Sonntag, 15. April 2012

Per Ski zur Ostküste

Im Rahmen meines Arctic Nature Guide Studiums unternehmen wir, begleitet von ein bis zwei Lehrern, einige längere Ausflüge. Im August hatten wir einen neuntägigen Gletscherkurs, im Oktober wanderten wir fünf Tage lang umher, im Februar hatten wir ein Basislanger im Schnee, und nun stand Ende März unsere "winter ski excursion" auf dem Programm. Das Ziel: auf schneebedeckten Gletschern unterwegs zu sein, Seeeis kennenzulernen, und schlichtweg mit den Camproutinen im Hochwinter auf Svalbard vertraut zu werden.

Da Seeeis dieses Jahr absolute Mangelware darstellt, mussten wir unseren Aktionsradius ziemlich ausdehnen: Sicheres Meereis fand sich nur an der Ostküste Spitzbergens, die etwa 100km von hier entfernt ist. Also beschloss unser Studienleiter dass wir nicht von Longyearbyen aus starten würden: er organisierte uns einen Transport, was für eine 25köpfige Gruppe mit Pulkas keine einfache Aufgabe war. Pulkas sind übrigens wannenförmige Schlitten, auf denen man sein gesamtes Gepäck hinter sich über den Schnee zieht.

In zwei türkisgrünen Raupenfahrzeugen ruckelten wir also am 21. März mit etwa 20km/h über vereiste Flussbetten, bis wir 3 Stunden und 60 Kilometer später unsere Skiwanderung beginnen konnten. Wir, das waren wir 17 ANG-Studenten, zwei Lehrer sowie fünf Gäste (Friluftsliv-Studenten aus Volda, Norwegen). Insgesamt waren wir also 24 Personen sowie Djenoun, unser ANG-Hund. Zum Glück wanderten wir nicht alle zusammen sondern teilten uns in vier kleinere Gruppen auf.

Das Wetter war drei Tage vor Beginn unserer Wanderung umgeschlagen: statt dem üblichen Nieselschnee, Sturm oder Dauerbewölkung schien immer irgendwo die Sonne. Einen traumhafteren Start hätten wir uns gar nicht vorstellen können!

Nach einer ersten Nacht mitten auf einem Gletscher überquerten wir einen 600m hohen, vergletscherten Bergpass und erreichten schon am zweiten Abend die Ostküste Spitzbergens. Wolken legten sich über das Land, ließen am Horizont aber noch irgendwo das Licht der untergehenden Sonne durchdringen, was für ein paar Minuten lang faszinierende, sanfte Farben in die ansonsten grau-dämmrige Winterlandschaft brachte.


Die Zelte, 14 an der Zahl, hatten wir nebeneinander in Windrichtung aufgestellt, um im Falle eines Sturmes Windverwehungen auf unsere Nachbarzelte zu minimieren. Wir befanden uns in etwa 100m Höhe auf einem dick verschneiten Gletscher über der weiten Bucht Mohnbukta, welche weitestgehend zugefroren war. Da das Eis sicher genug schien, um es zu überqueren, bestimmte unser Studienleiter Sigmund, dass wir hier für zwei Nächte bleiben und eine Tageswanderung auf dem Eis unternehmen würden.

Gesagt, getan: am dritten Tage ging es also im leichten Schneegestöber nur mit Tagesrucksack auf Skiern zur Mohnbukta. Das Eis war so dick, dass wir mit unserem mitgebrachten Eisbohrer gar nicht durchkamen: also machten wir uns auf, die Gletscherfront zu erkunden. Im weißen, kontrastlosten Licht leuchtete das Eis in wunderschönen Blau- und Türkistönen.


Den ganzen Tag verbrachten wir auf dem Seeeis, kreuzten den kurzen Fjord einmal und wanderten in einem größerem Bogen wieder zur anderen Seite zurück. Dabei hatten wir unsere Augen auch immer erwartungsvoll auf den Horizont gerichtet: hier, genau hier, gab es große Chancen, auf Eisbären zu treffen! Keiner von uns hatte bisher einen gesehen, dementsprechend groß waren nun unsere Hoffnungen. Als wir am frühen Abend zum Camp zurückkehrten war allerdings klar: wir würden noch etwas auf unsere erste Sichtung des "Königs der Arktis" warten müssen. Immerhin hatten wir seine Spuren gesehen: beeindruckend große Abdrücke massiger, mit langen Krallen bewehrten Tatzen!


