Donnerstag, 18. Mai 2017

Svalbard im Mai

Ein kurzer Blogeintrag diesmal, einfach weil ein Lebenszeichen mal wieder dringend notwendig ist. Bei mir ist an sich alles gut, ich bin momentan wieder unterwegs in der hohen Arktis. Nach einer spannenden, Flugzeug-vermeidenden Reise nach Bodø in Nordnorwegen ging es bei heftigem Seegang hinauf zur Bäreninsel - kein Spaß, besonders nicht für jene gestraften Menschen, die trotz Jahren auf Schiffen immer noch seekrank werden (Beispiel: ich).
Aber zum Glück sind die nicht-seekranken Momente doch immer weit in der Überzahl!
 
Die Bäreninsel, ein großer, vulkanischer Felsen mitten im kalten Nordmeer, präsentierte sich sturmumtost und schneebedeckt. Eine Landung kam nicht in Frage, dafür eine kurze Zodiac-Cruise bei -12°C und starkem Wind. Spannend - aber alle waren froh, sich danach wieder ins warme Schiff zurückziehen zu können.


Spitzbergen präsentiert sich momentan im Winterkleid: eine Menge Wind, eine Menge Schnee, Temperaturen von -1°C bis -8°C - und einer Menge Packeis. Es ist verrückt, denn der Winter war viel zu warm, und fast scheint es, als würde er jetzt schnell doch noch eintreffen wollen, bevor der Sommer überhand nimmt.


Alles ist weiß: alter Schnee, frischer Schnee, und auch die meisten Polarfüchse sind noch fluffig-weiß im Winterkleid :)




Die Strände sind auch noch dick von vereistem Schnee bedeckt, weshalb die Walrosse noch überall auf Eis liegen - oder schwimmen, wie dieses neugierige Männchen, das im Magdalenefjord die Zodiacs besuchte.


Spitzbergen selbst ist momentan noch von Packeis umgeben, nur die obere Westküste ist mit dem Boot erreichbar. Selbst der Hornsund, der südlichste Fjord auf der Westküste, war dicht gepackt mit Eis, das mit der Meeresströmung von Osten aus hinübergetragen wurde.

          
Man kann dennoch einiges unternehmen, ist aber (wie immer) vom Zufall abhängig. Das Eis ist wahnsinnig dicht dieses Jahr und es sind so gut wie keine Tiere zu finden: extrem wenig Robben, und noch weniger Eisbären. Aber dafür ein für mich ziemlich besonderes Tier: eine Klappmütze!



Diese Robbenart kommt nur sehr selten nach Spitzbergen, weswegen es eine echte Überraschung war. Dieses hübsche Männchen hat regelrecht posiert für uns und einmal sogar seine Nase aufgeblasen: eine Drohgebärde, wir waren ihm in dem Moment wohl zu nah und zu groß. Echt verrückt, was die Natur sich so alles einfallen lässt... :)


Montag, 2. Januar 2017

Silvester in Reykjavik

Ich bin mit der Aufarbeitung meines herbstlichen Islandaufenthaltes noch nicht fertig, dennoch muss ich kurz einen aktuellen Beitrag einschieben: und zwar über den Feuerwerks-Wahnsinn in Reykjavík.

Da ja generell immer alles anders kommt, als man/ich es so denkt, bin ich momentan in Islands Hauptstadt und versuche, meine plötzlich wieder-aufgeflammten Rückenprobleme auszukurieren - so weit das bei Bandscheibenproblemen halt geht. Spannende Ski-Touren kann ich deswegen zwar leider momentan nicht unternehmen, dafür aber blicke ich auf eine wirklich sehr schöne Zeit mit meiner Familie hier in Reykjavík zurück.

Silvester allerdings war ich als Haus-Sitter alleine mit mir anvertrauten Vierbeinern und eierlegendem Federvieh. Wer Haustiere hat, der weiß, was für ein absoluter Horror unsere blöde Silvester-Knallerei für fast alle nichtmenschlichen Wesen ist. Hier in Island ist das nicht anders, hier spricht nur niemand drüber. Es war aber interessant, zu beobachten, dass die Wildvögel genau drei Tage vor Silvester aus Reykjavík verschwanden. Es gibt ja generell immer mehr Graugänse und Singschwäne, die den ganzen Winter in Island bleiben, genau wie auch immer mehr Singvögel wie Drosseln und Stare - Klimaerwärmung und mehr Bäume sei Dank. Und diese Tiere waren drei Tage vor Silvester einfach weg. Keine Gänse mehr grasend auf den Grünflächen. Keine Schwäne mehr auf dem Tjörnin. Und bei jedem Feuerwerk stob ein Schwarm kleinerer Vögel auf und flog hektisch umher. Arme Viecher...


Am 28. Dezember, drei Tage vor dem Jahreswechsel, begann in Island der Verkauf von Feuerwerkskörpern: und damit unweigerlich auch das Zünden von Feuerwerken. Diese kauft man vor allem bei der Bergrettung, die sich aus irgendeinem mir völlig ominösem Grund diese Nische ausgesucht hat. Mit Erfolg: der Erlös aus den Verkäufen dieser drei Tage bildet die Haupteinnahmequelle der Bergrettung. Wohl auch deswegen hat das Zünden von Feuerwerk in Island definitiv keinen schlechten Ruf - schließlich unterstützt man mit dem Einkauf doch einen guten Zweck.

