Auch am dritten Tag hielt sich das gute Wetter und zogen wir früh auf den Gletscher hinauf. Wir waren alle voller Tatendrang und wollten eigentlich nur eines: weg vom "langweiligen" glatten Eis und hinein in die Gegenden, die von Gletscherspalten durchzogen waren.
Vorher aber hieß es, die Grundzüge der Gletscherspaltenrettung zu üben: dabei insbesondere das Errichten von Flaschenzügen. Meine Gruppe war nicht nur äußerst hilfsbereit und nahm mir einen Großteil meines Gepäcks ab, um meinen Rücken zu entlasten, es waren auch alle schnell von Begriff und lernten schnell. So zogen wir ziemlich bald hinauf ins "Blaue Eis", um dort erst das Erlernte in die Tat umzusetzen, und dann das Durchqueren von schwierigem Terrain zu üben.
Diesen Rhythmus behielten wir in den folgenden fünf Tagen weitestgehend bei. Praktisch orientierte Theorie und Praxis wechselten sich ab, und am Ende des siebten Tages auf dem Gletscher wussten wir alle im Schlaf, wie man verschiedene Flaschenzugsysteme baut, Seilschaften sichert, sich abseilt und Spalten aus eigener Kraft hinaufklettert oder abgestürzte Personen von dort abholt. Um geeignete Übungsorte zu finden, wanderten wir immer wieder in unbekanntes Terrain hinein, nutzten dabei unterschiedliche Steigeisentechniken und moderates Eisklettern - alles Dinge, die ich mir nur eine Woche zuvor nicht mal im Traum zugetraut hätte.
Wir setzten in der Seilschaft Eisschrauben, um Hindernisse zu überwinden, passierten Gletscherspalten über wenig vertrauenserweckende Altschneebrücken (Aaaaaargh! Warum müssen Jungs immer das absolute Risiko suchen?) und sahen eine Menge "blaues Eis”. Kurzum: es waren sehr kurzweilige und dank des durchgehend guten Wetters fantastische Tage auf dem Nordenskiöldbreen!
Die Abende gehörten entweder weiterer Theorie ums Lagerfeuer, oder aber (und das war meistens der Fall) nur uns, dem Abendessen und ein wenig Freizeit. Ich war definitiv am wenigsten sozial von allen: ich kann bei aller Liebe nicht still am Lagerfeuer sitzen und irgendwelchen (wiederholbaren) Lebensgeschichten zuhören, wenn um mich herum die Berge in tollstes Licht getaucht werden - dafür bin ich einfach zu sehr Fotograf!
Am 24. August ging hier oben auf 78°Nord die Mittsommernacht zuende: die Sonne ging tatsächlich für ein paar Minuten komplett unter. Ich kann das bestätigen, denn genau zu dem Zeitpunkt hatte ich Eisbärenwacht. Seitdem ist es rapide dunkler geworden: momentan wird jeder Tag im Schnitt 45 Minuten kürzer. Das ist eine schier absurdes Tempo!
Während meiner Eisbächenwachtschichten erspähte ich (wie alle anderen) immer eine Menge Eisbären, die sich allerdings allesamt als Altschneefelder oder Eisschollen entpuppten. Ein echter Eisbär ließ sich in den gesamten neun Tagen ebenso wenig blicken, wie Walrösser oder Wale - nun, man kann nicht alles auf einmal haben! Dafür kalbte der Gletscher rund um die Uhr mit irrsinnigem Krach, und füllte den Fjord mit kleinen Eisschollen.
Der vorletzte Abend im Billefjord blieb mir ganz besonders in Erinnerung. Der Wind drehte und nahm zu, der Wetterumschwung hatte sich schon durch eine herannahende Wolkenfront angekündigt. Genau zu Sonnenuntergang brach die untergehende Sonne noch einmal durch - genau gleichzeitig mit dem Einsetzen von ganz sachtem Nieselregen. Die Berge auf der anderen Seite explodierten regelrecht in Farben - und ich blieb bis zur Eisbärenwache einfach wach. Bei dem Anblick konnte ich mich trotz aller Müdigkeit kein Auge zutun! Und so verabschiedete sich der Billefjord von seiner fotogensten Seite - und machte mich mehr als neugierig auf das, was da in den kommenden Monaten noch an Erlebnissen auf mich zukommen wird!