kjölur hinüber zum Gletscher Langjökull: eine trockene Ebene, aus der dann plötzlich der Langjökull aufsteigt. An seinem nord-östlichen Rand liegt der 1062 Meter hohe Rauðkollur (der rechts im Bild in den Gletscher hineinragt). Diesen markanten Berg zu erklimmen, bzw. von dort oben zu fotografieren, war eines meiner Hauptanliegen: weshalb ich mich am Abend mit der Erkundung eines potentiellen Aufstiegs befasste. In den nächsten Tagen wollte ich bei Sonnenaufgang schon oben sein, und das bedeutete, dass ich dann im Dunkeln loszulaufen und zumindest den ersten Teil des Weges kennen musste. Von daher war es gar nicht schlimm, dass ich an diesem späten Nachmittag "nur" die ersten 200 der insgesamt 500 Höhenmeter erklomm (und dabei gleich zwei gute Aufstiegsmöglichkeiten fand). Weiterzugehen machte wenig Sinn, da sich die Spitze in chronisch in Wolken versteckte und es außerdem wieder Regenschauer gab. Die wirkten im Abendlicht aber herrlich fotogen!


Der nächste Morgen kam, und so machte ich mich trotz relativ dichter Bewölkun in der Gipfelregion noch in der Morgendämmeung an den Aufstieg. Meine Hoffnung, dass sich die Wolken entweder heben oder senken würden, erfüllte sich leider nicht. Als ich dann endlich auf dem Gipfel stand, sah ich von der Umgebung absolut gar nichts. Der Sonnenaufgang war dennoch ziemlich mystisch, auch, weil er einen starken Nebelbogen über den Gipfel zauberte.













Nach meiner Rückkehr und einem verspäteten Frühstück hoben sich die Wolken und zog ich los, um ein Tal names Jökulkrókur zu erkunden. Ich war ich im Jahr 2008 einmal kurz dort gewesen und erinnerte mich an einen Doppelwasserfall, den ich damals recht fotogen fand und gerne wieder besuchen wollte. Heute war zwar kein gutes Fotowetter, aber ich sah den Tag als eher als Erkundungs- und Wandertag an, nur halt mit abgespecktem Fotorucksack auf dem Buckel.


Als ich im Tal ankam, war ich ziemlich erstaunt, denn: die Wasserfälle waren nicht mehr da! Man konnte sehen, wo sie gewesen waren, ein bisschen Feuchtigkeit lief noch die Felswand herab, aber so ohne weiße Vorhänge wirkte sie gar nicht attraktiv. Ich machte dennoch ein Foto, als Beweisbild fürs Archiv, und überlegte dann kurz, wohin ich meine Wanderung wohl fortsetzen sollte.


Und als ich dann die Kamera wegpacken wollte und zur Felswand hinüber sah, war da plötzlich ein Wasserfall! Innerhalb der letzten 30 Sekunden hatte jemand das Wasser aufgedreht. Wie cool war dass denn, bitteschön? Und der Wasserfall wurde langsam aber sicher immer breiter und stärker. Das hier war kein Rinnsal, sondern ein ordentlicher Bach, und ein Wasserfall in etwa der Größe des Seljalandsfoss!

Dass Flüsse und Bäche ihren Lauf ändern, ist in einem so wilden Land wie Island gang und gäbe: dass ein Wasserfall irgendwann nicht mehr existiert, weil ein Bach woanders lang fließt, scheint deshalb auch logisch und verständlich. Aber dass ein Wasserfall an und aus geht, davon hatte ich noch nie gehört!

Ich zögerte nicht lange und gab Fersengeld. Ich wollte trockenen Fußes über den Bach und die Flutwelle sehen! Die kam zwar auch, aber viel langsamer, als gedacht. Statt einer Welle handelte es sich hier um ein ganz sachtes Ansteigen des Wasserspiegels. Innerhalb von zwei Minuten verwandelte sich das klare Rinnsal aus Grundwasser in einen rauschenden kleinen Gletscherfluss. Dabei hob sich der Wasserspiegel um einen halben Meter und wurde der Bach etwa vier Meter breit.

Ich wanderte neugierig in die Nähe des zweiten Wasserfalls, aber der blieb trocken. Also trat ich den Rückweg an, fand eine schmale Stelle, an der ich den Bach mit einem beherzten Sprung überqueren konnte, und suchte mir einen Aufstieg zur Klippe hinauf. Bis ich oben ankam, verging etwas Zeit, auch, weil ich an einem Hang-Garten aus Rauschebeeren vorbeikam und mir die Chance nicht entgehen ließ, ein paar Vitamine zu mir zu nehmen...