Bild: Víkurfréttir, www.vf.is




 
In Deutschland ist das nicht angemeldete Nutzen von Feuerwerken ganz stark limitiert:
nur am 31. Dezember und 1. Januar ist dies gesetztlich erlaubt. Ganz anders in Island: hier streckt sich die Zeitspanne der erlaubten Feuerwerke vom 28. Dezember bis zum 6. Januar. Das sind 10 volle Tage! Und das muss ausgenutzt werden: in dem Moment, in dem der Verkauf des Feuerwerks beginnt (an besagtem 28. Dezember), startet auch die Knallerei - auch schon tagsüber, wenn man doch eigentlich kaum etwas sieht. Dabei rede ich hier nicht von Kindern, die gelegentlich Böller auf Straßen zünden, sondern von teuren Batterien, die mal eben 30 bis 100 Schuss in die Luft pusten und 30-400€ pro Stück kosten. Aber die Reykvíkingar sind völlig Feuerwerks-verrückt und steigern ihre Aktivität kontinuierlich bis zum 31. Dezember: dem Tag des großen Feierns.

Feuerwerk neben der Seltjarnarneskirkja




   
Der letzte Tag des Jahres ist ziemlich durchgetaktet. Der Abend beginnt mit der Áramótabrenna, dem Silvesterfeuer. Allein im Großstadtgebiet wurden 17 Scheiterhaufen errichtet, zu denen die Allgemeinheit ihr Holz bringen konnte, vor allem Paletten, Gartenmüll und Weihnachtsbäume.

Ich bin um 20:30 Uhr zu einem der größeren Feuer gegangen: bei Ægisíða in der Nähe des Inlandsflughafens. Von überall strömten die Menschen herbei: es war ein Familienfest, mit einer Menge aufgeregter Kinder, fackeltragender Erwachsener und mit Böllern bewaffneter Jugendlicher. Und dann zündete die Feuerwehr den riesigen Holzhaufen an: begleitet von klatschendem Jubel der vielen Schaulustigen.


Auffallend war die große Anzahl von Ausländern, die bei all diesen Aktivitäten anwesend waren - und die gefühlsmäßig zahlenreicher waren, als Isländer. Ich habe viel Französisch gehört, ein bisschen Deutsch, eine Menge Englisch (die mit Abstand meisten Touris waren Briten und Amis) und ziemlich viel Asiatisch (Chinesen stellen das Gros der Asiaten, gefolgt von Japanern). Gut, jetzt liegt dieses Feuer in der Nähe der Hochschule, das heißt dieser Teil Reykjavíks ist ohnehin internationaler, als andere. Dennoch: die Menge an Nicht-Isländisch, die ich an dem Abend hörte, traf mich unerwartet.

Zu der verrücktesten Interaktion des Abends kam es, als ich das obere Bild fotografierte. Während ich mit dem Tele-Objektiv das Feuer in Szene setzte, etwa 50 Meter vom Fußweg entfernt alleine am dunklen Meeresufer stehend, kam eine Gruppe Asiaten gezielt zu mir gestapft und fragte mich, ob ich Nordlichter fotografieren würde. 

Hä?

Nach meiner Antwort, dass dies nicht der richtige Ort für Nordlichtfotografie sei, weil man sie aufgrund der Licht- und Luftverschmutzung nur sehr schlecht sehen können würde, kam von der ganzen Gruppe ein erstaunt-entrüstetes "Ooooh?" - und dann trollten sie sich und eilten dem Feuer entgegen.

Diesbezüglich will ich euch die neuesten Daten zum Jahr 2016 nicht vorenthalten. Die folgenden beiden Grafiken zeigen die von Islands Flughafen Keflavík abreisenden Ausländer: keine Isländer und auch keine Durchgangsflüge, sondern echte "Touristen". Und es zeigt sich, dass die Prognosen übertroffen wurden: in den vergangenen 12 Monaten sind 39% mehr Touristen nach Island gekommen, als im Jahr zuvor. Island wurde also im Jahr 2016 von 1.756.000 Menschen besucht und bereist - und das sind nur die vorläufigen Zahlen vom Flughafen Keflavík.

Grafik: Tótla I. Sæmundsdóttir, Quelle: www.visir.is
                      
Zusammen mit den ganzen Kurzzeit-Besuchern der großen Kreuzfahrtschiffe sowie den Passagieren der Autofähre Norröna müssten 2016 über 1.8 Millionen Menschen nach Island gekommen sein: das wären dann 500.000 mehr, als 2015. Die Kurve scheint gerade expotentiell zu werden: wir hatten im Jahr 2016 doppelt so viele Touristen in Island, wie im Jahr 2014. Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen! Wo das hinführen soll, und wie Island das realistisch verkraften soll, ist mir ein absolutes Rätsel.

