Donnerstag, 23. April 2020

Kjölur im Winter - Teil 4

Der 8. April war der 16. Tag meiner Wintertour. Mein Wecker klingelte um 4:30 Uhr, eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang, denn die Wettervorhersage hatte mir große Hoffnungen auf einen wolkenlosen Sonnenaufgang gemacht. Die Realität sah aber mal wieder anders aus. Über der Hütte zeigte sich zwar blauer Himmel, aber rundherum waren Wolken. Zudem peitschte der noch immer ziemlich stürmische Wind den frischen Schnee über den Boden. Egal: los ging es, den 100 Meter höheren Hügel Þverbrekknamúli empor. Statt Farben und spektakulären Bergsichten wurde es einfach nur langsam heller. Immerhin bringen die Bilder die Temperatur gut rüber: es war so richtig fies kalt!



Nach Sonnenaufgang kehrte ich zur Hütte zurück. Da ich am Abend zuvor schon alles abreisefertig gemacht hatte, dauerte es nicht lange, bis ich die Hütte abschließen konnte. Die Sonne war jetzt so weit über den Sturmwolken aufgestiegen, um die Gegend attraktiv wirken zu lassen. Also drehte ich dann doch noch einmal eine kleine Runde in der direkten Umgebung, um Fotos von der kalt-schönen Szenerie zu machen...





Kaum, dass sich die Sonne über die Wolken erhoben hatte, fiel mir auf, dass Halos zu sehen waren. Halos sind Lichtphänomene, die durch Lichtbrechung in Eiskristallen hervorgerufen werden. Es ist dasselbe Prinzip, wie bei einem Regenbogen: die Sonnenstrahlen werden durch die Regentropfen bzw. Eiskristalle gebrochen und zaubern dann spannende Lichterscheinungen an den Himmel. Das bekannteste (da häufigste) Halo ist der 22°-Ring, ein meist farbloser Ring um Mond oder Sonne. Und wahrscheinlich habt ihr auch schonmal sogenannte "Nebensonnen" gesehen: helle und teilweise regenbogenfarbige Flecken rechts und/oder links von der Sonne. Im Gegensatz zum Regenbogen, der immer auf der sonnenabgewandten Seite auftritt (sprich: will man einen Regenbogen sehen, muss man die Sonne im Rücken haben), befinden sich die allermeisten Halos in direkter Sonnennähe. Und das ist der Grund, warum viele Leute keine Halos kennen: sie werden von uns oft nicht bemerkt, weil man selten direkt in die Sonne hineinschaut. Ich bin allerdings schon seit zwanzig Jahren ein Halo-Fan - und war dementsprechend begeistert, als sich kurz nach meinem Aufbruch folgendes Bild ergab:

Hier sieht man sechs verschiedene Haloarten. Einmal den 22°-Ring um die Sonne, dann die linke und rechte Nebensonne. Oben auf dem 22°-Ring liegt der "obere Berührungsbogen", und den schwachen regenbogenartigen Teilring oben links hielt ich für einen Stück des 46°-Rings, ich weiß aber nun, dass es ein Teil des sogenannten Supralateralbogens ist. Für die komischen Namen kann ich nichts, die heißen halt so... Schwach zu sehen sind außerdem der sogenannte Horizontalkreis (der die Sonne waagerecht durchschneidet) und die untere Lichtsäule (eine Art Lichtstrahl, der von der Sonne aus nach unten weggeht). All diese Dinge waren mit dem bloßen Auge genau so zu erkennen. Es war toll!

Die Voraussetzung, damit man sowas sehen kann, sind Millionen gleich ausgerichteter Eiskristalle, die irgendwo in der Luft sein müssen. Das können entweder ganz hohe, dünne Wolken sein, oder Eisnebel, oder wie in diesem Falle winzige Kristalle, welche vom starken Wind von den umliegenden Wolken hergetragen wurden.



Dieses Schauspiel begleitete mich über zwei Stunden lang. Es war nie gleich: je mehr von diesen fliegenden Eiskristallen in der Luft war, desto deutlicher waren die Halos zu sehen. Und das änderte sich im Minutentakt! Um 11 Uhr herum konnte ich partout nicht mehr weiterwandern (auch nicht mit der Kamera um den Hals...) und musste eine halbe Stunde Fotopause einlegen und ohne Pulka durch die Gegend flitzen. Da erkannte ich nämlich neun verschiedene Haloarten gleichzeitig - es war echt total irre!







Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie ich umhergehüpft bin, als die Halos am stärksten waren - das war wie Weihnachten! Es gab für mich einige Premieren; ich hatte noch nie einen Horizontalkreis gesehen, noch nie einen Supra- und Infralateralbogen, und ich vermutete, dass da noch weitere Halos waren, die ich nicht kannte. Und tatsächlich: als ich die Bilder später zu einer befreundeten Halo-Koryphäe schickte (danke nochmal, liebe Claudia Hinz! :-D), zeigte sie mir an kontrastverstärkten Bildern, dass sich da noch ein schwacher Lowitzbogen sowie der 'obere konkave Parrybogen' versteckten. Insgesamt konnte ich an dem Morgen 11 verschiedene Halos beobachten bzw. fotografieren - es war für mich der absolute Höhepunkt der Tour! So unerwartet, so beeindruckend, so … überirdisch schön!



Wer sich mehr für das Thema Halos interessiert, kann ja mal hier gucken: www.meteoros.de .
Zudem gibt es ein super Buch zum Thema 'Himmelsphänomene', voller Wissen und irre Bilder, das ich euch ebenfalls sehr ans Herz legen kann: Lichtphänomene - Farbspiele am Himmel .