Oben angekommen stellte ich dann fest, dass der zweite Wasserfall jetzt auch floss - verrückt! Wo das Wasser aus welchem Grund umgelenkt worden war, ist mir weiterhin ein Rätsel. Irgendwo im Flussbett muss es einen Faktor geben, der den gesamten Bach mal eben komplett umleitet: entweder in die alten Wasserfälle hinein, oder vermutlich in den Nachbarfluss. Ich hätte dem Ganzen vielleicht auf die Spur kommen können, aber so wichtig war mir das jetzt auch nicht. Außerdem musste ich langsam zurück. Die Sonne ging schon unter: da es weiterhin stark bewölkt war, blieben die erhofften warmen Farben zwar leider aus, aber ich war dennoch bester Laune. Natur ist einfach nie langweilig!

Nach einer zu kurzen Nacht klingelte auch an diesem vierten Urlaubstag mein Wecker zu Beginn der Morgendämmerung. Und endlich, endlich: Diesmal befanden sich alle Wolken unter 30 Meter Höhe. Bodennaher Nebel - Volltreffer! Ich glaube, ich war selten so schnell aus dem Schlafsack raus, wie an diesem Morgen.


Die ersten Hänge flog ich regelrecht empor, bevor ich aus dem Fotografieren kaum heraus kam. Bodennebel erlebe ich im Norden nicht so oft. Umso außergewöhnlicher ist es daher, wenn ich mal über den Wolken stehen kann. Was für ein genialer Anblick, was für ein toller Kontrast in der sonst eher dunklen Landschaft! Man, war ich froh, dass ich die Zeit mitgebracht hatte, auf genau so tolle Wetterstimmungen zu warten. Das würde der Sonnenaufgang der Reise werden, dessen war ich mir sicher!

Und so stand ich dann am zweiten Morgen infolge auf 1062 Meter Höhe, und sah diesmal, was ich mir am Tag zuvor nicht einmal vorstellen konnte. Langsam kroch der Nebel über das Land, sachte wabernd und in filigraner Schönheit. Als dann die Sonne über den Osthorizont lugte, begann ein Alpenglühen der Sonderlative. Wow, einfach nur wow!



Mit fast so etwas wie Mitleid dachte ich an die sechs Wanderer, die noch in der Hütte schlummerten und die dieses Spektakel ebenso verpassten, wie die beiden Wildcamper, deren Zelte unten im feuchten Nebel standen. Ich war heilfroh, den Aufstieg trotz Müdigkeit auf mich genommen zu haben. Schlafen konnte ich, wenn ich zurückkam oder es das nächste Mal regnete! :-)
 
Im Laufe der kommenden Stunde hob sich der Nebel und verdunstete ganz langsam. Meine Güte, was waren das für Anblicke! Ich war im wahrsten Sinne des Wortes völlig "benebelt" von so viel Schönheit - und fotografierte mich dumm und dämlich.










Fotogenen Nebel habe ich in meinem Leben noch nicht so erleben dürfen: umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn ich mich mal über den Wolken befinde. So auch jetzt: ich wollte gar nicht mehr von diesem Gipfel herunter, und der Wunsch, irgendwann weiterzuziehen, war auch komplett verflogen. Jetzt die Zeit anzuhalten, das wär's gewesen!


*** 


Und weil es wieder so weit ist, die Geburt eines vor 2000 Jahren Gestorbenen zu feiern, wünsche ich all denjenigen, die das bewusst tun, ein frohes Weihnachtsfest - und allen anderen ein paar schöne Feiertage!


Samstag, 17. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #1

Mitte August 2016 ging ein intensiver Sommer auf Spitzbergen zu Ende. Vor mir lagen nun sechs Wochen arbeitsfreie Zeit: so nenne ich das, wenn ich teilweise Urlaub machen kann, und mich aber dann auch um die „normalen“ Unannehmlichkeiten des Lebens kümmern muss: nötige Einkäufe tätigen, Büroarbeit (u.a. Fotos bearbeiten, Emails aus drei Monaten aufarbeiten), zum Friseur gehen - eben solch leidiger Kleinkrams.

Besagte arbeitsfreie Zeit verbrachte ich diesen Herbst, wie auch schon in den letzten Jahren, wieder in meiner zweiten Heimat Island. Wenn ich Urlaub mache, dann mag ich nicht in die Fremde reisen, denn das tue ich in der Arbeit schon oft genug. Ich mag auch nicht großartig mit anderen zusammen sein, schließlich bin ich als Guide und Vortragsredner ständig von vielen Leuten umgeben. Nein, wenn ich Urlaub habe, dann will ich alleine sein, und das möglichst in nordischer Natur, in der ich mich auskenne und mich Zuhause fühle. Sich zurückziehen, im Moment leben, sich viel bewegen / wandern / fotografieren, schlichtweg: in der Natur sein ohne dabei ihr oder anderen zu Lasten zu fallen, das ist meine Idealvorstellung von Entspannung.