Sieht man sich den Zuwachs über die Monate verteilt an (im Vergleich zu denselben Monaten im Jahr 2015), erkennt man etwas ziemlich Interessantes: der größte Zuwachs im Tourismus findet im Island momentan im Winter statt. Es kommen zwar weiterhin die meisten Touristen im Sommer, aber prozentual gesehen wächst der Tourismus in den dunklen Monaten am meisten. Damit haben es die Isländer geschafft, die Touristenströme in die Nebensaison umzulenken - spannend!
          
Grafik: Tótla I. Sæmundsdóttir, Quelle: www.visir.is

Von Oktober bis Dezember 2016 wurde ein Zuwachs von 60% verzeichnet. Die Touristen kommen in den Monaten vor allem aus Asien, Großbritannien und den USA - also genau das, was ich hier gerade in Reykjavík erlebte. Grund dafür sind vermutlich die Nordlichter: obwohl Island um diese Jahreszeit meiner Meinung nach das wohl schlechteste Land für Nordlichtbeobachtungen ist (mieses Wetter und chronische Bewölkung sind an der Tagesordnung, gerade im November und Dezember), haben es clevere Isländer geschafft, unwissenden Touristen genau diese Zeit als beste Reisezeit für Nordlicht-Urlaub zu verkaufen. Das erklärt dann vielleicht auch, warum eine Gruppe Asiaten zu Silvester durch's lichtverschmutzte Reykjavík läuft - in der Hoffnung, Aurora zu sehen. 

Oh mannomann. 
Was soll man da noch sagen...?
 
Zurück zum Neujahrsfeuer an der Ægisíða. Als die Flammen hoch in den Himmel stiegen, steigerte sich auch die Feuerwerksaktivität noch einmal. Um 21 Uhr ballerte Reykjavík in etwa so, wie Deutschland zu Mitternacht. Einzelne Raketen, Böller, Leuchtfeuer der Seefahrt und die obligatorischen Feuerwerks-Batterien wurden gezündet - ziemlich spektakuläre, teure Feuerwerke erleuchteten den Nachthimmel und sorgten für Smog-Bildung. Dabei waren es noch 3 Stunden bis Mitternacht!


Ab 22 Uhr wurde es etwas ruhiger, weil dann "Áramótaskaupið" im Fernsehen lief, die Neujahrskomödie. Hier werden Jahr für Jahr alle Großereignisse des Jahres durch den Kakao gezogen, wobei die Einschaltquoten immer die höchsten der isländischen Fernsehgeschichte sind: kaum einer lässt sich das entgehen.

Ich schon.

Und so war ich bei meiner Wanderung durch's nächtliche Reykjavík dann tatsächlich in der Lage, ein Bild zu machen, bei dem kein Feuerwerk zu sehen ist: nämlich von der katholischen Landakotskirkja an der Westseite des leicht zugefrorenen Tjörnin.




Es ist Jahre her, dass ich Silvester in einer Stadt verbracht habe, und ich war diesmal auch nur hier, weil ich auf Haus und Tiere meiner Freundin aufpasste. Ich bin gegen Feuerwerke: sie sehen zwar schön aus, aber die Nebenwirkungen sind zu negativ, um sie ethisch vertreten zu können. Von der Panik einmal abgesehen, die wir unserer Tierwelt in diesen Tagen willentlich und egoistisch aufzwingen, so sehe ich Feuerwerke als eine enorme Verschwendung von Geld und Ressourcen an. Und schon mal etwas von Luftverschmutzung und Feinstaubbelastung gehört, die am Neujahrtag alle Rekorde sprengt? Und dann ist da die Frage nach dem CO2-Fußabdruck dieser Knallerei, die sich niemand zu stellen scheint. 2016 war das wärmste Jahr der menschlichen Aufzeichnungen - hallo, Menschheit, wann wachst du auf? Ich habe auf die Schnelle keine verlässlichen Zahlen finden können, aber: bei der Produktion, dem Transport und letztlich beim Zünden von Feuerwerk wird definitiv CO2 freigesetzt, das wir problemlos einsparen könnten. Wie gut täte es dem Klima, damit aufzuhören! Wie gut täte es der Menschheit, wenn das Geld der Feuerwerkskörper alternativ in soziale Projekte gesteckt werden würde!
 
Aber ich war in Island, in Reykjavik, und damit inmitten einer der Feuerwerkshochburgen Europas, in der sich niemand solcherlei Fragen zu stellen scheint. Und da ich nun hier war, wollte ich Fotos machen. Was lag näher, als zu versuchen, das Wahrzeichen Reykjavíks in den Mittelpunkt zu stellen: die Hallgrímskirkja. Ich hatte auf den Fotos vergangener Jahre schon gesehen, dass es auf dem Platz dort oben voll werden würde - aber wie voll, das habe ich mir im Traum nicht ausmalen können. 

