Samstag, 14. Januar 2012

Die Schönheit des Eises

Nachdem die Pläne für Sylvester in Landmannalaugar nun endgültig aufgegeben worden waren, musste eine neue Alternative her. Während viele Isländer und fast alle Touristen über den Jahreswechsel in die Hauptstadt reisten, nahm ich am letzten Tag des alten Jahres den letzten Bus gen Osten und überraschte Siggi, einen alleinstehenden Kleinbauern, der genau zwischen Skaftafell und Jökulsárlón wohnt. Im Sommer fährt Siggi den Bus, der täglich zwischen Skaftafell und Landmannalaugar pendelt - daher kenne ich ihn. Nicht gut, aber gut genug, um mich über Sylvester bei ihm in seinem großen Farmhaus einzuquartieren.

Siggi ist ein typischer Isländer vom Land. Aufgewachsen im "richtigen" Island fernab der Großstadt ist er mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben und erarbeitet sich Geld erst, bevor er es ausgibt. Er hat er den Hof seiner Eltern übernommen, ist nicht wie seine Geschwister nach Reykjavík abgewandert und hat sich genügsam dem Jobbedarf der Region angepasst: er ist Busfahrer und Milchwagenfahrer geworden. Eine Frau hat er nie finden können, wie sehr viele Menschen vom Land: ich würde schätzen, dass mindestens ein Viertel aller isländischen Bauern alleinstehende Männer sind. Wie Siggi. Er hütet stoisch seine neun Kühe und fünf Bullen, die dann gemolken und gefüttert werden, wenn es ihm passt, nicht umgekehrt.

Dies ist Siggi wie er leibt und lebt: ein bescheidener und sehr lebensfroher Zeitgenosse!

Den Sommer befindet sich der Kleinbauer im Dauerstress und jongliert Heuernte und Touristensaison fast ohne Schlaf, in der er wie gesagt täglich von Skaftafell nach Landmannalaugar und zurück fährt. Im Winter dagegen gibt es kaum Arbeit, untätig ist er aber nicht gänzlich. Frühmorgens um 6 Uhr fährt er die gesamte Strecke zwischen Skeiðarársandur und Jökulsárlón ab, das sind hin und zurück mal eben 160 Kilometer. Er ist verantwortlich für diese 80 Kilometer der Ringstraße und muss dem Straßenverkehrsamt im Winter täglich berichten, wie der Zustand des Weges ist. Er schätzt die Problemstellen ein, bewertet sie nach bestimmten Kriterien (die dann im Internet der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden) und fordert beispielsweise das Schneeräumfahrzeug aus Höfn an, beziehungsweise kümmert sich persönlich um das Streuen von Sand.

Das alles erklärte er mir, als ich ihn am Neujahrsmorgen auf eben jener Straßenzustandskontrollfahrt begleitete und mich noch weit vor Sonnenaufgang bei Skaftafell absetzen ließ. Ich hatte keine großen Erwartungen an den Tag, da ich nicht einschätzen konnte, wie die Schnee- und Eisverhältnisse sein würden. Nach Weihnachten hatte es hier 50 Zentimeter Neuschnee gegeben, die dann aber an einem Tag komplett wegregneten, bevor es am letzten Dezembertag wieder etwas geschneit hatte. Typisches Islandwetter eben.

An diesem Tag aber zeigte sich kaum eine Wolke am Himmel und erlebte ich um 11 Uhr einen wunderschönen Sonnenaufgang. Fröhlich stapfte ich durch die verschneite Landschaft und versuchte mich den Ausläufern des Vatnajökull so weit zu nähern, wie es eben möglich war. Mich reizten die Formen und Farben des Gletschers, den ich aber nicht nicht betreten konnte, weil mir das Eis auf den Lagunen davor nicht fest genug erschien. Teilweise hatten sich große Regenwasserseen gebildet oder war offenes Gletscherwasser zu sehen. Nichts desto trotz gelangen mir einige wunderschöne Bilder von Strukturen und Formen des grünlich-grau-blauen Eises, das im Licht der tiefstehenden Sonne ein paar Minuten lang leuchtete, wie trübes Glas.

Viel zu schnell zwang mich die einbrechende Dunkelheit zur Rückkehr: liebend gerne hätte ich nochmal acht Stunden hier verbracht! Aber was sprach schon dagegen? Und so kehrte ich drei Tage später an denselben Ort zurück. Die Temperaturen hatten sich seitdem beständig unter dem Gefrierpunkt befunden: und waren die Lagunen am Gletscherrand wieder so stark zugefroren, dass sie mein Gewicht auch nach mehrmaligem Hüpfen geräuschlos aushielten. So bekam ich, endlich, Zutritt zu den Gegenden, die mir sonst immer verwehrt gewesen waren! Plötzlich befand ich mich mitten im türkisfarbenen Eis der sich unablässig verändernden bewegenden Gletscher Islands, in einer Wunderwelt aus Formen und Schattierungen.

Einen ganzen Tag lang turnte ich mit Kamera und Steigeisen auf und um den Gletscher herum, erkletterte mir Gletscherspalten und kam dem ächzenden, knarrenden und knallenden Eis dabei so richtig nahe. Und dann, als ich schon gar nicht mehr daran glaubte, fand ich, wonach ich zwei Tage lang gesucht hatte: meine erste isländische Eishöhle!

Was ich mir da staunend erkletterte, war ein farbiger Palast aus Eis, ein sanft-grünlich durchscheinendes Kunstwerk aus gefrorenen Wellen. Es war atemberaubend schön!

Schon seit Jahren hatte ich geträumt, dies endlich einmal erleben zu dürfen: solche unglaublich schönen Höhlen gibt es in Island gar nicht so selten, aber man kann sie kaum betreten, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Gletscher Islands sind sehr warme Gletscher, fließen sehr schnell und sind extrem instabil. Im Sommer befinden sie sich meist unerreichbar jenseits von Lagunen und reißenden Gletscherflüssen: nur im Winter, nach längeren Kaltwetterperioden, sind sie begehbar und einigermaßen sicher für diejenigen, die sich mit isländischen Gletschern auskennen. Dies sage ich so ausdrücklich, weil in den letzten Jahren mehrere Menschen auf der Suche nach und beim Bestaunen von Eishöhlen zu Tode kamen. Natur kann lebensgefährlich sein, wenn man nicht weiß, was man tut!

Ich wusste auch dank des neuntägigen Gletscherkurses vergangenen Herbstes schon relativ genau, in welches Risiko ich mich begab, und genoss an diesem Tag furchtlos, dass sich mir ein langersehnter Traum erfüllte! Der Aufenthalt in diesem gefrorenen Tunnel war wie ein Ausflug in eine andere Welt! Jeder Blickwinkel änderte die Reflexe und Muster im durchscheinenden und gleichzeitig spiegelnden Eis, das unter meiner Berührung selbst jetzt im Winter sofort zu tauen begann. Es war ein wahres Kleinod, und ein extrem vergängliches noch dazu. Diese Höhle wird den nächsten Sommer wohl kaum überleben: zu warm ist das Eis, zu beweglich der Gletscher. Was hätte ich darum gegeben, ihre Schönheit im Sonnenschein zu betrachten! Deshalb aber ist mir eines jetzt schon völlig klar: dies war ganz bestimmt nicht meine letzte Suche nach Eishöhlen! Höhlenforschung kann ich ab sofort neben Nordlichtjagd und Vulkanfieber zu meinen größten Hobbies zählen!

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