Nach diesem Euphorieschub flog ich regelrecht über den vereisten Schnee Richtung Norden. Das Wetter wurde immer besser, und ich bekam doch tatsächlich einmal einen guten Blick auf den Langjökull, den zweitgrößten Gletscher Islands, in dessen Nähe ich mich die ganze Tour über aufhielt, der sich aber meistens unter einer Wolkenkappe versteckte.



Das Wetter wurde so super, dass ich eine richtig lange Mittagspause einlegen konnte, was nicht selbstverständlich ist. Im Gegenteil: auf dieser Tour musste ich das Mittagessen öfters ausfallen lassen, weil das Wetter zu fies / zu kalt war, um sich auch nur eine Viertelstunde ausruhen zu können. An diesem Tag aber saß ich gemütlich auf meinem Pulka und 'genoss' meine übliche Mittagspampe: kleingekrümelte Fertignudeln mit Kartoffelpürree, gewürzt mit einer Tütensuppe und viel Salz. Gesund und lecker ist anders, aber das heiße Wasser der Thermoskanne lässt die Pampe lauwarm in meinen Magen wandern, was wunderbar ist bei den niedrigen Temperaturen! :-)



Unmittelbar nach dem Haloerlebnis traf ich eine Bauchentscheidung: ich beschloss, die vorletzte Hütte der Wanderung (Þjofadalir) links liegen zu lassen und direkt nach Hveravellir durchzustarten. Die gesamte Tagesetappe lag damit bei etwa 20 Kilometer, was aber heute super zu schaffen war. Und tatsächlich: am Nachmittag kam ich dann in Hveravellir an. Dies ist ein sehr beliebter Ausflugsort im Hochland; im Sommer gibt es hier mittlerweile ein Hotel und Restaurant. Es ist ein Rummelplatz geworden, völlig durchkommerzialisiert, mit Shop und kostenlosem WLAN, der für mich im Sommer kein Hochlandgefühl mehr bietet. Jetzt aber war ich der einzige Mensch weit und breit. Die Hütten waren verschlossen, und seit dem vorletzten Wochenende war wohl niemand mehr hier gewesen: keine Reifenspuren, keine Schneemobilspuren, nichts. Es war ein Hveravellir, wie es einsamer und schöner nicht sein konnte!



Der Klimawandel ist in Island stark spürbar; jeder erwachsene Isländer wird euch erzählen können, wie anders das Wetter noch vor 15 Jahren war, wie viel mehr Schnee im Winter fiel und wie viel größer die Gletscher früher waren. Der vergangene Winter aber fällt unter die Kategorie "Wie in alten Zeiten", zumindest was die Schneemengen angeht, die gefallen sind. Man kann auf dem obigen Bild gut erkennen, dass vom Hotel-Restaurant-Gebäude eigentlich nur noch das Dach aus dem Schnee ragte. Eine meiner ersten Aktionen war es folglich, die Aussicht vom Dachfirst aus zu genießen...
Für diese an sich niederschlagsarme Gegend ist das wirklich enorm viel Schnee! In den Jahren zuvor sah es hier ganz anders aus, und auch andere Gegenden meiner Tour sind mittlerweile selbst im Winter oft schneefrei. Jetzt aber war es ein Winterwunderland - anders lässt sich das nicht beschreiben!

Winterzelten in Hveravellir: mit Blick auf den Álftafell und den Hofsjökull


  
Ich nutzte den warmen Spätnachmittag, um in aller Ruhe mein Zelt aufzubauen. Und als ich gerade fertig war, hörte ich Motorengeräusch und sah einen riesigen Superjeep direkt ans Hotelgebäude fahren. Es war Pétur, der Manager von Hveravellir, mit dem ich schon vor und während der Tour in Kontakt gestanden hatte, und der auf Facebook sofort ein Foto von meinem Zelt postete, mit dem Kommentar „Looks like the campsite is open“...

Pétur sagte mir, dass er wegen des Coronavirus alle Buchungen für Ostern abgesagt habe und nur hier sei, um die Hütten für eine längere Pause vorzubereiten, da wahrscheinlich bis zur Öffnung der Straße Ende Juni niemand mehr hier übernachten würde. Und, ja, er könne mich und meinen Schlitten übermorgen ohne Probleme mit zurück nach Reykjavík nehmen.

Das ist wieder einfach nur typisch Island: þetta reddast.
Hammer!!!

Meine Füße und mein innerer Schweinehund freuten sich sehr über die Nachricht! Und der Fotograf in mir auch, schließlich bedeutete dies, dass ich morgen nicht die Weiterreise nach Norden antreten 'musste' (um das gute Wetter auszunutzen), sondern alle Zeit der Welt hatte,  um das winterliche Hveravellir zu erkunden. Ganz besonders freute ich mich auch auf ein Bad im 'heita pottinum', im Hot Pot!



Hveravellir ist ein Geothermalgebiet, in dem heiße Quellen zutage treten. Es ist schwierig geworden, hier zu fotografieren, weil mittlerweile Holzstege und Absperrungen viele Fotomotive verschandeln, aber trotzdem ist es ein faszinierender Ort, gerade und besonders jetzt im Winter, mit all dem Schnee. Überall dampft und zischt es, feinste Sinterterrassen zieren das fußballplatzgroße Areal aus Quellen, Fumarolen und Solfataren.






