Die Nacht war sehr stürmisch gewesen, und als ich eine Stunde vor Sonnenausgang den Kopf aus der Tür steckte, sah ich außer wirbelndem Schnee nicht viel. Egal: ich packte alles zusammen, fegte noch schnell die nicht ganz so saubere Hütte, bevor ich mich noch vor 8 Uhr morgens auf den Weg nach Nord-Osten begab.
Der starke Westwind trieb mich vor sich her; ein Segen, denn diese fliegenden Schneekörner sind ziemlich unangenehm, wenn man sie ins Gesicht bekommt. Weil aber immer wieder die Sonne zwischen den Wolken hervorlugte und die Winterlandschaft herrlich in Szene setzte, blieb ich immer wieder stehen und bestaunte die Schönheit des über den Boden fegenden Schnees.
Was im obigen Bild aussieht, wie eine Luftaufnahme von weißen Dünen, sind etwa 10-15 cm hohe "Sastrugis" (im Schneefegen...). Das sind kleine Schnee-Dünen, die vom starken Wind geschaffen werden. Auf der Luv-Seite fräst der Wind die vorhandene Schneedecke ab (die Seite ist steinhart), und im Windschatten der entstandenen Erhebung lagern sich neue Schneekörner an (die Seite kann butterweich sein). Diese Sastrugis können ziemlich hinderlich sein beim Skiwandern und bringen definitiv viel Abwechslung in meinen Touren-Tag, sehen aber immer total schön aus!
Die Sicht war den ganzen Vormittag über immer wieder schlecht, weshalb GPS und Kompass mal wieder unverzichtbar waren. Als ich den Höhepunkt der Tagesetappe erreicht hatte, konnte ich von knapp 600 Meter Höhe die Hochspannungsleitung sehen, die südlich des Langjökull in Richtung Gullfoss abbiegt. Auch wenn ich ein bekennender Nicht-Fan von Hochspannungsleitungen bin (das war jetzt so gelinde ausgedrückt, wie möglich...), so war es in diesem Fall ein willkommener Anblick, weil ich endlich wieder ein Ziel hatte, auf das ich zulaufen konnte...
Von der Mittagszeit an wurde das Wetter immer besser. Der Wind legte sich langsam aber sicher, die Sonne schien und nur noch die hohen Berge hüllten sich in Wolken. Nach dem Mittagessen bestand der nächste Programmpunkt darin, mit dem Schlitten den 80 Meter steilen Mosaskarð runterzufahren, was Spaß machte, bis ich realisierte, dass der Hang plötzlich zu steil wurde, ich vom Schlitten purzelte und (mit dem Pulka im Schlepptau) einen zirkusreifen Salto hinlegte. Da lag ich dann, kopfüber im tiefen Pulverschnee versunken, und stellte zuerst fest, dass mir nichts wehtat (yeay!), und dass ich meine Brille verloren hatte. ZUM GLÜCK fand ich die ziemlich schnell wieder - denn ohne Brille bin ich blind wie ein Maulwurf!
Ich kämpfte mich dann durch den brusthohen Schnee zu meinem Schlitten durch: normal Gehen ging nicht, Krabbeln ging nicht, und ich probierte eine Art des Schneeschwimmens aus, aber auch nur mit mäßigem Erfolg... So einen krass-tiefen und überhaupt nicht tragenden Pulverschnee hatte ich noch nie erlebt, das machte voll Spaß! Der Pulka schien alles gut überstanden zu haben, auch der Inhalt war noch gut festgezurrt, inklusive meiner Ski. Ich krabbelte auf den Schlitten, und zusammen rutschten wir die letzten Meter des Hanges herab, bis es wieder 'normal' und flach weitergehen konnte. Der Blick zurück offenbarte, dass ich hier nie wieder runterfahren wollte! Das war meine bisher gefährlichste Fehleinschätzung - aber nun ja, man sieht halt von oben nicht immer alles, gerade und besonders, wenn alles so verdammt weiß ist. Und getreu dem 'þetta reddast'-Motto der Reise ist ja doch mal wieder alles gut gegangen...!