Fríkirkjan, mit Hallgrímskirkja im Hintergrund
                 
Ab 22 Uhr strömten die Massen auf den Platz um die Kirche: vor allem Ausländer. Whoa, was war denn hier los - war das hier irgendwie ein Insidertipp? Aus Hunderten wurden Tausend, aus Tausend wurden Zehntausend: diese Masse übertraf meine Erwartungen um ein Vielfaches. Hätte ich gewusst dass hier so ein Ansturm herrschen würde, ich wäre nicht gekommen. Der Priester der Kirche verbrachte den Jahreswechsel im Kirchturm, und laut seiner Aussage waren dort unten auf dem Vorplatz 10-20.000 Menschen versammelt. Das glaube ich gerne, denn so fühlte sich das auch an!

Bild: Sigurður Árni Þórðarson, Quelle: www.visir.is
            
Die Feuerwerke wurden immer mehr, die Leute auch, man konnte sich nur extrem langsam fortbewegen, wurde ständig angerempelt, viele waren schon besoffen, mit Flaschen in der Hand. Autos drängten sich über die immer enger werdenden Straßen oder steckten schließlich in der Menge fest. Und Polizei oder irgendwelche Ordnungshüter waren nicht zu sehen.
Kurzum:
es war ein Albtraum.

Und dann begann ein Krieg: an mehreren Stellen wurden Feuerwerke gezündet, mitten in der Menge. Nicht nur einzelne Raketen, sondern ganze Serien verursachten Funkenregen. Ich war nicht mehr Zuschauer, sondern Teil des Feuerwerkes: es explodierte überall, auch am Boden. Ich habe mich selten so bedroht gefühlt, wie ab 23:45 Uhr, als alles in Flammen aufzugehen schien. Selbst bei der Eruption des Eyjafjallajökull fühlte ich mich besser aufgehoben, als hier in dieser menschengemachten Hölle, in der alle Spaß zu haben schienen, außer mir. 

Verdammt noch einmal, waren die denn alle wahnsinnig? Wie kann man mitten in dieser Menge Raketen und Batterien abfeuern - und dann auch noch johlen, wenn die Raketen zu flach oder gar unten in den Menschen explodieren...?

Jetzt hieß es: durchhalten und hoffen, dass niemand verletzt werden würde. Und beten, dass keine Panik ausbrechen würde. 

Oh man, ich weiß schon, warum ich eine schneebedeckte Einsamkeit und Nordlichter diesem Wahnsinn hier vorziehe!
 
Mitternacht war immer noch Minuten entfernt, aber der Smog wurde immer heftiger, und jeder Knaller tat in den Ohren weh. Fünf Minuten vor Jahreswechsel machte ich das letzte Foto - ich wollte hier weg, das war doch alles nur noch krank!

Und dann, als ich gerade beschlossen hatte, mich irgendwie in Deckung zurückzuziehen, kam ein Feuerwerkskörper genau über mir runter. Rechts und links rieselten Dinge zu Boden, und dann begann mein rechtes Auge zu brennen, plötzlich, scharf und heftig. Ich wartete, hoffte, dass der Schmerz so schnell vergehen würde, wie er gekommen war - aber den Gefallen tat er mir nicht. Im Gegenteil: mein Auge brannte immer mehr, ich konnte es kaum noch offen halten und nur noch verschwommen sehen. Und natürlich hatte ich genau heute kein Wasser dabei, um mein Auge auszuspülen. 

Verdammte Kälberkacke!

Es dauerte Ewigkeiten, bis ich mich in den Schutz einer überdachten Haustür drängeln konnte, wo ich klingelte, aber ohne dass mir jemand öffnete. Um mich herum begannen die Leute, sich "Happy New Year" zuzurufen - es war Mitternacht. Und ich stolperte
einäugig weiter, hin zum nächsten Haus, wo wieder niemand öffnete. Ringsumher nur Leute mit Alkoholflaschen in den Händen, niemand hatte Wasser bei sich. 

Also so einen beschissenen Jahreswechsel hatte ich ja noch nie erlebt!

In Ermangelung von Alternativen bin ich dann schnellen Schrittes hinunter zum Busbahnhof BSI gelaufen, wo ich von einer öffentlichen Toilette wusste. Und so konnte ich dann nach knapp 20 Minuten endlich mein Auge ausspülen - und einen ersten Schadensbericht aufnehmen. Das rechte Auge war geschwollen, mit knallroter unterer Bindehaut. Ich konnte keinen Fremdkörper entdecken, wusste aber, dass eine verätzte Hornhaut unbehandelt zu Erblindung führen kann. Also zögerte ich nicht weiter und rief die isländische "Ärztewacht" an. Da bekommt man rund um die Uhr einen Arzt ans Telefon. Und der (bzw. die) bestätigte mir, dass ich lieber mal jemanden ins Auge blicken lassen sollte - Vorsicht sei besser als Nachsicht. 

Nun, da waren wir zwei einer Meinung. Nur: wie sollte ich zur Notaufnahme ins Krankenhaus gelangen, ohne Auto und auch noch genau zum Jahreswechsel? 15 Minuten lang hing ich in der Warteschleife der Taxizentrale - da war partout kein Durchkommen. Also kam Plan B zum Einsatz: ich marschierte so schnell es ging zum Haus meiner Freundin. Die hatte ein Fahrrad, und mit dem waren es 20 Minuten zum Krankenhaus.