Und eben weil ich zum ersten Mal seit Jahren so früh aus Spitzbergen zurückgekehrt war, konnte ich seit Ewigkeiten mal wieder bei angenehmen Temperaturen im Hochland unterwegs sein. Wenn man es gewohnt ist, auf Skiwanderungen um und unter dem Gefrierpunkt zu zelten, dann kommt einem das sommerliche isländische Hochland wie die Kanaren vor! Es ist ein ungewohnter Luxus, mit nur kleiner Ausrüstung unterwegs sein: kein dicker Winterschlafsack, keine Thermounterwäsche, kein Daunen-Pulli, kein stundenlanges Schneeschmelzen. Was für ein toller Gedanke, sich beim Klogang mal nicht den A.... abzufrieren!


Ziemlich enthusiastisch stand ich am 24. August 2016 abreisebereit im Busbahnhof BSÍ in Reykjavík. Als ich mein Ticket kaufte, passierte mir ein ziemlich dämliches Missgeschick: meine Kamera fiel aus Hüfthöhe auf den Betonboden. Professionelle Kamera hin oder her: das hat sie nicht einfach so weggesteckt. Das Objektiv riss das Bajonett und einen Teil des Gehäuses heraus: das war nichts, was man mit Sekundenkleber oder Panzertape reparieren konnte.

Der Schock saß tief, und statt in einen relaxten Wanderurlaub zu starten, verbrachte ich den Tag mit Schadenserfassung. Ich hatte Glück im Unglück: das Objektiv hatte den Sturz überlebt und funktionierte einwandfrei. So konnte ich dann meine geschrottete Nikon D610 austauschen mit meiner alten Nikon D700, die als Ersatzkamera fast immer mit von der Partie ist. Meine erste digitale Spiegelreflexkamera ist zwar mittlerweile acht Jahre alt, was für ein digitales Gerät eine elendig lange Zeit darstellt, aber die Qualität der Bilder ist immer noch erstaunlich gut. Und so stand ich einen Tag später dann wieder am BSÍ und stieg diesmal erfolgreich in den Linienbus Richtung Kjölur.



Wie bei fast allen meiner Touren, so entschied ich relativ spontan, wo es hingehen würde. Die Wettervorhersage war nicht gut: Regen erst im Süden, dann im ganzen Land. Das mittlere Hochland ist bekannt für seine geringen Niederschläge: einer von vielen Gründen, weshalb ich mich für diese Gegend entschied. Ich hatte Karten für sowohl den mehrtägigen Wanderweg des „Gamli Kjalvegur“ dabei, wie auch für die Rundwanderung um die nahegelegenen Kerlingarfjöll.

Letztlich war es reines Bauchgefühl, das mich nach Hveravellir brachte. Der Ort summte wie ein Bienenschwarm: mehrere Dutzend Autos und drei Busse parkten dort, und eine Horde von Menschen wuselte durch das von hölzernen Wegen verschandelte Hochtemperaturgebiet. Ich eilte mich, meinen Wandertrailer zusammen zu bauen, wuchtete meine wasserdichte Tasche auf die Radkonstruktion, klinkte mich ein - und folgte dem gut markierten Wanderweg Richtung Südwesten.

Ein Bild nicht von dieser Wanderung, sondern einen Monat später bei Hvanngil aufgenommen.
Egal: ich wollte nur einmal den Wandertrailer zeigen, meine bandscheibenfreundliche Trage-Hilfe!
 
„Gamli Kjalvegur“, oder auch „Kjalvegur hinn forni”, also die alte Kjölur-Route, ist eine der wenigen markierten Mehrtageswanderungen Islands, auf der man in Hütten übernachten kann. Drei technisch nicht anspruchsvolle Tageswanderungen von jeweils 12-14 Kilometer führen von Hveravellir über Þjófadalir und Þverbrekknamúli nach Hvítárnes, von wo man dann theoretisch noch weiter bis zum Gullfoss wandern kann. Ich war aber auch nicht abgeneigt, eine ganze Woche an einem Ort ´zu verbringen und diesen gut kennen zu lernen. Mit all diesen Optionen im Hinterkopf und 11 Tage Essen im Gepäck wollte ich erstmal nur raus in die Natur und anschließend einfach mal schauen, was Wetter und meine Laune so hergeben würden.

Im Moment interessierte mich ohnehin erstmal etwas ganz anderes: nämlich die Frage, ob ich meinen lustigen Wandertrailer diesmal ziehen können würde, ohne mir nach nur einem Kilometer blutige Scheuerwunden an der Hüfte zu holen. Wegen schlechter Erfahrungen aus vorherigen Versuchen hatte ich den Gürtel diesmal mit mehreren Schwämmen abgepolstert. Und das half tatsächlich, denn es bildeten sich "nur" Druckstellen. Damit machte das Wandern mit Gepäck tatsächlich wieder einigermaßen Spaß! 