:-)
Der Rest des Tages war eine Wanderung durch ein Winterwunderland! Blauer Himmel, glänzender Schnee, kein Wind mehr und so warm, dass ich die Jacke ausziehen konnte. Dies allerdings war auch den Umständen zu verdanken, dass ich mich extrem anstrengen musste, um vorwärts zu kommen. Ich befand mich nun im Lee der Berge von Brekknafjöll und der Flugschnee der vergangenen zwei Tage hatte sich in dicken Schichten abgelagert. Das war kein 'normaler' Schnee, das waren feinste Eiskristalle, die sich nicht binden wollten. Ich sank auf meinen Ski gut 30cm tief in diesen lockeren Pulverschnee, und der Schlitten, der pflügte regelrecht hinter mir her. Es war, als sei eine Bremse angezogen, als sei der Pulka plötzlich mit Ziegelsteinen beladen... Und das, während mein Ziel schon in Sichtweite war - es war soooo frustrierend!
Diese Tagesetappe war mit 19 Kilometer recht lang gewesen, ich hatte fiese Blasen, war mit einem +60kg schweren Schlitten einen Steilhang runtergepurzelt, und kämpfte mich jetzt zwei Kilometer lang durch eine Art Treibschnee. Ach ja, und ich hatte an dem Tag meine Periode bekommen, klar, das passte ja wie die Faust auf's Auge... Ich kann auf jeden Fall schamlos behaupten, fix und alle gewesen zu sein, als ich endlich an der Hütte von Hagavatn ankam. Und ich war super dankbar, dass ich diesmal keinen Schnee schaufeln musste, weil die Tür sehr clever auf genau der richtigen Seite erhöht angebracht war. Ein Hoch auf 'ne richtig konzipierte und ausgerichtete Hütte!!!
Und obwohl eine wunderbar sternklare Nacht und ein herrlicher Sonnenaufgang folgte, verbrachte ich sie in der Hütte - schlafend bzw. entspannend. An einen Ausflug konnte ich erst am folgenden Mittag denken: dann hatte ich wieder genug Energie, um die Umgebung zu erkunden. Da war es allerdings schon wieder bewölkt - das geht hier in Island ja immer schneller, als man gucken kann...
Ich hatte gar kein Problem damit, heute nur kleine Touren auf die umliegenden Hügel bzw. zum naheliegenden Wasserfall zu unternehmen. Meine Fersen wollte am liebsten keinen einzigen Schritt mehr tun, denn bereits am ersten Tag hatte ich mir die fiesesten Blasen meines Lebens gelaufen. Aber da mussten meine Füße jetzt durch: nur wegen Blasen umzukehren, kam überhaupt nicht in Frage!
Der Wasserfall Nýifoss nahe der Hütte Hagavatn |
Nachmittags kamen, zu meiner doch recht großen Überraschung, dann plötzlich fünf Schneemobile vorbeigerauscht, auf Durchreise irgendwohin. Ich hörte sie, lange bevor ich sie sehen konnte, und ging raus, um zu gucken. Zwei von den Maschinen waren keine Schneemobile sondern ... Hmm, wie soll ich es beschreiben, eine Mischung aus Motorrad und Schneemobil? Sah interessant aus, hatte ich so noch nie gesehen. Sie fuhren in respektvollem Abstand an der Hütte vorbei in Richtung Langjökull - ich hörte sie noch eine halbe Stunde lang, sah sie aber nie wieder...
Abends dann schoben sich zwei Superjeeps durch den Schnee; ihre Balonreifen fast platt, um im Pulverschnee überhaupt vorwärts zu kommen. Sie standen bestimmt zwanzig Minuten lang vor der Hütte, natürlich mit laufenden Motoren, und unterhielten sich durch's offene Fenster. Ob das deren Verständnis von social distancing war? Drinnen saßen je ein übergewichtiger Mann mittleren Alters; einer hatte eine weibliche Beleitung auf den Beifahrersitz dabei - da wurden also alle Klischees bilderbuchmäßig bedient... Als ich das Datum kontrollierte, wurde mir vieles klar: es war ein sonniger, nicht-windiger Samstag. An Gutwetter-Wochenenden sind immer Isländer im Hochland unterwegs: schließlich müssen die teuren Maschinen ein paar Mal im Jahr standesgemäß genutzt werden...
