Freitag, 2. Dezember 2016

Das Dilemma des Reisens

Ich bin ein Kind des modernen Westens: aufgewachsen in den sicheren Verhältnissen eines Sozialstaats und dem Luxus, so viel Bildung zu erfahren, wie ich es wollte. Als Nutznießer der Emanzipation und der Globalisierung steht mir die Welt offen, genau wie wohl den meisten, die diesen Blog hier lesen können. Wir gehören zu den privilegiertesten Menschen auf diesem Planeten und können es uns sogar leisten, teils mehrmals im Jahr in Urlaub zu fahren. Diese Flucht aus dem Alltag ist für viele der unverzichtbare Höhepunkt des Jahres und dient als Energiespender und Statussymbol zugleich. Dabei scheinen nicht wenige Menschen viele ihrer Prinzipien über den Haufen zu werfen, wenn es ums Reisen geht: man will eine sorgenfreie Zeit haben, sich mal was gönnen, schließlich hat man sich das verdient! Und so werden viele Ausnahmen gemacht, gerade was gedankenlosen Konsum und den vermeidbaren Verbrauch von Ressourcen angeht: mit der Folge, dass Urlaubsreisen in den meisten Fällen vor allem ego sind, aber garantiert nicht öko.

Angesichts der vielen Probleme, vor denen die ständig wachsende Menschheit steht, frage ich mich schaudernd: wie soll das denn weitergehen, diese Verherrlichung der modernen Urlaubskultur? Wie viel Ego ist erlaubt, gesund und gut? Dürfen wir um die ganze Welt reisen, uns gnadenlos verwirklichen, auf Kosten von Natur, Klima und der Zukunft der kommenden Generationen? 

Es ist noch gar nicht so lange her, da waren Flugreisen etwas ganz Besonderes: ich erinnere mich noch gut an die Aufregung meines ersten Fluges und daran, dass meine Eltern Flugzeuge bis dahin nur von unten kannten. Heute aber ist es selbstverständlich für uns geworden, einmal um die Welt zu fliegen: in den Urlaub (je exotischer, desto besser), zu Geschäftsreisen oder gar zum 'Shoppen' in die Großstädte der Welt. Und wer ein schlechtes Gewissen hat, der zahlt halt ein bisschen Ablass dafür, dass anderswo Bäume angepflanzt werden, im Glauben, dass dies alles wieder gut macht.
             
Laut dem Artikel 'The Future of Tourism' verursacht die Tourismusbranche ungefähr 5% der weltweiten Treibhausgas-Emissionen. Das Gros fällt dabei auf Flüge (40%) und Autos (32%), wobei Schiffsreisen (allen voran Kreuzfahrten) da gar nicht betrachtet wurden - die fallen nämlich auch sehr negativ zu Buche. Allerdings wird durch die bis zu 2.7-fach stärkere Klimawirkung von CO2 in großer Höhe davon ausgegangen, dass Flüge realistisch gesehen eher für 75% des gesamten Treibhauseffektes durch Tourismus verantwortlich sind. Und da immer mehr Menschen in Urlaub fliegen (der Zuwachs des weltweiten Luftverkehrs liegt bei 5% pro Jahr), wird prognostiziert, dass im Jahr 2050 bis zu 40% der weltweiten CO2-Emissionen von der Tourismusbranche verursacht werden. Wie mittlerweile fast alle Wirtschafts- und Industriezweige setzt auch die Luftfahrt viel daran, ihren Brennstoffwirkungsgrad immer weiter zu erhöhen und klimafreundlicher zu werden: aber allein durch die schiere Masse von reisenden Menschen werden die Auswirkungen von Flügen auf unser Klima auch zukünftig enorm sein.

Das alles klingt völlig wahnsinnig, wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit der Klimawandel voranschreitet. 2016 war das wärmste Jahr der menschlichen Aufzeichnungen, und ich selbst konnte gar nicht glauben, was ich alles am eigenen Leib erlebte. Momentan gibt es in der Arktis so wenig Meer-Eis und so viel offenes Wasser, wie niemals zuvor in Zeiten der Wetteraufzeichnungen. Nördlich des 80. Breitengrades war es Ende November über 20°C wärmer als normal!
Longyearbyen auf Spitzbergen, das sich bisher ob seines niederschlagsarmen Klimas als 'arktische Wüste' bezeichnete, wurde im Frühjahr von einer Lawine getroffen und jetzt im Herbst teilweise evakuiert, als ein Regensturm über die Stadt fegte, den Permafrost auflockerte und die Hänge teils abrutschen ließ. Von unten nagt das Meer mit ungewohnter Heftigkeit an der Küste des Isfjorden und verursacht starke Erosion, weswegen auch dort nun ein Haus geräumt werden musste. Und gleichzeitig wählen die Amerikaner einen hetzerischen Populisten als Präsidenten, der den Klimawandel als Erfindung der Chinesen bezeichnet.

