Mittwoch, 25. April 2012

Lichtwinter

Meine Güte. Die Zeit vergeht wie im Fluge, und mein Vorsatz, hier regelmäßig über meine Erlebnisse zu berichten, hat sich zusammen mit der Sonne in die Luft erhoben. Hmm, irgendwas ist an der Redewendung falsch, ich kann kein Deutsch mehr... Egal, ich denke ihr versteht, was ich meine! ;-)

Der April ist auf Svalbard ein Monat gigantischer Veränderungen. Wir sind, plötzlich, in einer Jahreszeit angekommen, die ich persönlich "Lichtwinter" nenne: es ist die Zeit des Winters, in der die Sonne regiert.

Weniger als einen Monat nachdem ich die Sonne nach der Polarnacht das erste Mal sah wurde es nachts schon nicht mehr dunkel. Dieses Foto von Longyearbyen machte ich kurz vor Mitternacht Ende März.
In der ersten Aprilwoche war es um die gleiche Zeit dann schon so hell, dass ich eine Bartrobbe fotografieren konnte, welche auf einer dünnen, kleinen Eisscholle im Fjord trieb.
Und dann, am 18. April, fotografierte ich den vorerst letzten Sonnenuntergang. Erst am 23. August wird die Sonne hier oben wieder unter dem Horizont verschwinden!
Seit dem 19. April ist die Sonne nun also wieder 24 Stunden am Himmel - es herrschen momentan Lichtstimmungen wie in Island Ende Juni. Für mich ist es besonders abstrus, weil ja vor zwei Monaten noch tiefe, dunkle Polarnacht herrschte und es mir wie gestern vorkommt, dass ich die Sonne das erste Mal sah. Und jetzt geht sie schon nicht mehr unter! Mir kommt das sehr gelegen, weil ich nicht mehr auf Freitage angewiesen bin, um Ausflüge zu unternehmen, sondern selbst nach einem langen Arbeitstag noch mit Kamera und Ski unterwegs sein kann. Den 1079 Meter hohen Berg Nordenskjöldtoppen etwa bestieg ich abends. Auf dem exponierten Bergrücken haben Wind, Schnee und Luftfeuchtigkeit wunderschöne Formationen gebildet, die ich im schönsten Abendlicht bestaunen konnte!

Die Bilder zeigen eine weitere Eigenschaft des Lichtwinters: Bewölkung und Niederschlag halten sich wirklich in Grenzen! Das Wetter ist, ganz besonders nach dem ganzen Drisswetter des vergangenen Halbjahres, schlichtweg phänomenal! Und das ist, so verstehe ich endlich, der Hauptgrund, weshalb viele Menschen überhaupt hier oben leben. Im Frühjahr, von März bis Mai, gibt es hier oben oft wochenlang anhaltende Schönwetterperioden und liegt, zumindest in normalen Jahren, genügend Schnee, um lange Schneemobiltouren auch auf Seeeis zu unternehmen. Und genau dies ist sehr beliebt: hier oben gibt es nicht ohne Grund mehr Schneemobile als Menschen. Leider.