Ohne Kontakt aufnehmen zu wollen, bulldozerten die beiden Monsterfahrzeuge dann weiter. Während ich in der Hütte Tagebuch schrieb, beobachtete ich sie dabei, wie sie noch 20 Minuten damit verbrachten, eine etwa 10 Meter hohe Steigung empor zu kommen: da war nämlich wieder 'Schwimmschnee' und kamen diese tonnenschweren Maschinen nicht mal eben so hoch. Ich begreife echt nicht, was diese Superjeepfans so interessant finden an ihrem Hobby. Alle paar Meter stecken sie fest und verbringen dann minutenlang damit, die Luft ihrer ohnehin schon platten Reifen abzulassen und vor- und zurück zu rollen, aus der Spur auszubrechen und es nochmal zu versuchen, und nochmal, und nochmal... Ne, das ist echt nichts für mich - ich laufe mir lieber Blasen und purzel Hänge runter! Ich und Superjeepbesitzer, das sind echt die entgegengesetzen Enden des isländischen Wintersport-Spektrums...
Als die Klimasünder dann auf nimmer Wiedersehen verschwanden, genoss ich die plötzliche Stille im menschenleeren Tal. Im Nachhinein kann ich sagen, dass dies die einzige Begegnung mit anderen Menschen innerhalb von zwei Wochen gewesen war. Schon verrückt, wie intensiv die Eindrücke, Geräusche und auch das 'Störungssempfinden' ist, wenn man nach langer Einsamkeit plötzlich mit anderen Menschen und Motoren konfrontiert wird.
Vom Hügel bei der Hütte hatte ich super Handyempfang und konnte die neueste Wettervorhersage anhören. Dieser Ort, Hagavatn, war ein Schlüsselpunkt meiner Wanderung: ich hatte überlegt, eventuell mehrere Nächte hier zu bleiben, um die wunderschöne Gegend zu erkunden. Zumal die Hütte total schnuckelig ist, mit einem echten Holzofen! Die Wettervorhersage war aber leider ziemlich schlecht: stürmisches Tauwetter und danach Neuschnee und starker Nordwind. Also beschloss ich, schnell weiter Strecke zu machen und die fast 40 Kilometer nach Hvítárnes im Eiltempo zurückzulegen. Am nächsten Morgen zog ich im Fast-Whiteout weiter: fest entschlossen, irgendwann zurückzukommen, um dann bei möglichst gutem Wetter hier mehr Zeit zu verbringen.
Meine Befürchtungen, wieder auf Pulverschnee zu stoßen, bewahrheiteten sich zum Glück nicht, im Gegenteil: der Schnee trug prima und ermöglichte es mir, das Biskupstungnaafrétt an dem Tag 350 Höhenmeter aufzusteigen und dennoch 18,5 Kilometer zurückzulegen. Allerdings wurde das Wetter und damit die Sicht immer schlechter. Die letzten Kilometer war ich wieder im totalen Whiteout unterwegs und baute mein Zelt schließlich im Schneetreiben auf knapp 700 Meter Höhe auf. Die Nacht schlief ich kaum, weil das Zelt von Windböen geschüttelt wurde und feinster Flugschnee wie Sandkörner auf die Plane prasselten. Man kann dann wählen zwischen Pest und Cholera: entweder, man lässt die Lüftungen offen und damit den Flugschnee ins Zelt, oder aber man verschließt die Lüftungen und wird plitschnass. Die Feuchtigkeit meiner Atmung kann dem Zelt dann nämlich nicht entweichen und kondensiert an der Zeltplane und dem Innenzelt. Die Sturmböen schütteln diese Kondensations-Tröpfchen wie Regen auf einen herunter: in einem Schneesturm wird folglich alles nass!
Den wenigen Schlaf fand ich sowieso nur, weil ich mich mit meiner Goretexjacke zudeckte, damit mein Gesicht nicht immer von Tropfen getroffen wurde... Bah! In Momenten wie diesen fragt man sich schon, was zur Hölle einen je dazu bewegt hat, sich mutterseelenallein in solche Situationen zu begeben...
