Samstag, 7. März 2015

Hvanngil - die Rettung und ihre Folgen

Montag der 23. Februar war frisch angebrochen, der siebte Tag meiner Skiwanderung. Ich hatte gerade die dritte Nacht in Hvanngil verbracht, in der Sicherheit der sturmumtosten Hütte. Der Wind hatte etwas nachgelassen, dennoch habe ich sehr unruhig geschlafen. Würde ich heute wie erhofft weiterziehen können, oder würde ich einen weiteren Tag in der Hütte ausharren müssen? Wie umständlich würde sich die Querung der Bláfjallakvísl gestalten? Würde ich auf dem Weg nach Emstrur endlich wieder ein Telefonnetz finden, um ein kleines Lebenszeichen per SMS verschicken zu können? Fragen über Fragen und eine gewisse Unruhe quälten mich, die mich nicht einschlafen ließ und die ich mir nicht wirklich erklären konnte.

Nach nur wenigen Stunden Schlaf wachte ich um ziemlich genau 5 Uhr Morgens erschrocken auf. Mein Schlafzimmer war hell erleuchtet und rot-blau gekleidete Gestalten mit grellen Kopflampen stapften in die kalte Hütte.
"Kerstin?" fragten sie, "Bist du Kerstin?"
Ich war völlig verwirrt. Träumte ich? War wirklich jemand mitten in der Nacht bei dem Wetter nach Hvanngil gereist? Und wieso kannten die meinen Namen - und trugen die rot-blaue Kleidung der isländischen Bergrettung? Und als ich mir diese Frage stellte, wusste ich schon Bescheid.
Verdammt, die waren wegen mir hier!


Die sechs Männer, die im Halbkreis um mich herumstanden, waren in der Tat Mitglieder der Bergrettung - und sie waren wirklich nur wegen mir angereist. Eine große Suche sei schon am Samstag Abend gestartet worden, sagten sie mir: weil mein SPOT ab Freitag Mittag nicht mehr gesendet habe. Sie dachten, ich wäre in die Bláfjallakvísl gefallen oder hätte mich verletzt. Aufgrund des extremen Sturmes hatten sie sofort eine landesweite Rettungsaktion ausgerufen.



Diese Schocknachricht musste ich erst einmal verdauen. Während meine sechs "Retter" froh waren, dass sie mich lebendig gefunden hatten, tranken sie erstmal Kaffee und ruhten sich aus. Sie waren hundemüde, hatten die ganze Nacht damit verbracht, mit ihren zwei Schneekettenfahrzeugen gegen den Sturm anzukämpfen. 10 Stunden hatten sie für die Strecke gebraucht, die sie normalerweise in etwas über einer Stunde zurücklegen. Ursprünglich wären sie ein Fahrzeug mehr gewesen, aber das wäre kaputt gegangen. Drei andere Kettenfahrzeuge hätten versucht, über den Mýrdalsjökull nach Hvanngil zu kommen, hätten aber aufgeben müssen. Ein Team aus Jeeps war meinen Spuren von Skaftártúnga aus gefolgt, hatte aber auch umdrehen müssen. Und genau in dem Moment rief die Einsatzleitung alle anderen geplanten Einsatzkräfte zurück. Ein Team aus Schneemobilen hätte am Morgen starten sollen, genau wie auch der große Rettungshelikopter von Landsbjörg, der nach meinem Handysignal suchen sollte.


Ich setzte heißes Wasser für neuen Kaffee auf,
und währenddessen schauten wir uns mein SPOT an. Alles wirkte in bester Ordnung, es blinkte, tat wie immer. Warum hatte es die vergangenen Tage über nicht gesendet? Waren die Batterien leer, wurde gefragt? Ich verneinte, hatte beim Mælifell die Batterien gewechselt, nur um sicher zu sein. Ob ich aus dem Haus gesendet habe, mit einem Metalldach über mir, fragten sie. Auch das konnte ich verneinen - ich war ja nicht blöd! Natürlich hatte ich seitdem auch aus dem Freien Signale verschickt. Es war alles extrem seltsam - und mir total unangenehm.

Meine "Retter" waren guter Laune; ihnen schien die ganze Aktion trotz Müdigkeit großen Spaß zu machen. Ob ich mit zurückkommen wolle, fragten sie: ich verneinte. Ich wollte diese Tour gerne beenden, fragte lediglich nach der Wettervorhersage. Die war solala, sagten sie mir, heute okay, morgen ein weiterter Sturm. Wir überlegten, dass ich mich ja jetzt vom Handy melden und die Funkgeräte in den Hütten nutzen könne, um mein tägliches Lebenszeichen zu geben. Aber als wir das planten, meldete sich die Einsatzleitung aus Reykjavík: nichts da, ich solle mit in die Zivilisation kommen. Die Wetterprognose sei nicht gut, und überhaupt: sie wollten mich partout nicht im Hochland lassen. Die Retter hatten ein Recht darauf, einen Geretteten mitzubringen!