Direkt bei der alten Hütte liegt ein kleiner, tiefer Pool, der über ein Rohr mit heißem Wasser gespeist wird. Im Sommer fließt durch zwei andere Rohre auch kaltes Wasser ein, aber das war jetzt im Winter gefroren, sodass der Pot mindestens 70°C heiß war. Am ersten Abend hob ich deshalb die Heißwasserzufuhr aus dem Pool, woraufhin er sich über Nacht soweit abkühlte, dass man darin baden konnte. Oh, Leute, was ein Luxus, das mutterseelenallein genießen zu können! Nachts saß ich Ewigkeiten drin, beobachtete die Rauchschwaden, die unter den Sternen und einem Streif farbloser Nordlichter umherzogen. Ein Traum!



Und dann erlebte ich tatsächlich sowohl zwei farbige Sonnenuntergänge als auch einen pinken Sonnenaufgang - ich konnte es gar nicht fassen! All diese Tage, in denen die Welt nur aus Weiß, Schwarz und Blau zu bestehen schien, hatten mich fast vergessen lassen, wie farbig die Dämmerungen sein können. Es war der krönende Abschluss einer Tour, die so ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt hatte, und doch so perfekt.












Dies war meine bisher längste Solo-Tour gewesen: technisch nicht anspruchsvoll, auch nicht von der Kilometeranzahl her. 125 Kilometer legte ich in sieben Etappen zurück, mit ebenso vielen Pausen- bzw. Sturmtagen, plus dann nochmal die zwei herrlichen Foto- und Hotpot-Tage in Hveravellir. Es schien fast absurd, als ich dann am 18ten Tag meinen Pulka zu Péturs Monster-Superjeep zog, wir diesen in seinen Kofferraum verfrachteten, und dann innerhalb von 3,5 Stunden zurück nach Reykjavík rasten. Dreieinhalb Stunden, um dahin zurückzukehren, wo ich vor 18 Tagen aufgebrochen war... Schon verrückt, wie schnell ich plötzlich zurück in der Zivilisation war.



Und damit beende ich diesen laaaaaangen Bericht: schön, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid! Wenn ich das nächste Mal etwas Spannendes erlebe, melde ich mich wieder. Eine weitere Skitour wird es nicht geben, denn mit meiner Rückkehr setzte im ganzen Land Tauwetter ein, und jetzt ist der Schnee eigentlich überall weg und habe ich keine Möglichkeit mehr, einen guten Start- oder Endpunkt zu erreichen. Aber ich hatte ja meine 18 Tage Winter-Abenteuer auf der Kjölur: und jetzt geht's halt mit Frühling und Sommer weiter!

Wegen Corona werde ich auch die kommenden Monate in Island verbringen, denn hier lässt es sich viel besser aushalten, und außerdem reizt mich die Aussicht, dass diesen Sommer kaum Touristen herkommen werden. Ich bin gerade dabei, mir einen Job / Freiwilligenjob zu suchen, damit ich mich noch mehrere Monate in diesem teuersten Land Europas über Wasser halten kann. Genau wie bei meiner Skitour bin ich da sehr optimistisch: das wird schon klappen, "þetta reddast" - garantiert!
:-)

Liebe Grüße - und auf bald!
Eure Kerstin




























Am vorletzten Abend gab's dann nochmal ein Halo zu bestaunen, eine 'obere Lichtsäule'.
Das Gebäude ist passenderweise die (unbemannte) Wetterstation in Hveravellir.




















Dienstag, 21. April 2020

Kjölur im Winter - Teil 3

Am zweiten April, dem zehnten Tag meiner Skitour, war das Wetter prima: kalter Nordwind, kein Niederschlag und nur leichte Bewölkung. Weil der Regen nach zwei Tagen wieder in Schnee umgeschlagen war und die Temperatur seitdem wieder unter dem Gefrierpunkt lag, war noch massig Schnee da, um weiterzuziehen: also trat ich, dick vermummt, die nächste Etappe an. Der Gegenwind war unangenehm kalt; ich schätze mal, dass die Außentemperatur bei so -8°C lag, und der Windchill-Effekt drückte das ganze dann locker unter die -15°C. Kurz nach Aufbruch, die Hütte Hvítárnes war noch in Sicht, wollte ich mal wissen, wie dämlich ich denn wohl aussehe und machte ein Selfie. Ich nannte mich an dem Tag dann nur noch „die Nase“...

Ab sofort war ich auf dem Wanderweg 'Kjalvegur' unterwegs: heute waren es nur 15 Kilometer bis zur nächsten Hütte. Der Schnee war nach dem Regen der letzten Tage total vereist und damit ideal zum Ziehen des Pulkas. Die Route selbst war komplett flach, ich glaube, insgesamt nur 80 Höhenmeter - dies war die wohl einfachste Etappe der Reise! Und so kam ich, trotz späten Aufbruchs, bereits am frühen Nachmittag am Tagesziel an, in Þverbrekknamúli. 

Ihr wisst ja mittlerweile, dass isländische Namen lang und kompliziert sein können, aber sie bedeuten immer etwas, das man noch nachvollziehen kann. Ein 'múli' ist eine Art Vorgebirge, ein 'vor etwas anderem stehender Berg oder Hügel', und 'Þverbrekkur' bedeutet übersetzt 'querliegender Hang' und ist der Name des benachbarten Berges/Hügels. Frei übersetzt bedeutet Þverbrekknamúli also 'Der vor dem querliegenden Hang liegender Hügel'. Und die dortige Hütte heißt halt auch so. Ich war entzückt, als ich die Lage der ziemlich modernen Hütte sah: am Rande eines weiten Tals, direkt vor dem prächtigen Berg Hrútfell. Und ich musste laut lachen, als ich die Tür suchte bzw. fand. Die versteckte sich nämlich hinter der größten Schneewehe der Umgebung. Das war ja mal wieder typisch!

