Sonntag, 11. Februar 2018

Die Drachen der Antarktis

Grytviken liegt in der kleinen Bucht King Edward Cove, welche sich wiederum in einem Seitenarm von Cumberland Bay befindet, dem größten Fjord der Insel. Umringt und geschützt von hohen Bergen ist dieser Ort der beste Hafen für Schiffe, denn hier ist die See am ruhigsten, das Wetter am besten und die Winde oft am wenigsten stark. Was super für uns Menschen ist, muss nicht unbedingt ideal sein für die vielen Tiere, die einen direkten Zugang zum offenen Meer vorziehen und sich lieber an der Außenseite der Insel aufhalten. Die großen Tierkolonien befinden sich deshalb außerhalb meiner direkten Reichweite: mir bleibt 'nur' der im Vergleich zum Rest Südgeorgiens spärlich bevölkerte Strand im Inneren von King Edward Cove. An Tierleben gibt es hier die Harems von See-Elefanten und Antarktischen Seebären (Pelzrobben), vereinzelte, sich meist in der Mauser befindende Pinguine (Königspinguine und Eselspinguine) sowie einzelne Paare / Individuen unterschiedlichster Vögel: Antarktische Küstenseeschwalbe, Dominikanermöwe, Spitzschwanzente, Riesenpieper, Skua und Rußalbatross wären da zu nennen. Eine Vogelart aber hat vom ersten Tag an mein besonderes Interesse geweckt: der Riesensturmvogel, auf Englisch 'Giant Petrel'. Wir hier auf der Insel nennen ihn aber schlichtweg GP ('Dschii-pii') oder 'Geep' (Dschiip, wie 'Jeep').


Riesensturmvögel sind entfernt mit den Albatrossen verwandt: es sind Röhrennasen, deren eigentümlicher Schnabel so aussieht, als sei er aus mehreren Hornstücken zusammengepuzzelt. Obendrauf sitzen die Nasenlöcher als eine Doppelröhre auf, die dazu dient, das Salz aus dem beim Trinken aufgenommenen Meerwasser auszuscheiden. Diese Entsalzungsanlage (die alle Röhrennasen haben, also auch die Albatrosse) ermöglicht es ihnen, ihr Leben komplett auf See zu verbringen, also wirklich gänzlich unabhängig von Süßwasser. An Land kommen sie daher eigentlich nur, um zu brüten - ansonsten trifft man sie auf dem offenen Meer an, dem stürmischen Südpolarmeer, wo sie steif aber elegant mit sehr wenig Flügelschlägen über den Wellen segeln.


Wie auch die Albatrosse und Eissturmvögel, so können Riesensturmvögel ziemlich alt werden: wie alt genau, wissen wir nicht, aber 50 Jahre schaffen sie locker.

Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei den Riesensturmvögeln um ziemlich große Tiere. Eissturmvögel, ihre europäischen Verwandten, wirken wie Zwerge im Angesicht dieser größten aller Sturmvögel: sie weisen eine Körperlänge von teils über 90 cm auf und eine Flügelspannweite von über zwei Metern. Allein der Schnabel kann 12 cm lang sein und ihre mit Schwimmhäuten bestückten Füße haben locker die Größe einer menschlichen Hand. Ihr Federkleid ist meist braun bis gräulich gescheckt, aber es gibt auch seltene weiße Exemplare, die wir hier 'Spirit Petrels' nennen, Geistersturmvögel.


Der politischen Korrektheit halber sollte erwähnt werden, dass es zwei Arten von Riesensturmvögeln gibt, die Nördlichen und Südlichen Riesensturmvögel. Wir Deutschen machen es komplizierter als es sein muss, denn als Riesensturmvogel bezeichnet die Fachwelt den südlichen GP, und der nördliche heißt offiziell 'Hallsturmvogel'. Wenn ich von Riesensturmvögeln spreche, dann meine ich beide, denn sie sind sich extrem ähnlich und kommen hier in Südgeorgien auch beide vor. Äußerlich unterscheiden sich die beiden Arten nur auf den zweiten Blick. Am verlässlichsten erkennen kann man sie an der Farbe ihrer Schnabelspitze: die ist nämlich dunkler / rötlich (bei den nördlichen) bzw. heller / grünlich (bei den südlichen). Meine Eselsbrücke ist eine Ampel: rot für den Norden (oben), grün für den Süden (unten) ...