Mitten in diesem Wahnsinn bin - ich, die ich vermehrt zu einer Person des öffentlichen Interesses werde. Ich arbeite als Guide und Lektor im Tourismus, wo ich mein Geld damit verdiene, meist gut betuchten Menschen der Generation 'Leben auf Kosten der Natur' den Urlaub ihres Lebens zu bescheren, während ich versuche, sie irgendwie für Natur- und Klimaschutz zu sensibilisieren.
Ich arbeite als Fotograf, der mittlerweile vor allem dafür bekannt ist, Klimawandel und Umweltprobleme zu verbildlichen. Und ich reise durch die deutschsprachigen Länder, wo ich Zehntausenden von Besuchern die Schönheit und die Fragilität des europäischen Nordens nahebringe, im Versuch, mit meinem Plädoyer für aktiven Klimaschutz auf offene Ohren und Herzen zu stoßen.

Das ist ja alles schön und gut, und ich bekomme auch immer wieder viel positive Resonanz für meine Bemühungen: aber ich habe ein echtes Problem damit, dass sich ein eventueller 'Erfolg' für Natur und Klima partout nicht messen lässt. Ganz klar bestimmen lassen sich statt dessen die negativen Auswirkungen meines Lebens: Tausende von Autobahn-, Schiff- und Flugkilometern treiben meinen persönlichen CO2-Fußabdruck in schwindelerregende Höhe. Ich habe mein Leben lang versucht, mein persönliches Bedürfnis aus Natur-Erfahrung und Naturschutz zu maximieren, mit Erfolg: ich erreiche so viele Leute wie nie zuvor und kann vielleicht endlich sagen, ein Aktivist für Klima und Natur zu sein. Gleichzeitig lebe ich aber so klimaschädlich, wie nie zuvor!
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie schwer es mir fällt, mein Leben irgendwie zu rechtfertigen - vor mir selber, im Namen des Natur- und Klimaschutzes, der mir so wichtig ist. Trotz viel guten Willens schaffe ich es einfach nicht, dass der Nutzen meines Wirkens den angerichteten Schaden zumindest ausgleicht. Durch meine Fotografie wollte ich andere die Schönheit der Natur zeigen und sie zum Naturschutz animieren: statt dessen inspirierte ich sie dazu, mir nachzureisen und auch so tolle Erfahrungen zu sammeln - auf Kosten der Natur, denn die braucht vor allem eines: Ruhe vor uns Menschen.

Und obwohl ich mir über die Klimaschädlichkeit von Flügen und Schiffsfahrten sehr im Klaren bin, reise ich immer wieder in meine zweite Heimat Island. Die kleine Insel mir so dermaßen ans Herz gewachsen, dass ich schlichtweg unglücklich wäre, wenn ich nicht mehr dorthin zurückkehren dürfte. Meine mehrwöchigen Auszeiten dort sind unabdingbar für mich geworden, um Kraft für den Rest des Jahres zu sammeln: Kraft, um für das zu kämpfen und einzustehen, was mir viel bedeutet.
Kraft, die es braucht, um 'bekannt' zu sein: denn das ist ein Zustand, den ich mir nicht freiwillig ausgesucht habe. Ich war und bin ein Einzelgänger, der in seiner Freizeit viel lieber alleine ist und die Aufmerksamkeit anderer scheut. Ich stelle mich der Herausforderungen des Rampenlichts allein deshalb, weil ich begriffen habe, dass ich nur so etwas bewirken kann: schließlich sind es wir Menschen, die unser Verhältnis zur Natur ändern müssen, wenn wir auch in Zukunft auf diesem Planeten leben wollen. Es scheint ein aussichtsloser Kampf zu sein, denn ich bin ja nur ein kleiner Wicht, ein Niemand, der trotzig immer wieder Wege sucht, etwas zum Positiven zu bewegen. Dabei mache ich Fehler und entwickle ich mich weiter, hangle ich mich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, mal mehr oder weniger motiviert, mal mehr oder weniger optimistisch.

Und selbstverständlich zweifle ich auch an meinen Entscheidungen, gerade und vor allem, weil sich kein Erfolg messen lässt. Ich habe in meinem Leben schon so viele einschneidende Beschlüsse getroffen, die ökonomisch für mich definitiv negativ waren und zudem oft zeitaufwendiger, als die bequemeren Alternativen. Weder besitze noch fahre ich Autos, kann weder Haus noch (Miet-)Wohnung mein Eigen nennen und habe mich aus vielerlei Gründen gegen Familie, Kinder und Haustiere entschieden. Ich habe kein festes Einkommen, folglich auch keine Rente, und versuche statt dessen, als Vegetarier und ganz bewusster Minimalist mit wenig Konsum und Besitz auszukommen. Kurzum: ich mache mir mein Leben teils ziemlich beschwerlich.

