Dienstag, 27. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #3

Tag Nummer vier in Þjófadalir war der Tag gewesen, an dem ich den wunderbaren Sonnenaufgang mit dem filigranen Bodennebel erleben durfte. Als ich zur Mittagszeit zum Zelt zurückgekehrt war, drehte der Wind und schob sich eine Wolkenfront in meine Richtung. Einen kurzen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, meine Sachen zusammenzupacken und zur nächsten Hütte zu wandern: die 13 Kilometer Wegstrecke hätte ich bestimmt noch vor der Dunkelheit und dem vermuteten Regen geschafft. Ich entschied mich trotzdem, zu bleiben, räumte aber dennoch mein Zelt leer und setzte es um. Das tat ich einerseits, weil der Wind um 90 Grad gedreht hatte, und andererseits, um das Gras zu schonen, das ich jetzt schon vier Tage lang um sein Sonnenlicht gebracht hatte.
Sollte der Regen ruhig kommen: ich hatte mehrere Tausend Seiten Lesestoff dabei und war gerade voll in Urlaubsstimmung!



Und dann regnete es: zwei Nächte und anderthalb Tage hindurch, wobei es von Stunde zu Stunde kälter wurde. Zur Mittagszeit des sechsten Tages hatte sich der schwache Dauerregen in starke, aber sehr lokale und kurze Regenschauer verwandelt. Es herrschte dieses typische Islandwetter: Wolken, Sonne und Regen wechselten sich im Minutentakt ab. Nichts hielt mich mehr im Zelt: also flitzte ich am Nachmittag wieder den Rauðkollur empor.





Schon während des Aufstiegs wurde mir klar, dass es sich hierbei nicht mehr um Regen handelte: wenn man Niederschläge so gut sehen kann, dann hat man es mit Schnee oder zumindest mit Hagel zu tun. Die Temperaturen nahmen mit jedem zurückgelegten Meter ab, und als die nächste Wolke die Sonne verdunkelte, packte ich den Kamerarucksack vorsichtshalber in einen schwarzen Müllsack.





Der folgende Regenschauer dauerte länger als gedacht: eine halbe Stunde lang saß ich in einem wirbelnden Allerlei aus Regen, Schnee und Hagelkörnern. In den Windschatten des Gipfel-Steinhaufens gekauert, wartete ich auf das Ende des dann doch ziemlich überraschenden Schneesturm, der von jetzt auf gleich die Sicht auf unter fünf Meter reduzierte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab es eine kleine Wolkenlücke, in der mir mein Lieblingsbild des Tages gelang: bevor der zweite Teil dieser Wolke den Gipfel wieder in Beschlag nahm.

Nach einem weiteren, ordentlichen Schnee-Hagel-Beschuss gab mir die Wolke eine Atempause, die allerdings zeitlich ganz klar begrenzt war: in wenigen Minuten würde der nächste Brummer kommen, der sich unheilsvoll-grau von Norden aus näherte. Ich genoss die Aussicht dieser verrückt gepuderten Welt und war beinahe traurig, erst so spät auf den Gipfel gekommen zu sein, denn bald würde die Sonne untergehen. Das warme Licht zauberte tolle Farben und Kontraste in diese abstrakt anmutende Bergwelt. Und schon wieder wollte ich die Zeit anhalten und partout nicht von diesem Berg herunter. Egal was komme: morgen früh musste ich wieder hier hinauf!!!

















Ich schlief nicht viel in dieser Nacht und wachte vor dem Wecker auf, gespannt wie ein Kind am Weihnachtstag. Beim Blick aus dem Zelt erkannte ich trotz Dunkelheit, dass sich der Schneehagel des Vorabends gehalten hatte. Die Bergflanken waren noch gepudert - zumindest soweit ich es erkennen konnte. Etwa 50 Meter über mir lag eine ziemlich durchgängige Nebelschicht und verschluckte die Bergspitzen der Umgebung. Ob sich der Aufstieg auf den Rauðkollur noch einmal lohnen würde? Trotz ungewissen Ausgangs machte ich mich tatsächlich noch einmal auf den Weg: und war begeistert, als ich begriff, dass ich über die Wolken steigen können würde. Denn 500 Meter höher offenbarte sich mir dann folgender Anblick:














Zum sechsten Mal in sieben Tagen stand ich nun auf diesem Berg, und jedes Mal hatte er sich mir anders präsentiert. Heute war plötzlich Winter: eine hauchdünne Schicht aus Schnee, Hagel und Raureif überzog die Bergrücken. Wie ein Meer lag der Nebel unter mir, floss über das dunkle Land hinweg und verzauberte es in eine mystische Märchenlandschaft. In Momenten wie diesen verstehe ich, wo die Geschichten über Elfen und Trolle ihren Ursprung haben...