Der nächste Morgen empfing uns mit Nebel, der sich im Laufe der kommenden Stunden jedoch komplett verflüchtigte! Im Schein der nur von dünnen Cirruswolken verschleierten Sonne wanderten wir einen beeindruckend großen Gletscher hinauf der von vielen kleineren Gletschern aus benachbarten Tälern gespeist wurde.


Was mir diesen Tag aber besonders in Erinnerung bleiben sollte waren Haloerscheinungen: zwei Nebensonnen, ein Zirkumzenitalbogen, ein oberer Berührungsbogen und eine Lichtsäule verzierten den Himmel - es war wunderbar! Wieder einmal erstaunte es mich wie wenig andere Menschen den Himmel beobachten: meine Gruppe bemerkte die Halos erst, als ich sie darauf hinwies, und keiner von ihnen wusste, dass es Lichteffekte sind die (je nach Art) in unterschiedlich geformten Eiskristallen in unterschiedlichen Höhenlagen entstehen.
Nachdem ich meine Mitwanderer aufgeklärt hatte (und damit unterschiedlich viel bzw. wenig Enthusiasmus hervorrief) genossen wir alle schweigend den Moment als eine andere Gruppe uns in einiger Entfernung genau unterhalb der Sonne passierte.

Hier sieht man folgende Halos: zwei starke Nebensonnen, eine Lichtsäule (die vertikale "Verlängerung" der Sonne) sowie die Andeutung eines Horizontalkreises (der horizontale Lichtstreifen, der Sonne und Nebensonnen schneidet).


Unsere Campingplätze wurden von Nacht zu Nacht besser: das lag einerseits an der Landschaft, die immer spektakulärer wurde, andererseits am Wetter, das schlichtweg unglaublich war, und nicht zuletzt auch daran, dass wir beim Aufbau immer schneller und besser wurden. Die Toiletten wurden von Abend zu Abend besser, wind- und blickdichter, und auch alle anderen Routinearbeiten wie Zeltaufbau und Camporganisation wurden immer besser.


Schließlich wussten wir genau, wo und in welchem Abstand unsere Zelt stehen mussten, damit wir die beiden Eisbären-Stolperfallen-Systeme gut aufbauen konnten. Allerdings vertraute keiner von uns dem Stolperdraht: alle zwei Nächte musste jeder von uns raus, um mit geschulterter Waffe eineinhalb Stunden lang Wache zu stehen und die Umgebung nach Eisbären abzusuchen. Nachts wurde es Ende März übrigens nicht mehr richtig dunkel: die hellsten Sterne konnte man noch gut sehen, allen voran Venus und Jupiter, die sich (von der Erde aus gesehen) in Mondnähe aufhielten. Dennoch blieb der Horizont hell: es war wirklich beeindruckend mit welcher Geschwindigkeit die Polarnacht in den Polartag umschlug!


Der folgende Tag, Wandertag Nummer fünf, stellte für viele meiner Komilitonen den Höhepunkt der Reise dar, aus dem einfachen Grund weil es genau das war: wir überquerten den Jøkulpasset, einen 800m hohen Bergpass. Da hochzukommen war eine Menge Arbeit, wurde aber belohnt von der fantastischen Aussicht, die wir während unserer sehr verlängerten Mittagspause genießen durften!


Am Abend, als wir unser Zeltlager einmal mehr (und wieder besser!) aufgeschlagen hatten bereiteten wir uns auf unsere kälteste Nacht vor. Das Wetter war schlichtweg fantastisch: keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen, und dementsprechend kalt wurde es. Das folgende Bild mag es nicht vermuten lassen: als wir bei Sonnenuntergang alle in unseren Zelten und warmen Schlafsäcken verschwanden, waren es bereits -22°C, Tendenz fallend.


In der Nacht erreichte das Thermometer die -30°C, und es war auch die erste Nacht, in der ich mittendrin fröstelnd aufwachte und ein paar Minuten damit verbrachte, die Wärmekragen meiner zwei Schlafsäcke richtig zu schließen. Danach schlief ich dann gut und warm weiter bis wir dann, wie immer, um 7 Uhr geweckt wurden.