Seht ihr die Tür? Die ist da, wo der Schnee das Dach berührt ...

Zu meiner freudigen Überraschung schien ich nicht die erste Person zu sein, die feststellte, dass die Hütte für die Winternutzung doof ausgerichtet war. Vor der eigentlichen Eingangstür, die sich nach innen öffnete, befand sich eine 'Schneetür' in zwei Teilen. Und das bedeutete, dass ich den Eingang 'nur' auf Hüfthöhe freischaufeln musste. Dann konnte ich den oberen Teil der Schneetüre öffnen, die Klinke der eigentlichen Tür erreichen und in die Hütte einsteigen. Und lieber klettere ich jedes Mal hoch bzw. runter, als dass ich noch eine Stunde ins Bewegen mehrerer Kubikmeter teils zu Eis gewordenen Schnees investiere...





Hier in Þverbrekknamúli blieb ich geschlagene sechs Nächte. Das Wetteramt sagte einen heftigen Sturm voraus, und die Hütte war prima geeignet, um den auszusitzen. Zumal sie wunderbar gelegen war! Der kleine Hügel Þverbrekknamúli ragte direkt hinter der Hütte auf und ermöglichte mir einen tollen Rundumblick auf das mittlere Hochland. Im Norden der Kjalfell, im Nordosten der Hofsjökull, im Osten die Kerlingarfjöll und im Südwesten der Hrútfell - der erste Sonnenuntergang war sanft und nicht sehr farbig, machte mir aber richtig Lust auf den kommenden Sonnenaufgang! 

Die Kerlingarfjöll im sanften Abendlicht

Aber … ich kannte ja mittlerweilie die Wettervorhersage und auch die Sonnenscheindauer der letzten 10 Tage. Es gab immer nur alle paar Tage mal ein Gutwetterfenster, und das dauerte selten länger als 12 Stunden. Und Sonnenaufgänge waren bisher eine absolute Rarität - meinen bisher einzigen hatte ich in Hagavatn verschlafen... Von daher konzentrierte ich mich auf's Jetzt und steckte nach dem Abendessen regelmäßig meinen Kopf aus der Hütte. Als es endlich dunkel geworden war und der Halbmond die Landschaft erhellte, zogen feine Wolken auf und lieferten sich ein Wettrennen mit schwachen bis mittelstarken Nordlichtern. Noch vor Mitternacht war der Himmel so stark bewölkt, dass man weder Sterne noch Aurora erkennen konnte... Bis dahin entstanden keine preisverdächtigen Fotos, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Es ist schon sehr spät im Jahr, die Nächte sind bereits recht hell, und diesen Winter gab's generell nicht viel Aurora, was an der geringeren Sonnenaktivität liegt. Von daher war ich total glücklich, überhaupt noch Nordlichter zu sehen zu bekommen!


Der Sonnenaufgang am nächsten Morgen war grau in grau, und auch meine folgende Tagestour, eine fünf Kilometer lange Runde auf die umliegenden Hügel, lässt sich als "Schwarzweiß-Erlebnis" beschreiben. Als ich nachmittags zur Hütte zurückkehrte, herrschte schon fast wieder Whiteout und begann bereits ein stärkerer Wind zu wehen. Der angekündigte Sturm näherte sich - und sollte mich für die kommenden drei Tage in der Hütte festsetzen. 


Langeweile kam allerdings nicht auf. Wie bei allen längeren Touren so hatte ich auch diesmal meinen (bereits gebraucht gekauften) eReader dabei: der verbraucht so gut wie keinen Strom und funktioniert auch bei Kälte einen Monat zuverlässig. Im Laufe der Tour las ich mich durch sechs Bücher. Das schaffe ich sonst im Jahr nicht!

Das einzig Unangenehme an der bewegungslosen Herumsitzerei war die Kälte. Das Außenthermometer an der Hüttenwand pendelte zwischen -9 und -4°C, und in der Hütte war es morgens so -1° bis +2°C 'warm'. Es gab hier zwar zwei Gasöfen und drei Gasflaschen, aber … ich wollte nicht so viel Gas verbrauchen. Also leistete ich mir zwei bis maximal drei Stunden am Tag den Luxus, einen der Öfen anzuschalten, was die Hüttentemperatur dann auf bis zu 10°C erhöhte - herrlich! Um in den verbliebenen ofenlosen Tagesstunden trotz Bewegungslosigkeit nicht zu frieren, fand ich eine wunderbare Lösung: ein Schlafsack-Onesie! Sehr bequem, sehr warm, und die Fortbewegung darin erinnerte mich an einen Pinguin...



Besagter heftiger Sturm, der ganz Island unbereisbar machte (ist das ein offizielles Wort - unbereisbar? Egal, ihr wisst, was ich meine...), fand an den Tagen 12 bis 14 meiner Tour statt. Allmählich wurde ich unruhig, denn: ich wusste noch nicht, wie ich wieder in die Zivilisation zurückkehren würde. Es gab drei Möglichkeiten. Entweder, ich versuchte, wieder nach Süden rauszukommen, das wären dann nochmal etwa 60 Kilometer Wegstrecke bis zum Gullfoss. Etwa genauso lang wäre es, der Kjölur von Hveravellir aus nach Norden zu folgen und bei Blönduós an der Ringstraße rauszukommen. Dort allerdings war zu Beginn meiner Tour kaum noch Schnee gewesen, und das Tauwetter vor ein paar Tagen hatte die Situation bestimmt verschärft. Der Pulka war zwar mittlerweile gut 13 Kilo leichter, aber dennoch: es gäbe nichts Blöderes, als mit dem Schlitten plötzlich ohne Schnee irgendwo in der Walachei zu stranden! Von daher setzte ich alle Hoffnungen auf die dritte Option: auf '
þetta reddast'. 