Ein Beispiel: als Naturfotograf ohne Auto unterwegs zu sein, heißt, nicht effizient arbeiten zu können. Erstens kann man nur eine kleine Fotoausrüstung dabei haben, und zweitens ist man nicht in der Lage, mal eben schnell von A nach B zu fahren, um zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort zu sein.
Oder was macht man, wenn man als Guide plötzlich 5-14 Tage keine Beschäftigung hat, sich aber nicht von den Arbeitgebern für lediglich ein paar Tage zurück nach Hause fliegen lassen will? Ich habe in den letzten Sommern Wochen in günstigen Unterkünften und auf dem Zeltplatz in Longyearbyen übernachtet, aus eigener Tasche finanziert, um die Anzahl von Flügen zu minimieren.  Ich habe in den vergangenen Jahren zeitintensive (und oft teurere) Bus-, Bahn- und Fährfahrten unternommen, um Kurzstreckenflüge zu vermeiden. Ich bin per Anhalter 2000 Kilometer durch Norwegen gereist und habe es dreimal geschafft, per Schiff von oder nach Spitzbergen zu reisen. Natürlich wäre ich auch diesen Winter gerne in die Antarktis geflogen, und selbstverständlich täte ich auch nächsten Sommer gerne wieder im Reich der Eisbären verbringen. Diese Jobangebote habe ich aber aus dem gleichen Grund abgelehnt, wie auch jene, die mich (gut bezahlt) in andere, exotische Gegenden der Welt gebracht hätten. Und warum? Weil ich diese gedankenlose Reiserei ethisch für mich nicht mehr verantworten kann. 

Klingt es verrückt, bescheuert, völlig wahnsinnig gar, dass ich solch einmalige Möglichkeiten nicht ergriffen habe? Dass ich freiwillig auf Bequemlichkeiten, positive Erfahrungen und zukunftsträchtige Jobangebote verzichtet habe?

Meiner Meinung nach hat das Wort 'Verzicht' einen viel zu negativen Anklang, denn: bewusste Entscheidungen zu treffen und gelegentlich einen Schritt zurück zu tun, kann einem persönlich sehr, sehr viel geben. Natürlich sind mir manche Entscheidungen nicht leicht gefallen: aber dadurch, dass ich mir einige Türen schließe, öffnen sich andere. Wie viele unglaubliche Erlebnisse und Fotos habe ich nicht schon machen dürfen, eben weil ich anders an viele Dinge herangehe? Mein Leben wäre so viel ärmer an Erfahrungen!
Von daher glaube ich fest daran: bewusster Verzicht kann sehr positiv sein. Der berühmte Spruch „Weniger ist mehr“ lässt sich ganz wunderbar auf fast alle Bereiche unseres Lebens übertragen: und kann eine philosophische Lösung sein auf viele Probleme in unserer hektischen Alltagswelt, in der die Menschen trotz wachsenden Wohlstands immer unglücklicher werden.

Und so möchte auch ich immer weiter an mir arbeiten: hin zu dieser Fähigkeit, mit weniger zufrieden zu sein. Ich habe noch einen weiten Weg zu gehen, das weiß ich, denn es ist ein schwieriger Spagat, so minimalistisch zu leben, wie es die Umstände ermöglichen, ohne dabei die Freude am Dasein zu verlieren. Sich alles zu verbieten wäre völlig kontraproduktiv: denn wie sollte ich ohne Motivation die Kraft finden können, diese nicht bequemen Wege zu gehen?

Auch wenn es zweifellos am klimafreundlichsten wäre, wenn ich mich selbstversorgend an einem temperierten Ort niederlassen würde, so ist das gerade keine realistische Lösung für mich. Ich bin nun bekannt als kälteliebender Querdenker mit Kamera und scharfer Zunge: jetzt muss ich diese Chance nutzen und mich der Aufgabe stellen, auf diese Art Positives zu bewegen. Ist es denn so falsch, zu hoffen, dass meine Bilder, Kommentare und Berichte anderen vielleicht auch Anstoß und Inspiration sein könnten, Probleme zu erkennen und als Folge dann einzelne Entscheidungen anders zu treffen - zu Gunsten von Natur- und Klimaschutz? Warum sollte ich denn nicht meine Kontakte, Erfahrungen und Sprachkenntnisse nutzen, im Versuch, vor Ort Dinge zu bewegen und Teil einer globalen Bewegung zu sein, welche die Welt eine bessere machen möchte!?

Jeden Tag ist ein neuer Tag, voller neuer Entscheidungen und Konsequenzen, und kann ich erneut versuchen, die Veränderung zu leben, die ich sehen und sein will. Und wer weiß: vielleicht kommt er ja irgendwann, der Zeitpunkt, an dem ich sagen kann, der Natur mehr genutzt als geschadet zu haben. Das jedenfalls wäre mein allergrößter Wunsch!

2 Kommentare:

  1. Hallo Kerstin,

    das sind hehre Ziele. Und den Job aufgeben, für den du lange und hart arbeiten/lernen musstest, um ihn ausüben zu können. Ich bin gespannt, wie es weiter geht und was du daraus machst. Und ich wünsche dir viel Erfolg dabei.

    Monique

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  2. Danke für den Beitrag, du fasst meine Gefühle so klar in Worte, dass ich es nicht besser ausdrücken könnte.

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