Am nächsten Morgen ging es früh weiter; Müdigkeit und Kopfschmerzen als stete Begleiter. Die Sicht war gleich null, der Wind weiterhin stark, als ich mich Schritt für Schritt den Pass 'Bláfellsháls' hinabtastete und die Autopiste 35 suchte, die Hochlandpiste 'Kjölur'. Wenn gestern Superjeeps bei Hagavatn waren, würden auch hier Autos gefahren sein, und ich hoffte, den Spuren folgen zu können, denn das war einfacher, als mit GPS und Kompass zu navigieren. Meine Hoffnung erfüllte sich: die tonnenschweren Superjeeps mit ihren riesigen Balonreifen hatten bis zu ein Meter tiefe Rinnen in den Schnee gepflügt, die sich jetzt erst langsam wieder füllten. Mein Pulka liebte diese Spuren, der war gar nicht mehr raus zu bekommen... Und ich freute mich besonders über die Wegmarkierungen, die endlich Akzente in dieser ansonsten komplett weißen Welt setzten. Den gelben Plastikstecken konnte ich so lange folgen, bis ich endlich aus den Wolken herauskam, und auch dann boten mir die Markierungen willkommene visuelle Anhaltspunkte im schier endlosen winterlichen Weiß.
Mittags hatte ich die Brücke über die Hvítá erreicht, und von dort aus waren es 'nur noch' 10 Kilometer bis zur Hütte in Hvítárnes. Bei der wollte ich unbedingt heute noch ankommen, denn ab dem Abend war Sturm angesagt. Und kaum, dass ich den Fluss passiert hatte, begann es dann auch, zu regnen. Fotos machte ich an dem Tag so gut wie keine, und Pausen auch nicht - es ging nur Schritt für Schritt weiter, dem Ziel entgegen...
Die Hütte in Hvítárnes ist alt und zugig, aber auch echt schnuckelig, und sie bot mir hervorragenden Schutz vor den Elementen. Obwohl es kein Gas mehr gab, um Ofen oder Herd zu bedienen, konnte ich all meine Dinge trocknen; denn mit meinem eigenen Benzinkocher konnte ich das kleinste Zimmer wunderbar erwärmen und die wichtigsten Dinge trocknen, wie etwa meine Jacke, Hose, Schuhe und meinen Schlafsack. Alle anderen nassen Sachen, unter anderem mein Zelt, hängte ich unter'm Dach auf, wo sie im Laufe der nächsten zwei Tage langsam aber sicher auch ohne zusätzliche Wärme trockneten.
Blick von der Hütte über den Bach Tjarná hin zum Leggjabrjótur und dem Gletscher Langjökull |
In Hvítárnes blieb ich insgesamt drei Nächte. Draußen regnete es, teilweise in Strömen, und ich konnte dem Schnee beim Schmelzen regelrecht zusehen. Plötzlich erschienen vor der Hüttentür die Umrisse eines Baches im Schnee, den hatte ich bei meiner Ankunft gar nicht gesehen! Während der ersten beiden Nächte/Tage schmolz hier gut ein halber Meter Schnee: im folgenden Bild kann man sehen, wie viele Steine plötzlich sichtbar wurden. Ich muss zugeben, dass ich echt Bammel hatte, ob mir wohl hoffentlich noch genügend Schnee für die Weiterreise erhalten blieb!
Ein 'vörður', ein 'Wächter'. Es ist eine alte Streckenmarkierung für die damalige Pferde-Route des 'Kjalvegur hinn forni' |
Am 1. April, meinem zweiten Pausentag in Hvítárnes, drehte der Sturmwind von Süd auf West. Die Temperaturen fielen wieder unter den Gefrierpunkt und das Wetter wurde etwas besser. Der weiterhin heftige Wind brachte vom Gletscher Langjökull nun wieder Flugschnee, der sich in sehr fotogenem Schneefegen manifestierte. So unangenehm das Ganze auch ist - es sieht einfach nur wunderschön aus! Und so fotografierte ich, wann immer die Sicht es zuließ: aus dem Inneren der Hütte durch die offene Tür hindurch, später aus dem Windschatten der Hütte, und am Abend des zweiten Pausentages dort sogar auf einer einstündigen Erkundungstour. Die fotogenen Momente waren auf dieser Tour rar - aber wenn sie dann eintrafen, waren sie einfach nur atemberaubend schön!!!
Heute komme ich endlich zum Weiterlesen und bin erneut total begeistert von Deiner Tour und den herrlichen Fotos ... auch wenn ich dann doch froh bin, dass Du wieder gesund und munter daheim gelandet bist ;-)
AntwortenLöschen