Als wäre dem nicht genug, ging allmählich die Sonne auf und tauchte erst den Himmel und dann die Gletscher und Wolken in warme Farben. Ich war sprachlos - wieder einmal.
Und wollte die Zeit anhalten - wieder erfolglos.




Wie kann ein und derselbe Ort nur so unterschiedlich sein? Die Vielseitigkeit von Natur und Wetter lässt mich immer wieder staunen - und ist der einzige Ausschlaggeber für meine ungewöhnliche Reisephilosophie. So oft habe ich schon Unverständnis und Kopfschütteln geerntet von anderen Reisenden, die partout nicht begreifen können, warum ich meine wertvolle Urlaubszeit nur an einem einzigen Ort verbringe, ohne Auto, ohne durchgetakteten Plan, ohne eine To-do-Liste.

Aber diese Menschen haben wohl niemals erlebt, wie schön es ist, eine Landschaft richtig kennen zu lernen. Wie wertvoll es sein kann, genug Zeit zu haben, um auf das Wetter zu reagieren und das eigene Bauchgefühl hören zu können. Wenn ich wandern will, dann wandere ich meine 3-20 Kilometer pro Tag. Wenn ich lesen will, dann lese ich meine 50-700 Seiten pro Tag. Und wenn ich weiterziehen will, ziehe ich halt weiter - aber nicht, weil es so vorgeplant ist, sondern weil es sich richtig und gut anfühlt.

Ja, ich habe gerade eine Woche lang am gleichen Ort verbracht, ja, ich habe "nur" einen Radius von etwa sieben Kilometern um mein Zelt herum erkunden können. Ja, ich bin täglich denselben Berg hinaufgekraxelt - immer denselben Berg.
Und nein, es war nie gleich.
Und definitiv nie langweilig!





Mit jeder verstrichenen Minute stieg die Sonne höher, wurde die Welt heller und der Nebel aktiver. Er hob und senkte sich, verschluckte Bergspitzen, um sie dann bald wieder freizugeben. Es war zu schön, um wahr zu sein!

Das Bergmassiv der Kerlingarfjöll



            
Nachdem ich genug fotografiert hatte, gönnte ich mir ein kleines Frühstück und genoss die Stille hier oben. Neben meinem Herzschlag hörte ich einzig und allein das leise Rauschen des Windes und das Zwitschern einer Gruppe Schneeammern, die im ersten Sonnenschein munter zwischen den Steinen umherflogen. Noch lag das Tal im Schatten von Bergen und Wolken, noch ruhten die Schafe und Hüttengäste - nicht ahnend, was sie verpassten.







Im Gegensatz zu meinen vorherigen Besuchen hier oben fühlte ich diesmal, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Ich habe hier ja alles erlebt: komplettes Nebel-Whiteout, Regenschauer mit Regenbögen, strahlenden Sonnenschein unter azurblauem Himmel, dunkle Schlechtwetterstimmungen, sanfter Bodennebel: und nun der erste Wintereinbruch inklusive einer watte-weichen Nebeldecke. Es war nicht zu toppen - unmöglich!





Und so nahm ich nun Abschied von diesem Ausblick, von diesem Berg und seinen umliegenden Tälern. Ein paar Minuten noch wollte ich hier bleiben, dann aber stand der Abstieg und der Abbau meines Zeltes auf der Agenda. Es ging, so hatte ich in eben diesen Minuten beschlossen, nicht weiter den Wanderweg hinab, sondern zurück nach Hveravellir, wo ich vor einer Woche aus dem Bus gehüpft war. Ein oder zwei Nächte wollte ich noch etwas anderes erleben: und einem heißen Bad in einer Naturquelle war ich nach einer Woche Camping auch nicht abgeneigt.

Also dann:
Bless Rauðkollur, takk fyrir mig, Þjófadalir.

Was für eine tolle Woche.
Was für eine fantastische Naturerfahrung.
Was für ein wunderbares Leben!
 


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