Links: nördlicher GP mit roter Schnabelspitze und (oft) hellen Augen
Rechts: südlicher GP mit grünlicher Schnabelspitze und (oft) dunklen Augen






 
Auf hoher See ernähren sie sich die GPs von allem, was auf bzw. dicht unter der Wasseroberfläche treibt: Krill, Tintenfisch, Abfälle der Fischerei und sonstiges Totes. Wenn aber im Sommer die Robben ihre Jungen bekommen, macht es für sie viel mehr Sinn, die Strände zu patrouillieren. Dabei sind sie nicht nur reine Aasfresser, sondern ziemlich skrupellose Jäger, die ganz gezielt einzelne Tiere anvisieren und töten.

An dieser Stelle eine kleine aber ernst gemeinte Warnung: dieser Blogbeitrag ist ab sofort gespickt mit nichtvegetarischen Bildern und wenig angenehmen Beschreibungen. Ich will diese Tiere keinesfalls als 'böse' oder abstoßend darstellen, ganz im Gegenteil, aber: es sind Jäger und sie ernähren sich von uns sympathischen Lebewesen. Genau wie bei Löwen, so gibt es diese blutige, raubtierhafte Seite an ihnen - die ich euch, absichtlich, zeigen bzw. nicht vorenthalten will!





Es gibt in der Antarktis keine Landraubtiere und auch keine Greifvögel. Damit fehlt die 'Gesundheitspolizei', also jene Instanz, welche die Schwachen und Kranken aussortiert und die Kolonien von Kadavern befreit. Genau diese Aufgabe haben hier die Skuas (Raubmöwen) und eben jene Riesensturmvögel übernommen. Was für manche Menschen brutal erscheinen mag, ist der Lauf des Lebens hier in Südgeorgien beziehungsweise ganz generell in der Natur. Außerdem haben die Riesensturmvögel ihrerseits auch Jungtiere, die im Laufe eines Sommers von Wachtelgröße auf Schwanengröße herangefüttert werden wollen. Es sind ziemlich lustige Wesen, diese Riesenküken: hühner- bis truthahngroße Wattebälle mit einem überdimensionalen Schnabel.


Laut Internet sind es 'nur' die größten, stärksten Männchen, welche aktiv Tiere töten: die jüngeren und kleineren GPs sind immer auf der Suche nach Aas. Wenn ich mich irgendwo hinlege, um etwa Tiere aus deren Augenhöhe heraus zu fotografieren, dann dauert es nicht lange, bis ein Riesensturmvogel zu Besuch kommt. Wenig elegant watschelt er dann herbei und lässt sich im Umkreis von zwei Metern nieder, um mich mehrere Minuten lang zu beobachten: es könnte ja sein, dass ich schon tot bin, schließlich habe ich mich ganze zwei Minuten nicht mehr bewegt...


Die mit Abstand meisten GPs sind Aasfresser bzw. suchen sich auf dem Ozean ihre Nahrung. Einige Individuen aber, vermutlich die erfahrenen, alten Tiere, können ziemlich skrupellose Jäger sein. Ihre Jagdstrategie ist dreist und einfach: sie gehen zu ihrer potentiellen Nahrungsquelle und versuchen, ihr die Augen auszuhacken, was vermutlich zum ziemlich sofortigen Tod führt ('vermutlich', weil ich's noch nie beobachtet habe).


Wenn die Taktik des "Ich hacke dir mal eben schnell die Augen aus" nicht klappt, sie aber jemanden gefunden haben, der sich nicht genügend wehrt, dann versuchen es die Vögel manchmal mit reiner Kraft. Sie verbeißen sich in Federkleid oder Fell fest und reißen so lange, bis sie Zugang zu Fett und Fleisch haben. Kurzum: sie hacken Löcher in andere Tiere hinein und beginnen mit dem Ausweiden, wenn es noch lebt.

Ein GP mit einem knapp 10 Tage alten Seebärenjungen,
das sich zu weit aus dem Schutz des Harems fortbewegt hat

Der Kampf zwischen Jäger und Gejagten kann Stunden dauern: dem beizuwohnen, ist harter Tobak... Ist ihr Gegenspieler dann endlich tot, sind die Riesensturmvögel erstaunlich effizient darin, den Kadaver zu leeren und einmal komplett umzukrempeln. Dass Tiere ohne Krallen bzw. Hände mit 'nur' einem Schnabel so etwas zu Stande bringen können, ist absolut erstaunlich!