Gesagt, getan: so radelte ich auf Nagelreifen über Eis und Schnee zum einzigen Krankenhaus mit offener Notaufnahme, während überall immer noch Feuerwerke in den Himmel stiegen. Das Ganze war zu absurd, um wahr zu sein. Und deswegen fast schon wieder cool - wenn nur die Sorge um mein Auge nicht gewesen wäre. Einerseits schien es übertrieben, wegen einer nicht-lebensbedrohlichen Lappalie ins Krankenhaus zu fahren - andererseits mochte ich meine Augen recht gern, und fand den Gedanken ziemlich blöd, eventuell eines zu verlieren.

Der freundliche Arzt, der sich nach einer Stunde Wartezeit meiner annahm, sah sich kurz mein Auge an und gab Entwarnung. Eine starke Reizung der Bindehaut, aber die Hornhaut sei nicht angegriffen. Die Schwellung, sagte er, sollte in den nächsten Tagen zurückgehen.
Na Halleluja. Jetzt konnte das neue Jahr beginnen!

Ja, und so war ich dann um 4 Uhr morgens wieder im Haus, wo ich einen völlig verstörten Hund zitternd unter meiner Bettdecke vorfand - weil das Feuerwerk immer noch in vollem Gange war. Vorne auf der Straße zündeten gerade zwei Teenager eine Batterie mit etwa 20 Schuss. Die Explosionen gingen durch Mark und Bein - kein Wunder, dass der arme Hund nicht aus meinem Bett zu bugsieren war.
 
Und so sind meine Haupterinnerungen vom Silvesterfeuerwerk in Reykjavik leider durchweg negativer Natur: zu laut, zu viel Verschmutzung, zu viele Menschen, und definitiv zu viel Trubel um ein brennendes Auge. Ich weiß sowas von sicher, dass ich NIE WIEDER zum Jahreswechsel zur Hallgrímskirkja gehen werde, und auch allen nur abraten kann, das jemals zu tun. So ein Horror, so dermaßen gefährlich, in diesem Gedränge aus betrunkenen Menschen im Feuerwerksregen zu stehen. Bei aller Liebe zu guten Fotos und abenteuerlichen Geschichten: das werde ich mir nie wieder antun, denn das ist auch das schönste Silvesterfoto nicht Wert.

In dem Sinne, und mit zwei funktionierenden Augen wünsche ich: 

Ein frohes Neues - und euch ein möglichst sicheres, besonnenes und gesundes Jahr 2017!
 

:-)













Dienstag, 27. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #3

Tag Nummer vier in Þjófadalir war der Tag gewesen, an dem ich den wunderbaren Sonnenaufgang mit dem filigranen Bodennebel erleben durfte. Als ich zur Mittagszeit zum Zelt zurückgekehrt war, drehte der Wind und schob sich eine Wolkenfront in meine Richtung. Einen kurzen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, meine Sachen zusammenzupacken und zur nächsten Hütte zu wandern: die 13 Kilometer Wegstrecke hätte ich bestimmt noch vor der Dunkelheit und dem vermuteten Regen geschafft. Ich entschied mich trotzdem, zu bleiben, räumte aber dennoch mein Zelt leer und setzte es um. Das tat ich einerseits, weil der Wind um 90 Grad gedreht hatte, und andererseits, um das Gras zu schonen, das ich jetzt schon vier Tage lang um sein Sonnenlicht gebracht hatte.
Sollte der Regen ruhig kommen: ich hatte mehrere Tausend Seiten Lesestoff dabei und war gerade voll in Urlaubsstimmung!



Und dann regnete es: zwei Nächte und anderthalb Tage hindurch, wobei es von Stunde zu Stunde kälter wurde. Zur Mittagszeit des sechsten Tages hatte sich der schwache Dauerregen in starke, aber sehr lokale und kurze Regenschauer verwandelt. Es herrschte dieses typische Islandwetter: Wolken, Sonne und Regen wechselten sich im Minutentakt ab. Nichts hielt mich mehr im Zelt: also flitzte ich am Nachmittag wieder den Rauðkollur empor.





Schon während des Aufstiegs wurde mir klar, dass es sich hierbei nicht mehr um Regen handelte: wenn man Niederschläge so gut sehen kann, dann hat man es mit Schnee oder zumindest mit Hagel zu tun. Die Temperaturen nahmen mit jedem zurückgelegten Meter ab, und als die nächste Wolke die Sonne verdunkelte, packte ich den Kamerarucksack vorsichtshalber in einen schwarzen Müllsack.





Der folgende Regenschauer dauerte länger als gedacht: eine halbe Stunde lang saß ich in einem wirbelnden Allerlei aus Regen, Schnee und Hagelkörnern. In den Windschatten des Gipfel-Steinhaufens gekauert, wartete ich auf das Ende des dann doch ziemlich überraschenden Schneesturm, der von jetzt auf gleich die Sicht auf unter fünf Meter reduzierte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab es eine kleine Wolkenlücke, in der mir mein Lieblingsbild des Tages gelang: bevor der zweite Teil dieser Wolke den Gipfel wieder in Beschlag nahm.