Das gute Wetter hielt an - nur ein paar Wölkchen waren am Himmel, dafür aber wehte ein eiskalter, kräftiger Wind den Gletscher hinunter. Praktischerweise mussten wir in dieselbe Richtung: also schob uns der Wind den Eisfluss hinab, immer in Richtung Tempelfjorden, dessen innerste Kilometer zugefroren waren. Wer genau hinschaut, der kann die Eisgrenze im Fjord erkennen und ein Segelschiff: es ist das holländische Boot Noorderlicht, welches jeden Winter als schwimmendes Hotel im Eis genutzt wird.

Auf Meereshöhe angekommen kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seitlich von uns ragten die Gletscherabbrüche des Tuna- und Von Postbreen empor: gigantische Eismassen, die an diesem sonnigen Tag in erstaunlichen Grüntönen leuchteten. Und wieder einmal war ich dankbar, dass sich unsere Klasse in Gruppen aufgeteilt hatte und jede Gruppe unterschiedliche Wege ging. Ohne Menschen im Bild ließen sich die Größe der Landschaft kaum vermitteln!


Der Tag war lang, und die Wanderung auf dem Meereis zum Ausgang des Fjordes zog sich dann doch länger, als wir es vermutet hatten. Robben lagen weit über das Eis verstreut an Löchern im Eis, die sie sich durch rege Benutzung offen hielten, verschwanden jedoch im Wasser sobald wir uns näherten. Im Tal waren wir weitestgehend vom kalten Wind geschützt, der sich durch Schneeverwehungen an den umliegenden Klippen und Bergen jedoch gut erahnen ließ.


Auch ich bekam die Extreme der Arktis zu spüren: am Ende des Tages hatte ich mir einen Sonnenbrand eingehandelt und mir gleichzeitig meine erste Erfrierung geholt! Auf meiner Wange unterhalb meiner Brille war ein weißer Fleck in der Größe eines 10-cent Stücks sicht- und fühlbar: meine Haut war gefroren! Es war nicht schmerzhaft, ganz im Gegenteil ich fühlte gar nichts, doch der Gedanke war seltsam, dass meine Haut tatsächlich gefrieren konnte! Schnell zog ich mir einen Handschuh aus und nutzte die Wärme meiner Hand, um besagte Stelle wieder aufzutauen. Zurück blieb ein roter Fleck, der im Laufe der kommenden Woche gänzlich verschwand.
Zu schade, dass mir nie der Gedanke daran kam, ein Foto zu machen - so müsst ihr euch selber vorstellen, wie ich ausgesehen habe, und euch an dieser Stelle mit einem gestellten Foto in Expeditions-Heldenmanier begnügen! ;-)


Wieder ein Zeltlager später änderte sich die Stimmung in der Gruppe etwas. Wir waren in vertrauten Gegenden angekommen, konnten Berge erkennen, die wir kannten, und hatten zum ersten Mal auf der Reise in unmittelbarer Nähe zu einer Hütte und der Noorderlicht, dem "Boat in the Ice", übernachtet. Der Ort, an dem wir abgeholt werden sollten, befand sich auf der anderen Seite des Bergrückens: obwohl die Rückkehr noch zwei Tage entfernt war, schien sie nah. Und keinem von uns gefiel das!

Für diesen vorletzten Tag hatten wir aber noch eine Herausforderung zu bewältigen: einen steilen Aufstieg auf einen 300m hohen Berg. Offenes Meerwasser machte die "einfache" Wanderung über Seeeis unmöglich, also mussten wir einen Umweg über Land in Kauf nehmen. Und der führte ein wirklich sehr steiles Tal bei Kap Schoulz empor.


Besonders der allerletzte Hang, an dem im obrigen Foto drei meiner Mitkommilitonen wie Ameisen kleben, hatte es in sich. Unsere Pulkas waren zwar mittlerweile relativ leicht, zogen uns aber dennoch ordentlich in die Gegenrichtung. Mein Rücken fand das gar nicht gut, und so pfiff ich dann auch dankend auf meinen Stolz und nahm Hilfe an, als sie mir angeboten wurde. Die Erstankömmlinge (die "Ameisen") hatten mithilfe von Schneeankern und 60 Meter Seil einen Seilzug gebaut und zogen meinen Pulka mit vereinten Kräften nach oben. Damit war das Eis gebrochen und nahmen noch weitere diese wirklich sehr nette Hilfe in Anspruch. Der größte Teil der Gruppe aber ließ es sich nicht nehmen, den Kampf gegen die Gravitation selber in Angriff zu nehmen und, teilweise mit vereinten Kräften, am Gipfel anzukommen.