In dem Moment protestierte ich nicht. Verdammt, sie hatten eine riesige Suchaktion nach mir gestartet, leider völlig unnötig - klar, dass ich mich dem Wunsch der Einsatzleitung nicht widersetzte. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, ließ die Männer aber noch etwas länger warten, denn: die Jungs hatten natürlich weder ihre Schuhe ausgezogen noch die Eingangstüre geschlossen. Die ganze Hütte war voller Schnee, und das konnte ich nicht so lassen! Ich putzte die Hütte so schnell ich konnte, schmiss bestimmt drei Eimer voll Schnee aus der Türe, verschloss den Eingang und versteckte den Schlüssel wieder. Und nachdem ich außen auch die Gasflasche wieder zugedreht hatte, konnte es losgehen.








Als wir starteten, war es noch gänzlich dunkel; im Laufe der Fahrt aber begann langsam die Dämmerung. Meine Ausrüstung hatten sie im hinteren Waggon der ersten Raupe verstaut, ich saß im Fahr-Abteil der zweiten Raupe. Mit 20-40km/h rollten diese Ungetüme über den Schnee. Die von mir so gefürchtete Bláfjallakvísl war gar kein Problem: der Sturm hatte den am Samstag noch offen fließenden Fluss gänzlich geschlossen. Man sah nur eine Senke im Schnee; die tonnenschweren Kettenfahrzeuge rollten langsam drüber, brachen hinten kurz ein, aber das war offenbar gar kein Problem. Weiter ging es, an Mosar vorbei, querten den reißenden Fluss Markjarfljót über die enge Brücke, und dann ging es am Einhyrningur entlang ins breite Flussbett der Markarfljót.


Die letzten Kilometer vor Ankunft in der Fljótshlið waren reiner Eismatsch: die Raupen fuhren durch teils hüfttiefen Eisschlamm. Ich bin mir nicht sicher, wie ich dieses Stück zu Fuß bewältigt hätte. In ein paar Tagen (und nach dem nächsten Sturm) wäre es vielleicht kälter gewesen oder aber hätte mehr Schnee gelegen, sodass ich aufs steinige Ufer hätte ausweichen können. In dem Moment war es definitiv angenehmer, diesen Eismatsch im Fahrzeug zu durchqueren.

Kaum, dass wir auf einer richtige Straße angekommen waren, wurde umgeladen: zwei Lastwagen warteten auf die Schneeraupen und ein Kleinbus auf uns Insassen. Alles war perfekt durchorganisiert. In der Ortschaft Hella stand ein Gespräch mit einem sehr freundlichen Polizisten an, der mich bat, ihnen mein SPOT dazulassen, zur Untersuchung. Ein weiteres kurzes Interview mit einem Verantwortlichen der Bergrettung folgte. Ich bekam viel Lob zu hören: über die Informationen, die ich meiner Freundin Arianne aber auch online auf www.safetravel.is und der SPOT-Seite hinterlassen hatte, über meine Routenplanung, mein Verhalten, meine Ausrüstung. Mehr als einmal bekam ich zu hören, dass sie sich in Anbetracht der Situation und Suche relativ wenig Sorgen gemacht hatten, weil sie den Eindruck hatten, dass ich mir im Ernstfall sehr gut selber hätte helfen können. Dennoch retten die Isländer lieber schneller als zu spät, und waren in dem Falle sehr froh, dass alles einem scheinbar kaputten Gerät zu verschulden und nichts Ernsthaftes passiert war. Nichts desto trotz war mir das Ganze natürlich total unangenehm. So viele Menschen, so viel Einsatz von Maschinen und Treibstoff, und alles in meinem Namen. Genau das hatte ich doch durch das Mitnehmen dieses vermaledeiten SPOTs zu verhindern versucht!

Schnell ging es von Hella aus weiter. Meine "Retter" kamen aus Kópavogur und wollten entweder ins Bett oder zur Arbeit. Es arbeiten ja alle freiwillig bei der Bergrettung, das muss man sich immer wieder vor Augen halten! Für diese Jungs war der Anreiz, diese teuren Maschinen fahren zu dürfen ohne irgendetwas dafür zahlen zu müssen oder gar an die Benzinkosten zu denken. Die Einsätze der Bergrettung sind für die Geretteten komplett umsonst: von daher kamen glücklicherweise keine verpflichtenden Kosten auf mich zu. Die isländische Bergrettung finanziert sich (dank der vielen freiwilligen Helfer) komplett durch Spenden und den Verkauf von Feuerwerkskörpern. Klingt verrückt, aber funktioniert landesweit - zumindest noch. Die steigende Anzahl an Touristen und damit die zunehmende Frequenz der Einsätze bringt die Bergrettung langsam an ihr Limit. Aber das ist ein anderes Thema...