Nach einem weiteren, ordentlichen Schnee-Hagel-Beschuss gab mir die Wolke eine Atempause, die allerdings zeitlich ganz klar begrenzt war: in wenigen Minuten würde der nächste Brummer kommen, der sich unheilsvoll-grau von Norden aus näherte. Ich genoss die Aussicht dieser verrückt gepuderten Welt und war beinahe traurig, erst so spät auf den Gipfel gekommen zu sein, denn bald würde die Sonne untergehen. Das warme Licht zauberte tolle Farben und Kontraste in diese abstrakt anmutende Bergwelt. Und schon wieder wollte ich die Zeit anhalten und partout nicht von diesem Berg herunter. Egal was komme: morgen früh musste ich wieder hier hinauf!!!

















Ich schlief nicht viel in dieser Nacht und wachte vor dem Wecker auf, gespannt wie ein Kind am Weihnachtstag. Beim Blick aus dem Zelt erkannte ich trotz Dunkelheit, dass sich der Schneehagel des Vorabends gehalten hatte. Die Bergflanken waren noch gepudert - zumindest soweit ich es erkennen konnte. Etwa 50 Meter über mir lag eine ziemlich durchgängige Nebelschicht und verschluckte die Bergspitzen der Umgebung. Ob sich der Aufstieg auf den Rauðkollur noch einmal lohnen würde? Trotz ungewissen Ausgangs machte ich mich tatsächlich noch einmal auf den Weg: und war begeistert, als ich begriff, dass ich über die Wolken steigen können würde. Denn 500 Meter höher offenbarte sich mir dann folgender Anblick:














Zum sechsten Mal in sieben Tagen stand ich nun auf diesem Berg, und jedes Mal hatte er sich mir anders präsentiert. Heute war plötzlich Winter: eine hauchdünne Schicht aus Schnee, Hagel und Raureif überzog die Bergrücken. Wie ein Meer lag der Nebel unter mir, floss über das dunkle Land hinweg und verzauberte es in eine mystische Märchenlandschaft. In Momenten wie diesen verstehe ich, wo die Geschichten über Elfen und Trolle ihren Ursprung haben...


Als wäre dem nicht genug, ging allmählich die Sonne auf und tauchte erst den Himmel und dann die Gletscher und Wolken in warme Farben. Ich war sprachlos - wieder einmal.
Und wollte die Zeit anhalten - wieder erfolglos.




Wie kann ein und derselbe Ort nur so unterschiedlich sein? Die Vielseitigkeit von Natur und Wetter lässt mich immer wieder staunen - und ist der einzige Ausschlaggeber für meine ungewöhnliche Reisephilosophie. So oft habe ich schon Unverständnis und Kopfschütteln geerntet von anderen Reisenden, die partout nicht begreifen können, warum ich meine wertvolle Urlaubszeit nur an einem einzigen Ort verbringe, ohne Auto, ohne durchgetakteten Plan, ohne eine To-do-Liste.

Aber diese Menschen haben wohl niemals erlebt, wie schön es ist, eine Landschaft richtig kennen zu lernen. Wie wertvoll es sein kann, genug Zeit zu haben, um auf das Wetter zu reagieren und das eigene Bauchgefühl hören zu können. Wenn ich wandern will, dann wandere ich meine 3-20 Kilometer pro Tag. Wenn ich lesen will, dann lese ich meine 50-700 Seiten pro Tag. Und wenn ich weiterziehen will, ziehe ich halt weiter - aber nicht, weil es so vorgeplant ist, sondern weil es sich richtig und gut anfühlt.

Ja, ich habe gerade eine Woche lang am gleichen Ort verbracht, ja, ich habe "nur" einen Radius von etwa sieben Kilometern um mein Zelt herum erkunden können. Ja, ich bin täglich denselben Berg hinaufgekraxelt - immer denselben Berg.
Und nein, es war nie gleich.
Und definitiv nie langweilig!





Mit jeder verstrichenen Minute stieg die Sonne höher, wurde die Welt heller und der Nebel aktiver. Er hob und senkte sich, verschluckte Bergspitzen, um sie dann bald wieder freizugeben. Es war zu schön, um wahr zu sein!

Das Bergmassiv der Kerlingarfjöll



            
Nachdem ich genug fotografiert hatte, gönnte ich mir ein kleines Frühstück und genoss die Stille hier oben. Neben meinem Herzschlag hörte ich einzig und allein das leise Rauschen des Windes und das Zwitschern einer Gruppe Schneeammern, die im ersten Sonnenschein munter zwischen den Steinen umherflogen. Noch lag das Tal im Schatten von Bergen und Wolken, noch ruhten die Schafe und Hüttengäste - nicht ahnend, was sie verpassten.







Im Gegensatz zu meinen vorherigen Besuchen hier oben fühlte ich diesmal, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Ich habe hier ja alles erlebt: komplettes Nebel-Whiteout, Regenschauer mit Regenbögen, strahlenden Sonnenschein unter azurblauem Himmel, dunkle Schlechtwetterstimmungen, sanfter Bodennebel: und nun der erste Wintereinbruch inklusive einer watte-weichen Nebeldecke. Es war nicht zu toppen - unmöglich!