     
Gut gelaunt kam ich nach nur wenigen Stunden an der kleinen, gemütlichen Hütte in Þjófadalir an (oben im Bild als 'Þjófafell' markiert, so heißt der angrenzende Hügel). Die drei Hütten südlich von Hveravellir gehören dem isländischen Wanderverein FÍ, also meinem alten Arbeitgeber. Im Hochsommer wird hier ein mobiler Hüttenwart engagiert, der die fälligen Gebühren für Hütten- und Zeltübernachtung einkassiert und sich um die Anlagen kümmert. Ist kein Personal da, wird darauf vertraut, dass man sein Entgelt in den roten den Briefkasten in der Hütte schmeißt, oder nachträglich beim FÍ bezahlt. Ich bin in Gesprächen mit Wanderern immer wieder der irritierten Frage begegnet, warum man für die Nutzung eines Stücks Wildwiese und eines sehr einfachen Plumpsklos Geld zahlen soll, wenn man doch 500 Meter weiter umsonst zelten könnte. Leider verstehen manche Zeitgenossen nicht, dass es vor allem darum geht, die im Hochland oft empfindliche Vegetation zu schützen - und zu verhindern, dass jeder Wildcamper seine Notdurft samt Klopapier munter in der Landschaft verstreut.

Als ich in Þjófadalir ankam, waren keine anderen Zelte da und befanden sich nur vier Wanderer in der Hütte. Es war zwar schon Ende August, dennoch hatte ich vermutet, dass hier mehr los sei - eine sehr angenehme Überraschung! Also schlug ich frohen Mutes mein Zelt in der Nähe eines plätschernden Rinnsals auf und genoss den zunehmend bewölkten Abend in aller Stille und Einsamkeit. Dass es am nächsten Tag regnen würde, war absehbar, störte mich aber nicht. Ich wollte hier ohnehin ein paar Tage bleiben, denn ich mag diesen Ort und seine Nähe zum Gletscher Langjökull. Deswegen hatte ich extra meine Steigeisen mitgebracht: und die sollten gleich am nächsten Tag zum Einsatz kommen.

Tiefliegende Wolken und feiner Nieselregen machten Tag Nummer Zwei zu einem perfekten Gletscher-Erkundungstag. So stand ich dann nach wenigen Kilometern vor Islands zweitgrößter Eiskappe. Wie bei allen schmelzenden Gletschern gibt es im Sommer oft das Problem, dass das Schmelzwasser die von Sedimenten gefüllte Moränenlandschaft am Gletscherrand in ein schlammiges Moor verwandelt. Deswegen dauerte es eine Weile, bis ich einen Weg zum Eis gefunden hatte, bei dem ich NICHT bis zu den Knien im Matsch versank.

Das Eis des Langjökull war bis zur hoch liegenden Altschneegrenze dunkelgrau, braun und sogar rötlich vor lauter eingeschmolzenem Schmutz, und taute auf gesamter Fläche. Wie nach einem starken Regenschauer flossen überall dünne Wasserströme, die teils in Ritzen versickerten oder die vielen Schmelzwasserkanäle speisten, welche sich wie Adern übers Eis zogen. Ich kenne die Zahlen, ich weiß, dass die isländischen Gletscher jedes Jahr einen Meter (!!!) dünner werden. Das mit eigenen Augen zu sehen, am unmissverständlichen Beispiel dieser erschreckenden Mengen an Schmelzwasser, hat einen sehr bitteren Beigeschmack hinterlassen.



Während ich den Gletscher erkundete, senkten sich die Wolken immer weiter, bis ich den Hausberg von Þjófadalir, den Rauðkollur kaum noch sehen konnte. Also trat ich den Rückweg an. Als ich nach fühlbaren Ewigkeiten einen anderen Weg aus der Schlamm-Ebene gefunden hatte, tat ich eine folgenschwere Entscheidung. Ich beschloss, nicht den gleichen Weg zurückzugehen, den ich gekommen war, sondern den Berg im Uhrzeigersinn zu umrunden.
Ich hatte Karte und GPS dabei - was sollte mir da schon passieren?

Fröhlich suchte ich mir meinen Weg durch die sich immer tiefer senkenden Wolken. Ich finde Nebel total klasse! Unter anderem mag ich es, mich selber zu testen und das GPS so lange nicht zu nutzen, wie es mir möglich ist. Die Sicht lag mittlerweile bei schätzungsweise 50-100 Metern, was effektiv aber noch weniger war, da ich den Rauðkollur teilweise besteigen musste, um seinen Gipfel von Norden aus zu umgehen. Und so ging ich, und ging ich, und ging ich, viel weiter als ich vom Gefühl her hätte laufen sollen, aber immer noch ging es nicht ins Tal hinab. Verdammt, wie groß war dieser Berg denn bloß? Und so setzte ich mich schließlich hin, holte mein GPS aus der Fototasche: und stellte fest, dass ich vor der Abreise doch tatsächlich vergessen hatte, die frisch aufgeladenen Batterien aus dem Ladegerät ins GPS zu tun. Und die Ersatzbatterien lagen da, wo ich sie jetzt super brauchen konnte: im Zelt.
Klassisch.