Und so hielt ich an meinem Plan fest, beim nächsten Gutwetterfenster nach Hveravellir durchzustarten. Meine Hoffnungen lagen auf dem dritten Wochenende meiner Reise: denn dann war Ostern. Ich war mir zu 99% sicher, dass irgendwann über die Ostertage mal Superjeeps nach Hveravellir kommen würden, Corona-Reisestopp hin oder her, die mich und meinen Pulka mitnehmen können würden. Zudem war ich mit dem Hüttenwart bzw. Manager der Hveravellirhütte in Kontakt, der auch sagte, dass er 'wahrscheinlich' in den Tagen vor Ostern kommen und mich dann auch nach Reykjavík mitnehmen können würde. Dieses 'Wahrscheinlich' ließ allerdings noch einige Zweifel übrig - denn bei Schlechtwetter würde niemand im Hochland unterwegs sein. Um im Falle eines Falles auf gutes Wetter warten zu können, hatte ich schon vor einer Woche begonnen, mit meiner Nahrung strikter zu haushalten. Während der Pausentage ließ ich jetzt immer eine der drei Hauptmahlzeiten aus, damit ich bis Ostermontag genug zu Essen hatte und eventuell noch bis nach Blönduós durchlaufen konnte. Sicher ist sicher!

Mein Hüttenbucheintrag in Þverbrekknamúli.
Kein Meisterwerk - aber das wird ja auch von niemandem verlangt! :)
 
Und so erlebte ich vier extrem ruhige, stürmische Tage in der Hütte von
Þverbrekknamúli. Zwei Tage davon waren echtes Waschmaschinenwetter: so nenne ich das, wenn man beim Blick durch's Fenster nur weiße Schlieren sieht... Der feine Flugschnee war mit einem solchen Tempo unterwegs, dass er durch die kleinsten Ritzen drückte: es ist echt irre, wie dann plötzlich scheinbar dichte Fenster Schnee reinlassen: der drückt durch die Fenster- und Türrahmen in die Hütten rein. Dies war übrigens ein ganz alltäglicher Anblick auf meiner Tour; ich weiß gar nicht, wie viele Kehrschaufeln Schnee ich aus jeder einzelnen Hütte rausgeholt habe...


An den Sturmtagen wurde auch der Klogang zum Abenteuer, denn das Plumpsklo ist ja leider immer mindestens 50 Meter von der Hütte entfernt, und ein Schneesturm verringert die Sicht oft auf unter zwanzig Meter. Um das Klo zu finden, geht man also ins weiße Nichts hinein, hoffend, dass irgendwann die Silhouette des kleinen, einzeln stehenden Häuschens auftaucht. Und während man dann auf dem Klo ist, verweht der Wind die Fußspuren, das geht ja oft blitzschnell. Es ist echt gruselig, wenn man sich vorstellt, dass man auf dem Rückweg die Hütte um nur wenige Meter verpassen könnte und sie dann nicht wiederfindet. Von daher: Klogang bei Schneesturm nur mit GPS in der Jackentasche! Ich habe mir letztlich zwei Schaufeln und einen Rechen in den Schnee gesteckt, als Markierungen, um immer einen visuellen Anhaltspunkt zu haben. Man wird definitiv kreativ in Schneestürmen, soviel ist sicher! :-)


Die Hütte nach den vier großen Sturmtagen - mit einer ganz neuen Schneewehe. Hat was!

Der dritte Sturmtag war nur noch ein Stürmchen, aber lud trotzdem nicht zum Rausgehen ein. Der Tag danach war genauso: ich hätte theoretisch weitergehen können, aber ich wollte auf meiner Weiterreise nach Hveravellir die Landschaft sehen! Zudem hoffte ich noch immer auf einen schönen Sonnenaufgang und darauf, den imposanten Berg Hrútfell nochmal zu Gesicht bekommen. An dem Tag aber wurde ich mit einem wunderbar stürmischen Sonnenuntergang belohnt: Schneefegen im abendlichen Streiflicht. Oh ja, das lässt das Fotografenherz höher schlagen!





Sonntag, 19. April 2020

Kjölur im Winter - Teil 2

Wind war das allgegenwärtigste Wetterphänomen während meiner Skitour. Ich hatte an meinem ersten Pausentag (dem dritten Tag der Reise) auf der anderen Talseite Handynetz gefunden: das Wettertelefon sagte voraus, dass sich der Wind am vierten Tag legen würde. Ob das tatsächlich geschieht, ist allerdings immer die Frage: nicht selten klingt die Wettervorhersage abends ganz anders, als noch am Mittag...


Die Nacht war sehr stürmisch gewesen, und als ich eine Stunde vor Sonnenausgang den Kopf aus der Tür steckte, sah ich außer wirbelndem Schnee nicht viel. Egal: ich packte alles zusammen, fegte noch schnell die nicht ganz so saubere Hütte, bevor ich mich noch vor 8 Uhr morgens auf den Weg nach Nord-Osten begab.