Und so nahm ich nun Abschied von diesem Ausblick, von diesem Berg und seinen umliegenden Tälern. Ein paar Minuten noch wollte ich hier bleiben, dann aber stand der Abstieg und der Abbau meines Zeltes auf der Agenda. Es ging, so hatte ich in eben diesen Minuten beschlossen, nicht weiter den Wanderweg hinab, sondern zurück nach Hveravellir, wo ich vor einer Woche aus dem Bus gehüpft war. Ein oder zwei Nächte wollte ich noch etwas anderes erleben: und einem heißen Bad in einer Naturquelle war ich nach einer Woche Camping auch nicht abgeneigt.

Also dann:
Bless Rauðkollur, takk fyrir mig, Þjófadalir.

Was für eine tolle Woche.
Was für eine fantastische Naturerfahrung.
Was für ein wunderbares Leben!
 


Freitag, 23. Dezember 2016

Urlaub auf der Kjölur #2

Der zweite Morgen in Þjófadalir brachte tiefliegende Wolken und feinen Nieselregen und damit perfekte Bedingungen zum herrlich-urlaublichen Herumlümmeln in Schlafsack und Zelt. Mein alter E-reader war gefüllt mit spannendem Lesestoff, weshalb mir Regenwetter auf dieser Tour absolut gar nichts ausmachte. Nachmittags aber, als die Pausen zwischen den Regenschauern immer länger wurden, schnappte ich mir meine Kamera und erkundete die nähere Umgebung. Auf der anderen Talseite fand ich ein interessantes Motiv: "mýrarauði", die "Moor-Röte".


Solch rostrot-orangefarbene Farbtupfer sieht man in Island ziemlich häufig. Wo eisenhaltiges Wasser länger steht, in einem Sumpf etwa, bilden sich durch chemische und biologische Prozesse kleine Knötchen aus Eisenerz. Wenn sich die im Laufe der Zeit verfestigen, zu einer Art eisenhaltigem Lehm, nennt man es Raseneisenstein oder Sumpfeisen. Die Wikinger wussten von diesem Eisenerz und verhütteten es: daher gab es in Island schon zur Landnahmezeit eine zwar kleine, aber konstante Versorgung mit Eisen aus einheimischer Produktion.

Um das Erz zu schmelzen, nutzte man sogenannte "Rennfeuer", welche auf eine Temperatur von 1150 bis 1200 °C gebracht werden mussten. Das war mit Holz nicht zu bewerkstelligen: für so hohe Temperaturen braucht es Kohle. Nun findet es auf einer jungen Vulkaninsel wie Island weder Stein- noch Braunkohle: aber es gab Büsche und Bäume, die man zu Holzkohle verarbeiten konnte. Innerhalb von 200 Jahren verschwanden die Wälder, die einst 30 % der Insel bedeckten: man nutzte sie als Bauholz, dann als Feuerholz, vor allem als Rohstoff für Holzkohle. Als die größeren Bäume alle gefällt waren, zog man auf der Suche nach Holz selbst ins Hochland, um dort jeden noch so kleinen, fingerdicken Ast in Kohlenmeilern zu Holzkohle zu wandeln. Dies gilt, in Kombination mit teils extremer Überweidung von einst viel zu vielen Schafen, als Hauptursache der Entwaldung des Landes - und daraus resultierender, starker Bodenerosion, mit der die Isländer bis heute kämpfen.


Die Kjölur, dieser öde Teil des westlichen Hochlandes, ist ein Paradebeispiel für den menschengemachten Wandel. Schaut euch das obige Bild an: eine braune Wüste, in der kaum etwas wächst. In alten Schriften steht, dass man diesen alten Reitweg mit teils großen Pferdeherden überquerte und in der Lage war, die Tiere zwischendurch grasen zu lassen. Damals war also selbst die trockene Kjölur wesentlich grüner, als es heute der Fall ist.



Ein Blick über die Lava-Wüste der Kjölur hinüber zum Gletscher Langjökull: eine trockene Ebene, aus der dann plötzlich der Langjökull aufsteigt. An seinem nord-östlichen Rand liegt der 1062 Meter hohe Rauðkollur (der rechts im Bild in den Gletscher hineinragt). Diesen markanten Berg zu erklimmen, bzw. von dort oben zu fotografieren, war eines meiner Hauptanliegen: weshalb ich mich am Abend mit der Erkundung eines potentiellen Aufstiegs befasste. In den nächsten Tagen wollte ich bei Sonnenaufgang schon oben sein, und das bedeutete, dass ich dann im Dunkeln loszulaufen und zumindest den ersten Teil des Weges kennen musste. Von daher war es gar nicht schlimm, dass ich an diesem späten Nachmittag "nur" die ersten 200 der insgesamt 500 Höhenmeter erklomm (und dabei gleich zwei gute Aufstiegsmöglichkeiten fand). Weiterzugehen machte wenig Sinn, da sich die Spitze in chronisch in Wolken versteckte und es außerdem wieder Regenschauer gab. Die wirkten im Abendlicht aber herrlich fotogen!