Da ich absichtlich kein Smartphone besitze (mein alter Knochen kann telefonieren, sms-schreiben und die Batterie hält 4-6 Wochen, jawohl!), hatte ich keine andere Möglichkeit der wundersamen Richtungsweisung. Also studierte ich die Karte und überlegte noch einmal ganz genau, wo ich wohl sein mochte. Ich stand auf einem von mehreren Bergrücken, die südlich von mir in den hohen Berg Rauðkollur übergingen, also jenen Berg, auf dessen Ostseite mein Zelt stand. Der Wind kam schon die ganze Zeit beständig vom Gletscher, der lag im Westen, und das half mir prima beim Halten der Marschrichtung. Deshalb war ich mir auch einigermaßen sicher, wo ich sein musste.

Das Problem, so wurde mir schnell klar, war die Auflösung der Karte. Die war 1:100.000, und das ist zu grob, um realistische Höhenprofile zu sehen. Das Plateau, das ich gesucht hatte, gab es gar nicht: statt dessen war hier ein kleines Netz aus teils tief einschneidenden Schluchten, die ich irgendwie umgehen musste. Und das versuchte ich nun, mit weiterhin meist weniger als 100 Metern Sicht. Eine falsche Abzweigung, und ich stand vor einem sich immer tiefer einschneidenden Bach. Also Rückweg angetreten, etwas nach Norden ausgewichen, und neuer Versuch gen Osten. Irgendwann musste es doch einmal einen machbaren Abstieg ins Tal geben!

Es war kein schönes Gefühl, fast blind durch den dichten Nebel zu stapfen und zu wissen, dass bald die Nacht hereinbrechen würde. Es wurde beständig dunkler: wenn ich den Abstieg nicht bald fand, würde ich die Nacht hier ausharren müssen. Das war jetzt nicht gefährlich, sowas habe ich schon öfters gemacht (freiwillig wie unfreiwillig) - aber es war halt nicht wirklich angenehm. Habe ich die Geschichte eigentlich schon erzählt, als ich mal eine Nacht mit einem zuvor völlig Unbekannten auf einem nebligen Bergrücken ausgeharrt habe, eng aneinandergekauert, um der schlimmsten Kälte zu entgehen? Das war etwa die gleiche Jahreszeit und Landschaft, und spätestens seitdem weiß ich, wie schweinekalt eine windige Nebelnacht sein kann. Das zu wiederholen, darauf war ich nicht erpicht.

Letztlich ging es zum Glück schnell: nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, einen langsam nach Süd-Osten abfallenden Hang zu queren, und ich dabei etwa 50 Höhenmeter abstieg, kam ich endlich aus den Wolken heraus. Unter mir öffnete sich der Blick auf ein weites Tal. Oder war das eine Ebene? Erst war ich irritiert, dann aber begriff ich, dass ich mich viel weiter nördlich befand, als vermutet. Unter mir lag der Wanderweg und Jeeptrack, den ich am Tag zuvor entlang gekommen war. Der Bergrücken, auf dem ich stand, war glücklicherweise perfekt geeignet, um abzusteigen. Plötzlich waren da die Fußstapfen anderer Menschen, endlich erkannte ich „meine“ Hütte.
Heissa, war ich froh, die Nacht im Trockenen verbringen zu können!

Ein Bild, zwei Tage später aufgenommen, von der kleinen Hütte und dem 1062 Meter hohen Berg Rauðkollur.
         
Als toller Bonus war ich diese Nacht der einzige Mensch im Tal, selbst die Hütte stand leer. So nutzte ich den Vorraum, um meine plitschnasse Kleidung über Nacht dort trocknen zu lassen. Im Zelt ist das ja so gut wie unmöglich! Und so kroch ich kurze Zeit später fröhlich in mein kleines Hillebergzelt, schmiss den Kocher an - und genoss einen ruhigen Abend. Das Geräusch der leise auf die Zeltplane passelnden Regentröpfchen begleitete mich in den Schlaf. Es war ein spannender erster Tag gewesen: so konnte es gerne weitergehen. Bloß beim nächsten Mal mit vorhandenen und funktionierenden Batterien im GPS, danke! :-)

Vier Tage später ging ich die Wanderung noch einmal an: diesmal bei gutem Wetter. Da war ich dann ziemlich froh, dass ich nicht den Bächen gefolgt war und auf den Rücken geblieben bin! Im obrigen Bild stehe ich in etwa an jener Stelle, an der ich wieder aus den Wolken herauskam und begriff, dass mich dieser langgezogene Bergrücken "nach Hause" führen würde. Ziemlich genau in der Mitte im oberen Drittel, vor dem gletscherbedeckten Berg Hrútfell, liegen Hütte und Campingplatz. Schaut hier, ein Zoom-Bild, in dem man die Hütte erkennen kann:


Freitag, 2. Dezember 2016

Das Dilemma des Reisens

Ich bin ein Kind des modernen Westens: aufgewachsen in den sicheren Verhältnissen eines Sozialstaats und dem Luxus, so viel Bildung zu erfahren, wie ich es wollte. Als Nutznießer der Emanzipation und der Globalisierung steht mir die Welt offen, genau wie wohl den meisten, die diesen Blog hier lesen können. Wir gehören zu den privilegiertesten Menschen auf diesem Planeten und können es uns sogar leisten, teils mehrmals im Jahr in Urlaub zu fahren. Diese Flucht aus dem Alltag ist für viele der unverzichtbare Höhepunkt des Jahres und dient als Energiespender und Statussymbol zugleich. Dabei scheinen nicht wenige Menschen viele ihrer Prinzipien über den Haufen zu werfen, wenn es ums Reisen geht: man will eine sorgenfreie Zeit haben, sich mal was gönnen, schließlich hat man sich das verdient! Und so werden viele Ausnahmen gemacht, gerade was gedankenlosen Konsum und den vermeidbaren Verbrauch von Ressourcen angeht: mit der Folge, dass Urlaubsreisen in den meisten Fällen vor allem ego sind, aber garantiert nicht öko.

Angesichts der vielen Probleme, vor denen die ständig wachsende Menschheit steht, frage ich mich schaudernd: wie soll das denn weitergehen, diese Verherrlichung der modernen Urlaubskultur? Wie viel Ego ist erlaubt, gesund und gut? Dürfen wir um die ganze Welt reisen, uns gnadenlos verwirklichen, auf Kosten von Natur, Klima und der Zukunft der kommenden Generationen? 

Es ist noch gar nicht so lange her, da waren Flugreisen etwas ganz Besonderes: ich erinnere mich noch gut an die Aufregung meines ersten Fluges und daran, dass meine Eltern Flugzeuge bis dahin nur von unten kannten. Heute aber ist es selbstverständlich für uns geworden, einmal um die Welt zu fliegen: in den Urlaub (je exotischer, desto besser), zu Geschäftsreisen oder gar zum 'Shoppen' in die Großstädte der Welt. Und wer ein schlechtes Gewissen hat, der zahlt halt ein bisschen Ablass dafür, dass anderswo Bäume angepflanzt werden, im Glauben, dass dies alles wieder gut macht.
             
Laut dem Artikel 'The Future of Tourism' verursacht die Tourismusbranche ungefähr 5% der weltweiten Treibhausgas-Emissionen. Das Gros fällt dabei auf Flüge (40%) und Autos (32%), wobei Schiffsreisen (allen voran Kreuzfahrten) da gar nicht betrachtet wurden - die fallen nämlich auch sehr negativ zu Buche. Allerdings wird durch die bis zu 2.7-fach stärkere Klimawirkung von CO2 in großer Höhe davon ausgegangen, dass Flüge realistisch gesehen eher für 75% des gesamten Treibhauseffektes durch Tourismus verantwortlich sind. Und da immer mehr Menschen in Urlaub fliegen (der Zuwachs des weltweiten Luftverkehrs liegt bei 5% pro Jahr), wird prognostiziert, dass im Jahr 2050 bis zu 40% der weltweiten CO2-Emissionen von der Tourismusbranche verursacht werden. Wie mittlerweile fast alle Wirtschafts- und Industriezweige setzt auch die Luftfahrt viel daran, ihren Brennstoffwirkungsgrad immer weiter zu erhöhen und klimafreundlicher zu werden: aber allein durch die schiere Masse von reisenden Menschen werden die Auswirkungen von Flügen auf unser Klima auch zukünftig enorm sein.

Das alles klingt völlig wahnsinnig, wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit der Klimawandel voranschreitet. 2016 war das wärmste Jahr der menschlichen Aufzeichnungen, und ich selbst konnte gar nicht glauben, was ich alles am eigenen Leib erlebte. Momentan gibt es in der Arktis so wenig Meer-Eis und so viel offenes Wasser, wie niemals zuvor in Zeiten der Wetteraufzeichnungen. Nördlich des 80. Breitengrades war es Ende November über 20°C wärmer als normal!
Longyearbyen auf Spitzbergen, das sich bisher ob seines niederschlagsarmen Klimas als 'arktische Wüste' bezeichnete, wurde im Frühjahr von einer Lawine getroffen und jetzt im Herbst teilweise evakuiert, als ein Regensturm über die Stadt fegte, den Permafrost auflockerte und die Hänge teils abrutschen ließ. Von unten nagt das Meer mit ungewohnter Heftigkeit an der Küste des Isfjorden und verursacht starke Erosion, weswegen auch dort nun ein Haus geräumt werden musste. Und gleichzeitig wählen die Amerikaner einen hetzerischen Populisten als Präsidenten, der den Klimawandel als Erfindung der Chinesen bezeichnet.