Der starke Westwind trieb mich vor sich her; ein Segen, denn diese fliegenden Schneekörner sind ziemlich unangenehm, wenn man sie ins Gesicht bekommt. Weil aber immer wieder die Sonne zwischen den Wolken hervorlugte und die Winterlandschaft herrlich in Szene setzte, blieb ich immer wieder stehen und bestaunte die Schönheit des über den Boden fegenden Schnees.











Was im obigen Bild aussieht, wie eine Luftaufnahme von weißen Dünen, sind etwa 10-15 cm hohe "Sastrugis" (im Schneefegen...). Das sind kleine Schnee-Dünen, die vom starken Wind geschaffen werden. Auf der Luv-Seite fräst der Wind die vorhandene Schneedecke ab (die Seite ist steinhart), und im Windschatten der entstandenen Erhebung lagern sich neue Schneekörner an (die Seite kann butterweich sein). Diese Sastrugis können ziemlich hinderlich sein beim Skiwandern und bringen definitiv viel Abwechslung in meinen Touren-Tag, sehen aber immer total schön aus!




Die Sicht war den ganzen Vormittag über immer wieder schlecht, weshalb GPS und Kompass mal wieder unverzichtbar waren. Als ich den Höhepunkt der Tagesetappe erreicht hatte, konnte ich von knapp 600 Meter Höhe die Hochspannungsleitung sehen, die südlich des Langjökull in Richtung Gullfoss abbiegt. Auch wenn ich ein bekennender Nicht-Fan von Hochspannungsleitungen bin (das war jetzt so gelinde ausgedrückt, wie möglich...), so war es in diesem Fall ein willkommener Anblick, weil ich endlich wieder ein Ziel hatte, auf das ich zulaufen konnte...



Von der Mittagszeit an wurde das Wetter immer besser. Der Wind legte sich langsam aber sicher, die Sonne schien und nur noch die hohen Berge hüllten sich in Wolken. Nach dem Mittagessen bestand der nächste Programmpunkt darin, mit dem Schlitten den 80 Meter steilen Mosaskarð runterzufahren, was Spaß machte, bis ich realisierte, dass der Hang plötzlich zu steil wurde, ich vom Schlitten purzelte und (mit dem Pulka im Schlepptau) einen zirkusreifen Salto hinlegte. Da lag ich dann, kopfüber im tiefen Pulverschnee versunken, und stellte zuerst fest, dass mir nichts wehtat (yeay!), und dass ich meine Brille verloren hatte. ZUM GLÜCK fand ich die ziemlich schnell wieder - denn ohne Brille bin ich blind wie ein Maulwurf!

Ich kämpfte mich dann durch den brusthohen Schnee zu meinem Schlitten durch: normal Gehen ging nicht, Krabbeln ging nicht, und ich probierte eine Art des Schneeschwimmens aus, aber auch nur mit mäßigem Erfolg... So einen krass-tiefen und überhaupt nicht tragenden Pulverschnee hatte ich noch nie erlebt, das machte voll Spaß! Der Pulka schien alles gut überstanden zu haben, auch der Inhalt war noch gut festgezurrt, inklusive meiner Ski. Ich krabbelte auf den Schlitten, und zusammen rutschten wir die letzten Meter des Hanges herab, bis es wieder 'normal' und flach weitergehen konnte. Der Blick zurück offenbarte, dass ich hier nie wieder runterfahren wollte! Das war meine bisher gefährlichste Fehleinschätzung - aber nun ja, man sieht halt von oben nicht immer alles, gerade und besonders, wenn alles so verdammt weiß ist. Und getreu dem 'þetta reddast'-Motto der Reise ist ja doch mal wieder alles gut gegangen...!
:-)

Der Rest des Tages war eine Wanderung durch ein Winterwunderland! Blauer Himmel, glänzender Schnee, kein Wind mehr und so warm, dass ich die Jacke ausziehen konnte. Dies allerdings war auch den Umständen zu verdanken, dass ich mich extrem anstrengen musste, um vorwärts zu kommen. Ich befand mich nun im Lee der Berge von Brekknafjöll und der Flugschnee der vergangenen zwei Tage hatte sich in dicken Schichten abgelagert. Das war kein 'normaler' Schnee, das waren feinste Eiskristalle, die sich nicht binden wollten. Ich sank auf meinen Ski gut 30cm tief in diesen lockeren Pulverschnee, und der Schlitten, der pflügte regelrecht hinter mir her. Es war, als sei eine Bremse angezogen, als sei der Pulka plötzlich mit Ziegelsteinen beladen... Und das, während mein Ziel schon in Sichtweite war - es war soooo frustrierend!



Diese Tagesetappe war mit 19 Kilometer recht lang gewesen, ich hatte fiese Blasen, war mit einem +60kg schweren Schlitten einen Steilhang runtergepurzelt, und kämpfte mich jetzt zwei Kilometer lang durch eine Art Treibschnee. Ach ja, und ich hatte an dem Tag meine Periode bekommen, klar, das passte ja wie die Faust auf's Auge... Ich kann auf jeden Fall schamlos behaupten, fix und alle gewesen zu sein, als ich endlich an der Hütte von Hagavatn ankam. Und ich war super dankbar, dass ich diesmal keinen Schnee schaufeln musste, weil die Tür sehr clever auf genau der richtigen Seite erhöht angebracht war. Ein Hoch auf 'ne richtig konzipierte und ausgerichtete Hütte!!!





Die Hütte Hagavatn (für 12 Personen) mit Plumpsklo und meinen Spuren im tiefen Pulverschnee.
Dass eine Person mit Schlitten solche sichtbare Spuren hinterlässt, ist eher
ungewöhnlich und lässt erahnen, wie tief der Schlitten eingesunken ist...
 