Sobald wir wieder in der Zivilisation waren, wurde mir eines klar: diese Rettung, die keine gewesen war, hatte landesweit für Aufsehen gesorgt. Die Medien rissen sich um ein Interview mit mir. Allein auf der zweistündigen Fahrt von Hella nach Reykjavík bekam ich sechs Interviewanfragen. Ich hätte sie sicherlich ablehnen können, aber erstens wollte ich, dass die Medien meine Geschichte erzählten und sich nichts aus den Fingern saugten. Zweitens wollte ich das Licht auf die eigentlichen Helden dieser Situation richten: die isländische Bergrettung. Ich finde es absolut unglaublich, dass so viele Leute jederzeit Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Fremde zu retten, und das in mehreren hundert Einsätzen jährlich. Der Fokus liegt hinterher aber immer auf den Geretteten, nie auf den Rettern. Dem wollte ich entgegenwirken. Also sagte ich zu und gab noch im Auto drei Interviews am Telefon - allerdings nicht, bevor ich mit meinen Eltern und meiner Freundin Arianne gesprochen hatte, die sich, wie so viele, große Sorgen um mich gemacht hatten. Und das, während ich eine fantastische Zeit in Hvanngil hatte - die ganze Situation war so traurig ironisch!

Bild: DV ehf / Sigtryggur Ari
Als ich dann am Hauptquartier der Bergrettung Kópavogur aus dem Bus kletterte, warteten die Journalisten da schon auf mich: zwei Fernsehkameras und drei Menschen mit Fotoapparaten hielten mich bestimmt eine Stunde lang in Schach. Meine Güte... Selbst, als ich dann am Mittag wieder bei meiner Freundin angekommen war, war der Medienspuk noch nicht vorbei: die staatliche Fernsehanstalt RUV kam auch vorgefahren, ungefähr eine Minute, nachdem ich gespottet hatte, dass mir jetzt nur noch das Staatsfernsehen fehlen würde...

Bild: Júlía Guðmundsdóttir Gähwiller
Am Abend und am darauffolgenden Morgen war ich in allen Nachrichten und Zeitungen des Landes zu sehen. Die Vermisste, die gar keine Hilfe brauchte. Die Gerettete, die gar nicht gerettet werden wollte. Spätestens ab dem Zeitpunkt kennt mich ganz Island - und das meine ich wirklich so. Ich bin in der vergangenen Woche von sechs Fremden angesprochen worden, die genau wussten, wer ich war. Aufmerksamkeit, die ich gerne vermieden hätte, auch wenn ich sehr positiv aus dem ganzen hervorgekommen bin.

Auch wenn ich natürlich wünsche, dass diese ganze Rettung nicht geschehen wäre, muss ich sagen, dass ich kein schlechtes Gewissen habe. Ich habe nichts falsch gemacht und in bestem Wissen gehandelt. Ich habe die ganze Zeit über nur richtige Entscheidungen getroffen: dass dieses SPOT kaputt gehen würde, das konnte ja niemand ahnen. Klar, im Nachhinein ist man immer klüger. Ich hätte das Notfunkgerät in Hvanngil nutzen können, um von mir hören zu lassen. Aber wieso, wenn ich doch glaubte, dass mein Spot 3-4 mal täglich senden würde? Ich hätte andere Technik mitnehmen können, ein Satellitentelefon oder zumindest einen Sender, der auch Nachrichten empfangen kann. Beides hielt ich für nicht notwendig, da ich doch zwei Geräte bei mir trug, die Nachrichten versenden konnten: SPOT und mein Handy, und die genügen ja in den allermeisten Fällen. Dass der unwahrscheinliche Fall der Fälle eintreten würde - tja, shit happens. Noch einmal soll das aber nicht geschehen - und deswegen werde ich in Zukunft auf andere Technik umsteigen, auf zwei Geräte parallel, das ist wohl die einzige Alternative. Vertraue niemals nur einer Technik, alles kann kaputt gehen. Das ist die große Lehre, die ich daraus ziehe.

Das SPOT ist übrigens wirklich kaputt: der "OK"-Knopf sendet nur noch sporadisch. Arianne hat es letztes Wochenende auf der Kaldidalur-Strecke ausprobiert, schön exponiert auf Bergspitzen und im Flachland: keines der sechs Signale kam an. Vielleicht ist es ein Wackelkontakt, ich weiß es nicht, ich will das Gerät zum Hersteller senden, wenn die endlich auf meine Anfragen reagieren. Die sagten nämlich bisher nur, dass das Gerät extrem zuverlässig sei und sie einen mechanischen Fehler ausschließen. Nun ja, meiner Definition nach ist ein nicht mehr sendender Sender kaputt. Und er hat ganz schön viele Kosten verursacht - zum Glück aber nicht mehr als das. Niemand wurde verletzt, niemand ist gestorben. Ich kann deswegen nur sehr dankbar sein. Und bin es auch!











1 Kommentar:

  1. Ich hatte Dir schon mal auf Facebook deswegen meine Meinung gegeigt, doch diesen Satz musst Du mir erst mal erklären...: "auch wenn ich sehr positiv aus dem ganzen hervorgekommen bin...."

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