Viel weiter kamen wir an diesem Tag nicht. Nur einen knappen Kilometer nach dem unvergesslichen Hang fanden wir eine große Schneewehe, und unser Studienleiter Sigmund beschloss spontan, dass wir dort übernachten sollten: allerdings nicht im Zelt, sondern in Schneehöhlen. Gesagt, getan: also gruppierten sich die Studenten neu und fingen an, unterschiedlichste Höhlen zu bauen. Cathrine und ich hatten Lust, etwas für uns ganz neues auszuprobieren: eine Schneekuppel. Wir stellten unsere beiden Pulkas nebeneinander und begannen, Massen von Schnee darauf zu schaufeln. Im Endeffekt standen wir vor einem Berg aus Schnee, dessen Wände gut 1,5 Meter und dessen Dach über einen halben Meter dick war. Und während alle anderen noch schaufelten, hackten und sägten gingen wir einfach von dannen und aßen zu Abend. Nach einer Stunde kamen wir wieder und begannen, einen Eingang zu buddeln. Keiner von uns hatte damit gerechnet, aber: die Mischung aus Pulverschnee und harten Schneebrocken hatte sich in der vergangenen Stunde so verfestigt, dass wir die Pulkas aus dem schmalen Eingang ziehen konnten ohne dass der Schneeberg zusammenbrach. Wir hatten uns ein Igloo geschaufelt! Nun buddelten wir dieses nach unten hin aus und machten es uns darin bequem - und schliefen anschließend wunderbar! Es ist jedes Mal wieder erstaunlich, wie warm Schneehöhlen im Vergleich zu Zelten sind: darin ist es immer um die 0°C warm, ganz egal wie kalt es draußen auch sein mag!

Der nächste Tag war schlecht organisiert. Unser Rücktransport war viel zu früh angesetzt, der Aufbruch gehetzt und verplant: bei wiederum wunderschönem Wetter hatten wir keine Zeit, den letzten Tag noch zu genießen. Alles drehte sich nur darum, rechtzeitig bei Fredheim anzukommen: was unsere Gruppe als letzte genau mit der Ankunft der Kettenfahrzeuge tat. Schade - ein wenig mehr Zeit hätte das Erlebnis der Reise sehr verbessern können! Aber so freue ich mich über das gute Wetter und die schönen Motive, die sich uns an diesem Tag trotz allem offenbarten!


Drei Stunden nach der Aufnahme dieses Bildes befand ich mich dann auch schon wieder in Longyearbyen, wo ich dann doch noch über so viel Disziplin verfügte, meinen Pulka direkt auszuräumen und alles zum Trocknen aufzuhängen, bevor ich mir die erste Dusche seit 8 Tagen gönnte und mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so richtig warm fühlte! Zivilisation hat schon auch gute Seiten, das kann ich nicht verleugnen!

Ja, und damit ist es geschafft: die längste und anspruchsvollste Wanderung unseres Studiums liegt (leider) nun hinter mir. Mein Rücken hat unglaublich gut mitgemacht: dass ich mit meiner ledierten, chronisch schmerzenden Bandscheibe einen über 40kg schweren Schlitten 100km lang über bis zu 800m hohe Bergpässe ziehen konnte, und das alles auch noch auf Skiern, das hätte ich mir bis dahin nie träumen lassen! Wahnsinn! :-)

Zum Schluss dann noch ein Gruppenbild: dies sind die ANG-Studenten des Jahrgangs 2011/12, inklusive Djenoun (dem Hund) und Anne-Marthe, die sich partout gegen gestellte Fotos wehrt. Fair enough! Insgesamt sind wir 13 Männer und vier Frauen, davon zehn Norweger, zwei Deutsche, ein Schwede, ein Däne, ein Isländer, ein Brite und ein Franzose - nun ja, zwei, denn Djenoun versteht ausschließlich Französisch. Voilà!


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