Und obwohl eine wunderbar sternklare Nacht und ein herrlicher Sonnenaufgang folgte, verbrachte ich sie in der Hütte - schlafend bzw. entspannend. An einen Ausflug konnte ich erst am folgenden Mittag denken: dann hatte ich wieder genug Energie, um die Umgebung zu erkunden. Da war es allerdings schon wieder bewölkt - das geht hier in Island ja immer schneller, als man gucken kann...

Ich hatte gar kein Problem damit, heute nur kleine Touren auf die umliegenden Hügel bzw. zum naheliegenden Wasserfall zu unternehmen. Meine Fersen wollte am liebsten keinen einzigen Schritt mehr tun, denn bereits am ersten Tag hatte ich mir die fiesesten Blasen meines Lebens gelaufen. Aber da mussten meine Füße jetzt durch: nur wegen Blasen umzukehren, kam überhaupt nicht in Frage!

Der Wasserfall Nýifoss nahe der Hütte Hagavatn
 
Nachmittags kamen, zu meiner doch recht großen Überraschung, dann plötzlich fünf Schneemobile vorbeigerauscht, auf Durchreise irgendwohin. Ich hörte sie, lange bevor ich sie sehen konnte, und ging raus, um zu gucken. Zwei von den Maschinen waren keine Schneemobile sondern ... Hmm, wie soll ich es beschreiben, eine Mischung aus Motorrad und Schneemobil? Sah interessant aus, hatte ich so noch nie gesehen. Sie fuhren in respektvollem Abstand an der Hütte vorbei in Richtung Langjökull - ich hörte sie noch eine halbe Stunde lang, sah sie aber nie wieder...

Abends dann schoben sich zwei Superjeeps durch den Schnee; ihre Balonreifen fast platt, um im Pulverschnee überhaupt vorwärts zu kommen. Sie standen bestimmt zwanzig Minuten lang vor der Hütte, natürlich mit laufenden Motoren, und unterhielten sich durch's offene Fenster. Ob das deren Verständnis von social distancing war? Drinnen saßen je ein übergewichtiger Mann mittleren Alters; einer hatte eine weibliche Beleitung auf den Beifahrersitz dabei - da wurden also alle Klischees bilderbuchmäßig bedient... Als ich das Datum kontrollierte, wurde mir vieles klar: es war ein sonniger, nicht-windiger Samstag. An Gutwetter-Wochenenden sind immer Isländer im Hochland unterwegs: schließlich müssen die teuren Maschinen ein paar Mal im Jahr standesgemäß genutzt werden...

Ohne Kontakt aufnehmen zu wollen, bulldozerten die beiden Monsterfahrzeuge dann weiter. Während ich in der Hütte Tagebuch schrieb, beobachtete ich sie dabei, wie sie noch 20 Minuten damit verbrachten, eine etwa 10 Meter hohe Steigung empor zu kommen: da war nämlich wieder 'Schwimmschnee' und kamen diese tonnenschweren Maschinen nicht mal eben so hoch. Ich begreife echt nicht, was diese Superjeepfans so interessant finden an ihrem Hobby. Alle paar Meter stecken sie fest und verbringen dann minutenlang damit, die Luft ihrer ohnehin schon platten Reifen abzulassen und vor- und zurück zu rollen, aus der Spur auszubrechen und es nochmal zu versuchen, und nochmal, und nochmal... Ne, das ist echt nichts für mich - ich laufe mir lieber Blasen und purzel Hänge runter! Ich und Superjeepbesitzer, das sind echt die entgegengesetzen Enden des isländischen Wintersport-Spektrums...

Als die Klimasünder dann auf nimmer Wiedersehen verschwanden, genoss ich die plötzliche Stille im menschenleeren Tal. Im Nachhinein kann ich sagen, dass dies die einzige Begegnung mit anderen Menschen innerhalb von zwei Wochen gewesen war. Schon verrückt, wie intensiv die Eindrücke, Geräusche und auch das 'Störungssempfinden' ist, wenn man nach langer Einsamkeit plötzlich mit anderen Menschen und Motoren konfrontiert wird.


Vom Hügel bei der Hütte hatte ich super Handyempfang und konnte die neueste Wettervorhersage anhören. Dieser Ort, Hagavatn, war ein Schlüsselpunkt meiner Wanderung: ich hatte überlegt, eventuell mehrere Nächte hier zu bleiben, um die wunderschöne Gegend zu erkunden. Zumal die Hütte total schnuckelig ist, mit einem echten Holzofen! Die Wettervorhersage war aber leider ziemlich schlecht: stürmisches Tauwetter und danach Neuschnee und starker Nordwind. Also beschloss ich, schnell weiter Strecke zu machen und die fast 40 Kilometer nach Hvítárnes im Eiltempo zurückzulegen. Am nächsten Morgen zog ich im Fast-Whiteout weiter: fest entschlossen, irgendwann zurückzukommen, um dann bei möglichst gutem Wetter hier mehr Zeit zu verbringen.