Mitten in diesem Wahnsinn bin - ich, die ich vermehrt zu einer Person des öffentlichen Interesses werde. Ich arbeite als Guide und Lektor im Tourismus, wo ich mein Geld damit verdiene, meist gut betuchten Menschen der Generation 'Leben auf Kosten der Natur' den Urlaub ihres Lebens zu bescheren, während ich versuche, sie irgendwie für Natur- und Klimaschutz zu sensibilisieren.
Ich arbeite als Fotograf, der mittlerweile vor allem dafür bekannt ist, Klimawandel und Umweltprobleme zu verbildlichen. Und ich reise durch die deutschsprachigen Länder, wo ich Zehntausenden von Besuchern die Schönheit und die Fragilität des europäischen Nordens nahebringe, im Versuch, mit meinem Plädoyer für aktiven Klimaschutz auf offene Ohren und Herzen zu stoßen.

Das ist ja alles schön und gut, und ich bekomme auch immer wieder viel positive Resonanz für meine Bemühungen: aber ich habe ein echtes Problem damit, dass sich ein eventueller 'Erfolg' für Natur und Klima partout nicht messen lässt. Ganz klar bestimmen lassen sich statt dessen die negativen Auswirkungen meines Lebens: Tausende von Autobahn-, Schiff- und Flugkilometern treiben meinen persönlichen CO2-Fußabdruck in schwindelerregende Höhe. Ich habe mein Leben lang versucht, mein persönliches Bedürfnis aus Natur-Erfahrung und Naturschutz zu maximieren, mit Erfolg: ich erreiche so viele Leute wie nie zuvor und kann vielleicht endlich sagen, ein Aktivist für Klima und Natur zu sein. Gleichzeitig lebe ich aber so klimaschädlich, wie nie zuvor!
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie schwer es mir fällt, mein Leben irgendwie zu rechtfertigen - vor mir selber, im Namen des Natur- und Klimaschutzes, der mir so wichtig ist. Trotz viel guten Willens schaffe ich es einfach nicht, dass der Nutzen meines Wirkens den angerichteten Schaden zumindest ausgleicht. Durch meine Fotografie wollte ich andere die Schönheit der Natur zeigen und sie zum Naturschutz animieren: statt dessen inspirierte ich sie dazu, mir nachzureisen und auch so tolle Erfahrungen zu sammeln - auf Kosten der Natur, denn die braucht vor allem eines: Ruhe vor uns Menschen.

Und obwohl ich mir über die Klimaschädlichkeit von Flügen und Schiffsfahrten sehr im Klaren bin, reise ich immer wieder in meine zweite Heimat Island. Die kleine Insel mir so dermaßen ans Herz gewachsen, dass ich schlichtweg unglücklich wäre, wenn ich nicht mehr dorthin zurückkehren dürfte. Meine mehrwöchigen Auszeiten dort sind unabdingbar für mich geworden, um Kraft für den Rest des Jahres zu sammeln: Kraft, um für das zu kämpfen und einzustehen, was mir viel bedeutet.
Kraft, die es braucht, um 'bekannt' zu sein: denn das ist ein Zustand, den ich mir nicht freiwillig ausgesucht habe. Ich war und bin ein Einzelgänger, der in seiner Freizeit viel lieber alleine ist und die Aufmerksamkeit anderer scheut. Ich stelle mich der Herausforderungen des Rampenlichts allein deshalb, weil ich begriffen habe, dass ich nur so etwas bewirken kann: schließlich sind es wir Menschen, die unser Verhältnis zur Natur ändern müssen, wenn wir auch in Zukunft auf diesem Planeten leben wollen. Es scheint ein aussichtsloser Kampf zu sein, denn ich bin ja nur ein kleiner Wicht, ein Niemand, der trotzig immer wieder Wege sucht, etwas zum Positiven zu bewegen. Dabei mache ich Fehler und entwickle ich mich weiter, hangle ich mich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, mal mehr oder weniger motiviert, mal mehr oder weniger optimistisch.

Und selbstverständlich zweifle ich auch an meinen Entscheidungen, gerade und vor allem, weil sich kein Erfolg messen lässt. Ich habe in meinem Leben schon so viele einschneidende Beschlüsse getroffen, die ökonomisch für mich definitiv negativ waren und zudem oft zeitaufwendiger, als die bequemeren Alternativen. Weder besitze noch fahre ich Autos, kann weder Haus noch (Miet-)Wohnung mein Eigen nennen und habe mich aus vielerlei Gründen gegen Familie, Kinder und Haustiere entschieden. Ich habe kein festes Einkommen, folglich auch keine Rente, und versuche statt dessen, als Vegetarier und ganz bewusster Minimalist mit wenig Konsum und Besitz auszukommen. Kurzum: ich mache mir mein Leben teils ziemlich beschwerlich.