Dieser Kadaver war verlassen, als ich ihn fand und mich mindestens eine halbe Stunde lang neben ihn kauerte, bis zuerst zwei Skuas vorbeischauten - und dann dieser relative junge, südliche Riesensturmvogel. Nachdem er mich kurz beobachtet hatte, begann er mit dem Fressen und ließ sich davon weder unterbrechen noch abbringen, als ich, irgendwann, langsam rückwärts von dannen robbte... Was für ein Erlebnis!
  
Auf diese Art und Weise sind sie in der Lage, See-Elefantenbabys und selbst erwachsene Königspinguine zu töten, also Tiere, die mindestens doppelt so groß und um ein Vielfaches schwerer sind, als sie selbst - und das ohne Krallen, sondern lediglich mit einem spitzen, kräftigen Schnabel und einer Menge Dreistigkeit und Kraft ausgestattet. Hartnäckig und ausdauernd sind sie auch: haben sie einmal mit dem Angriff begonnen, dann sind sie davon kaum mehr abzubringen. Nie zuvor ist mir ein Vogel begegnet, der so echsenhaft vom Charakter ist, so unglaublig 'anders' und urig. Die GPs sind für mich der klare Beweis, dass Vögel von Dinosauriern abstammen!


Am faszinierensten aber ist es, Riesensturmvögel an einem Kadaver zu beobachten. Gibt es nämlich irgendwo ein totes Tier, dann wissen relativ bald alle GPs der Umgebung davon, und dann beginnt der Streit ums Fressen. Jetzt zeigen sie, wie komplett anders vom Verhalten sie sind als alle mir bekannten Vögel. Um sich gegenseitig einzuschüchtern, breiten sie die Flügel aus und spreizen die Federn an Hals und Rücken: sie wollen so groß wirken, wie möglich.

 

Die ganz dominanten Tiere werfen ihren Kopf von links nach rechts, während sie einen krächzenden Ruf ausstoßen, der wie eine Mischung aus Pferdewiehern und Katzengejammer klingt und perfekt zu ihnen passt: ja, so könnten Dinosaurier klingen! Zu guter Letzt klappen die Streithähne dann noch ihren Schwanz nach oben und stolzieren herum, wie entfernte Verwandte des Auerhahns - es ist absurd-faszinierend!


Wenn das ganze Geprolle und Gehabe nicht hilft und der Konkurrent immer noch ans Fressen heran will, dann wird gekämpft. Die beiden Streithähne laufen aufeinander zu und verbeißen sich ineinander, während sie wild wiehernd und hoch aufgerichtet zeigen, wer der Stärkere ist. Spätestens bei dem Anblick besteht absolut kein Zweifel mehr: Velociraptoren haben überlebt! Sie sind nur kleiner geworden, haben ein Federkleid bekommen und ihre Krallen durch Schwimmhäute eingetauscht.


Ein kleiner Einwurf komplett am Thema vorbei, aber zu interessant um es nicht zu erwähnen: Velociraptoren, diese bekannten Raubsaurier mit den scharfen Krallen, welche in den 'Jurassic Park'-Filmen als 2 Meter große, 80 kg schwere Killer dargestellt werden, waren in Wirklichkeit nur so groß und schwer, wie ein Truthahn! Damit waren sie aber immer noch um einiges höher und schwerer als die Riesensturmvögel... :-)


Viel zu selten geschieht es, dass man Zeuge einer solchen 'Geepparty' wird, wie wir so ein Fressgelage nennen. Nur dann agieren die Vögel miteinander, nur dann zeigen sie dieses faszinierende Spektrum an Verhaltensweisen. Normalerweise sind es nämlich scheue, zurückhaltende Einzelgänger, die irgendwo am Strand sitzen und schlafen bzw. die Umgebung beobachten - still und unscheinbar, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ich hoffe, dass ich in den verbleibenden (nur noch 6!) Wochen noch ein oder zweimal die Chance bekomme, sie in Aktion zu sehen: denn sie haben mich komplett in ihren Bann gezogen, diese gefiederten Echsen - diese Drachen der Antarktis!