Das oft gute Wetter und die langen Tage, zusammen mit den Schneeverhältnissen machen den Monat April zur Touristenhochsaison. Vier große Flugzeuge landen momentan täglich auf dem kleinen Flughafen, oft bis auf die letzten Plätze aufgefüllt, und bringen jede Menge abenteuerlustige Touristen hierher. Davon gibt es zwei verschiedene Sorten: einmal die "normalen" Touris, die ihre meist sehr knapp bemessene Zeit hier oben mit mindestens einer Schneemobilfahrt und einem halben Tag auf einem Hundeschlitten verbringen, und dann die etwas abenteuerlustigeren, die Skiexpeditionen unternehmen und Svalbard zu Fuß erkunden. 
Dazu kommen nicht wenige Besucher, die Svalbard als Zwischenstop für Nordpolausflüge nutzen. Besonders reiche Russen fliegen mit teuren Charterflügen von hier aus direkt zum Nordpol. Und bilden sich mächtig was drauf ein!
Weil der April Touristenhochsaison ist und ich ja gerade ein Guidestudium absolviere habe ich momentan vorlesungsfrei. Um für die Prüfung zugelassen zu werden müssen wir 150 Stunden Praktikum bei einem Tourismusbetrieb unserer Wahl absolvieren - unbezahlt, versteht sich, Praktikanten sind ja bekanntlich dazu da, um ausgebeutet zu werden. Longyearbyen ist ein kleiner Ort, und 17 Studenten versus 17 Praktikastellen verdammt viel - und so kommt es, dass nicht alle von uns die gewünschte Praktikumsstelle erhielten. Dazu gehöre auch ich. Dass ich Schneemobilfahrten kategorisch ablehne, sowohl aus umweltethischen Gründen als auch aufgrund meines blöden Rückens, hat meine Möglichkeiten noch einmal dezimiert. So nahm ich, was ich kriegen konnte, und absolviere mein Praktikum nun bei einem kleinen Schlittenhundekennel. Hier mache ich ziemlich genau dasselbe, wie vor zwei Jahren in Nordnorwegen, bloß halt mit Touristen im Schlepptau. Vier Stunden lang habe ich Zeit, um Gäste von ihren Hotels abzuholen, einzukleiden, mit ihnen eine kurze Hundeschlittenfahrt vorzubereiten, die ständig gleiche Route zu fahren, die Hunde anschließend zu füttern und dann die Gäste wieder zurückzubringen. So eintönig das für mich auch ist, besonders weil ich mir mit meinen Erfahrungen ziemlich überqualifiziert für den Job vorkomme, so schön ist es doch, mit Tieren zu arbeiten und im Schnee draußen unterwegs zu sein! Besser als in der Uni in Vorlesungen zu sitzen ist es allemal! :-)
Glücklicherweise hat auch der Vermieter meiner kleinen Wohnung eine Firma und bietet er Touren in eine Eishöhle im Larsbreen an. Und genau dorthin habe ich jetzt schon mehrmals zahlende Gäste geführt: eine willkommene Abwechslung zum Hundeschlittenfahren!
Diese Höhle ist ein Schmelzwasserkanal weit oben auf 500 Metern überm Meeresspiegel, welchen man nur zu Fuß erreichen kann. Das hat mehrere Vorteile: einerseits sehen weit weniger Gäste diese Höhle, die noch dementsprechend unberührt ist. Dann scheiden die "schlimmsten" und arogantesten Kunden schonmal aus, weil diese niemals eineinhalb Stunden lang einen steilen Gletscher emporlaufen würden. Und drittens verdanken wir es der hohen Lage und den dort herrschenden Schneeverhältnissen dass "meine" Höhle die einzige der ganzen Umgebung ist, welche noch begehbar ist. Alle anderen sind aufgrund des verregneten, zu warmen Winters, zu unstabil geworden, um sie sicher zu begehen.
Der Schmelzwasserkanal auf dem Larsbreen ist dieses Jahr ein einziges, wunderschönes Abenteuer! 25 Meter tief im Gletscher gelegen ist es für eigentlich alle meiner Gäste eine Herausforderung, erstmal hinein zu gelangen - und dann staunt man nur noch ob der Formen und Formationen, die man auf den folgenden 300 Metern zu sehen bekommt. Räume, teilweise groß wie Kapellen, und winzige Tunnel wechseln sich ab.   Glatte, durchsichtige Eisschichten, zentimeterlange Eiskristalle und zarte Eiszapfen bilden die Wände des sich wild windenden Schachtes. Hier ein bis zweimal die Woche unterwegs sein zu dürfen ist ein Privileg, das ich sehr schätze! Zu schade, dass die Höhlensaison bald vorbei ist: in spätestens drei Wochen wird die Sonne schon wieder so stark scheinen, dass das erste Schmelzwasser fließen wird. Und dann ist die Höhle unpassierbar - bis zum nächsten Winter!

So gerne ich die Höhle auch mag, so froh bin ich, viel draußen unterwegs sein und Sonnenschein tanken zu können. Und den gibt es wie gesagt momentan fast ohne Unterlass! Das führt dazu, dass der Schnee im Flachland schon schmilzt, und das obwohl die Temperaturen im Schnitt immer noch bei -10°C liegen. Auch das ist zu warm für diese Jahreszeit, aber daran lässt sich nichts mehr rütteln: dieses Jahr, zumindest dieses Frühjahr, ist das mit Abstand wärmste der menschlichen Svalbardgeschichte. Es ist ein Katastrophenjahr fürs Seeeis und alle Tiere die davon abhängig sind, wie etwa gewisse Robbenarten, die das Eis brauchen, um darauf sicher ihre Jungen großzuziehen. Ich denke, dass uns spätestens im Sommer neue Rekorde verkündet werden, die sich um die geringe Ausbreitung und Dicke des Seeeises rund um den Nordpol drehen. Wer auch immer den menschengemachten Klimawandel verleugnet, der sollte das mal erleben. Eisfreie Fjorde, offenes Wasser und gemäßigte Temperaturen sind angenehm für uns Warmblüter, ohne Frage - aber es ist nicht normal. Das sehe und spüre selbst ich in meinem allerersten Winter hier oben!

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