Ein Beispiel: als Naturfotograf ohne Auto unterwegs zu sein, heißt, nicht effizient arbeiten zu können. Erstens kann man nur eine kleine Fotoausrüstung dabei haben, und zweitens ist man nicht in der Lage, mal eben schnell von A nach B zu fahren, um zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort zu sein.
Oder was macht man, wenn man als Guide plötzlich 5-14 Tage keine Beschäftigung hat, sich aber nicht von den Arbeitgebern für lediglich ein paar Tage zurück nach Hause fliegen lassen will? Ich habe in den letzten Sommern Wochen in günstigen Unterkünften und auf dem Zeltplatz in Longyearbyen übernachtet, aus eigener Tasche finanziert, um die Anzahl von Flügen zu minimieren.  Ich habe in den vergangenen Jahren zeitintensive (und oft teurere) Bus-, Bahn- und Fährfahrten unternommen, um Kurzstreckenflüge zu vermeiden. Ich bin per Anhalter 2000 Kilometer durch Norwegen gereist und habe es dreimal geschafft, per Schiff von oder nach Spitzbergen zu reisen. Natürlich wäre ich auch diesen Winter gerne in die Antarktis geflogen, und selbstverständlich täte ich auch nächsten Sommer gerne wieder im Reich der Eisbären verbringen. Diese Jobangebote habe ich aber aus dem gleichen Grund abgelehnt, wie auch jene, die mich (gut bezahlt) in andere, exotische Gegenden der Welt gebracht hätten. Und warum? Weil ich diese gedankenlose Reiserei ethisch für mich nicht mehr verantworten kann. 

Klingt es verrückt, bescheuert, völlig wahnsinnig gar, dass ich solch einmalige Möglichkeiten nicht ergriffen habe? Dass ich freiwillig auf Bequemlichkeiten, positive Erfahrungen und zukunftsträchtige Jobangebote verzichtet habe?

Meiner Meinung nach hat das Wort 'Verzicht' einen viel zu negativen Anklang, denn: bewusste Entscheidungen zu treffen und gelegentlich einen Schritt zurück zu tun, kann einem persönlich sehr, sehr viel geben. Natürlich sind mir manche Entscheidungen nicht leicht gefallen: aber dadurch, dass ich mir einige Türen schließe, öffnen sich andere. Wie viele unglaubliche Erlebnisse und Fotos habe ich nicht schon machen dürfen, eben weil ich anders an viele Dinge herangehe? Mein Leben wäre so viel ärmer an Erfahrungen!
Von daher glaube ich fest daran: bewusster Verzicht kann sehr positiv sein. Der berühmte Spruch „Weniger ist mehr“ lässt sich ganz wunderbar auf fast alle Bereiche unseres Lebens übertragen: und kann eine philosophische Lösung sein auf viele Probleme in unserer hektischen Alltagswelt, in der die Menschen trotz wachsenden Wohlstands immer unglücklicher werden.

Und so möchte auch ich immer weiter an mir arbeiten: hin zu dieser Fähigkeit, mit weniger zufrieden zu sein. Ich habe noch einen weiten Weg zu gehen, das weiß ich, denn es ist ein schwieriger Spagat, so minimalistisch zu leben, wie es die Umstände ermöglichen, ohne dabei die Freude am Dasein zu verlieren. Sich alles zu verbieten wäre völlig kontraproduktiv: denn wie sollte ich ohne Motivation die Kraft finden können, diese nicht bequemen Wege zu gehen?

Auch wenn es zweifellos am klimafreundlichsten wäre, wenn ich mich selbstversorgend an einem temperierten Ort niederlassen würde, so ist das gerade keine realistische Lösung für mich. Ich bin nun bekannt als kälteliebender Querdenker mit Kamera und scharfer Zunge: jetzt muss ich diese Chance nutzen und mich der Aufgabe stellen, auf diese Art Positives zu bewegen. Ist es denn so falsch, zu hoffen, dass meine Bilder, Kommentare und Berichte anderen vielleicht auch Anstoß und Inspiration sein könnten, Probleme zu erkennen und als Folge dann einzelne Entscheidungen anders zu treffen - zu Gunsten von Natur- und Klimaschutz? Warum sollte ich denn nicht meine Kontakte, Erfahrungen und Sprachkenntnisse nutzen, im Versuch, vor Ort Dinge zu bewegen und Teil einer globalen Bewegung zu sein, welche die Welt eine bessere machen möchte!?

Jeden Tag ist ein neuer Tag, voller neuer Entscheidungen und Konsequenzen, und kann ich erneut versuchen, die Veränderung zu leben, die ich sehen und sein will. Und wer weiß: vielleicht kommt er ja irgendwann, der Zeitpunkt, an dem ich sagen kann, der Natur mehr genutzt als geschadet zu haben. Das jedenfalls wäre mein allergrößter Wunsch!