Meine Befürchtungen, wieder auf Pulverschnee zu stoßen, bewahrheiteten sich zum Glück nicht, im Gegenteil: der Schnee trug prima und ermöglichte es mir, das Biskupstungnaafrétt an dem Tag 350 Höhenmeter aufzusteigen und dennoch 18,5 Kilometer zurückzulegen. Allerdings wurde das Wetter und damit die Sicht immer schlechter. Die letzten Kilometer war ich wieder im totalen Whiteout unterwegs und baute mein Zelt schließlich im Schneetreiben auf knapp 700 Meter Höhe auf. Die Nacht schlief ich kaum, weil das Zelt von Windböen geschüttelt wurde und feinster Flugschnee wie Sandkörner auf die Plane prasselten. Man kann dann wählen zwischen Pest und Cholera: entweder, man lässt die Lüftungen offen und damit den Flugschnee ins Zelt, oder aber man verschließt die Lüftungen und wird plitschnass. Die Feuchtigkeit meiner Atmung kann dem Zelt dann nämlich nicht entweichen und kondensiert an der Zeltplane und dem Innenzelt. Die Sturmböen schütteln diese Kondensations-Tröpfchen wie Regen auf einen herunter: in einem Schneesturm wird folglich alles nass!
Den wenigen Schlaf fand ich sowieso nur, weil ich mich mit meiner Goretexjacke zudeckte, damit mein Gesicht nicht immer von Tropfen getroffen wurde... Bah! In Momenten wie diesen fragt man sich schon, was zur Hölle einen je dazu bewegt hat, sich mutterseelenallein in solche Situationen zu begeben...

Am nächsten Morgen ging es früh weiter; Müdigkeit und Kopfschmerzen als stete Begleiter. Die Sicht war gleich null, der Wind weiterhin stark, als ich mich Schritt für Schritt den Pass 'Bláfellsháls' hinabtastete und die Autopiste 35 suchte, die Hochlandpiste 'Kjölur'. Wenn gestern Superjeeps bei Hagavatn waren, würden auch hier Autos gefahren sein, und ich hoffte, den Spuren folgen zu können, denn das war einfacher, als mit GPS und Kompass zu navigieren. Meine Hoffnung erfüllte sich: die tonnenschweren Superjeeps mit ihren riesigen Balonreifen hatten bis zu ein Meter tiefe Rinnen in den Schnee gepflügt, die sich jetzt erst langsam wieder füllten. Mein Pulka liebte diese Spuren, der war gar nicht mehr raus zu bekommen... Und ich freute mich besonders über die Wegmarkierungen, die endlich Akzente in dieser ansonsten komplett weißen Welt setzten. Den gelben Plastikstecken konnte ich so lange folgen, bis ich endlich aus den Wolken herauskam, und auch dann boten mir die Markierungen willkommene visuelle Anhaltspunkte im schier endlosen winterlichen Weiß.

Mittags hatte ich die Brücke über die Hvítá erreicht, und von dort aus waren es 'nur noch' 10 Kilometer bis zur Hütte in Hvítárnes. Bei der wollte ich unbedingt heute noch ankommen, denn ab dem Abend war Sturm angesagt. Und kaum, dass ich den Fluss passiert hatte, begann es dann auch, zu regnen. Fotos machte ich an dem Tag so gut wie keine, und Pausen auch nicht - es ging nur Schritt für Schritt weiter, dem Ziel entgegen...




Die Hütte in Hvítárnes ist alt und zugig, aber auch echt schnuckelig, und sie bot mir hervorragenden Schutz vor den Elementen. Obwohl es kein Gas mehr gab, um Ofen oder Herd zu bedienen, konnte ich all meine Dinge trocknen; denn mit meinem eigenen Benzinkocher konnte ich das kleinste Zimmer wunderbar erwärmen und die wichtigsten Dinge trocknen, wie etwa meine Jacke, Hose, Schuhe und meinen Schlafsack. Alle anderen nassen Sachen, unter anderem mein Zelt, hängte ich unter'm Dach auf, wo sie im Laufe der nächsten zwei Tage langsam aber sicher auch ohne zusätzliche Wärme trockneten.

Blick von der Hütte über den Bach Tjarná hin zum Leggjabrjótur und dem Gletscher Langjökull



  
In Hvítárnes blieb ich insgesamt drei Nächte. Draußen regnete es, teilweise in Strömen, und ich konnte dem Schnee beim Schmelzen regelrecht zusehen. Plötzlich erschienen vor der Hüttentür die Umrisse eines Baches im Schnee, den hatte ich bei meiner Ankunft gar nicht gesehen! Während der ersten beiden Nächte/Tage schmolz hier gut ein halber Meter Schnee: im folgenden Bild kann man  sehen, wie viele Steine plötzlich sichtbar wurden. Ich muss zugeben, dass ich echt Bammel hatte, ob mir wohl hoffentlich noch genügend Schnee für die Weiterreise erhalten blieb!

Ein 'vörður', ein 'Wächter'. Es ist eine alte Streckenmarkierung für die damalige Pferde-Route des 'Kjalvegur hinn forni'

Am 1. April, meinem zweiten Pausentag in Hvítárnes, drehte der Sturmwind von Süd auf West. Die Temperaturen fielen wieder unter den Gefrierpunkt und das Wetter wurde etwas besser. Der weiterhin heftige Wind brachte vom Gletscher Langjökull nun wieder Flugschnee, der sich in sehr fotogenem Schneefegen manifestierte. So unangenehm das Ganze auch ist - es sieht einfach nur wunderschön aus! Und so fotografierte ich, wann immer die Sicht es zuließ: aus dem Inneren der Hütte durch die offene Tür hindurch, später aus dem Windschatten der Hütte, und am Abend des zweiten Pausentages dort sogar auf einer einstündigen Erkundungstour. Die fotogenen Momente waren auf dieser Tour rar - aber wenn sie dann eintrafen, waren sie einfach nur atemberaubend schön!!!