Der nächste Morgen kam, und so machte ich mich trotz relativ dichter Bewölkun in der Gipfelregion noch in der Morgendämmeung an den Aufstieg. Meine Hoffnung, dass sich die Wolken entweder heben oder senken würden, erfüllte sich leider nicht. Als ich dann endlich auf dem Gipfel stand, sah ich von der Umgebung absolut gar nichts. Der Sonnenaufgang war dennoch ziemlich mystisch, auch, weil er einen starken Nebelbogen über den Gipfel zauberte.













Nach meiner Rückkehr und einem verspäteten Frühstück hoben sich die Wolken und zog ich los, um ein Tal names Jökulkrókur zu erkunden. Ich war ich im Jahr 2008 einmal kurz dort gewesen und erinnerte mich an einen Doppelwasserfall, den ich damals recht fotogen fand und gerne wieder besuchen wollte. Heute war zwar kein gutes Fotowetter, aber ich sah den Tag als eher als Erkundungs- und Wandertag an, nur halt mit abgespecktem Fotorucksack auf dem Buckel.


Als ich im Tal ankam, war ich ziemlich erstaunt, denn: die Wasserfälle waren nicht mehr da! Man konnte sehen, wo sie gewesen waren, ein bisschen Feuchtigkeit lief noch die Felswand herab, aber so ohne weiße Vorhänge wirkte sie gar nicht attraktiv. Ich machte dennoch ein Foto, als Beweisbild fürs Archiv, und überlegte dann kurz, wohin ich meine Wanderung wohl fortsetzen sollte.


Und als ich dann die Kamera wegpacken wollte und zur Felswand hinüber sah, war da plötzlich ein Wasserfall! Innerhalb der letzten 30 Sekunden hatte jemand das Wasser aufgedreht. Wie cool war dass denn, bitteschön? Und der Wasserfall wurde langsam aber sicher immer breiter und stärker. Das hier war kein Rinnsal, sondern ein ordentlicher Bach, und ein Wasserfall in etwa der Größe des Seljalandsfoss!

Dass Flüsse und Bäche ihren Lauf ändern, ist in einem so wilden Land wie Island gang und gäbe: dass ein Wasserfall irgendwann nicht mehr existiert, weil ein Bach woanders lang fließt, scheint deshalb auch logisch und verständlich. Aber dass ein Wasserfall an und aus geht, davon hatte ich noch nie gehört!

Ich zögerte nicht lange und gab Fersengeld. Ich wollte trockenen Fußes über den Bach und die Flutwelle sehen! Die kam zwar auch, aber viel langsamer, als gedacht. Statt einer Welle handelte es sich hier um ein ganz sachtes Ansteigen des Wasserspiegels. Innerhalb von zwei Minuten verwandelte sich das klare Rinnsal aus Grundwasser in einen rauschenden kleinen Gletscherfluss. Dabei hob sich der Wasserspiegel um einen halben Meter und wurde der Bach etwa vier Meter breit.

Ich wanderte neugierig in die Nähe des zweiten Wasserfalls, aber der blieb trocken. Also trat ich den Rückweg an, fand eine schmale Stelle, an der ich den Bach mit einem beherzten Sprung überqueren konnte, und suchte mir einen Aufstieg zur Klippe hinauf. Bis ich oben ankam, verging etwas Zeit, auch, weil ich an einem Hang-Garten aus Rauschebeeren vorbeikam und mir die Chance nicht entgehen ließ, ein paar Vitamine zu mir zu nehmen...

Oben angekommen stellte ich dann fest, dass der zweite Wasserfall jetzt auch floss - verrückt! Wo das Wasser aus welchem Grund umgelenkt worden war, ist mir weiterhin ein Rätsel. Irgendwo im Flussbett muss es einen Faktor geben, der den gesamten Bach mal eben komplett umleitet: entweder in die alten Wasserfälle hinein, oder vermutlich in den Nachbarfluss. Ich hätte dem Ganzen vielleicht auf die Spur kommen können, aber so wichtig war mir das jetzt auch nicht. Außerdem musste ich langsam zurück. Die Sonne ging schon unter: da es weiterhin stark bewölkt war, blieben die erhofften warmen Farben zwar leider aus, aber ich war dennoch bester Laune. Natur ist einfach nie langweilig!

Nach einer zu kurzen Nacht klingelte auch an diesem vierten Urlaubstag mein Wecker zu Beginn der Morgendämmerung. Und endlich, endlich: Diesmal befanden sich alle Wolken unter 30 Meter Höhe. Bodennaher Nebel - Volltreffer! Ich glaube, ich war selten so schnell aus dem Schlafsack raus, wie an diesem Morgen.


Die ersten Hänge flog ich regelrecht empor, bevor ich aus dem Fotografieren kaum heraus kam. Bodennebel erlebe ich im Norden nicht so oft. Umso außergewöhnlicher ist es daher, wenn ich mal über den Wolken stehen kann. Was für ein genialer Anblick, was für ein toller Kontrast in der sonst eher dunklen Landschaft! Man, war ich froh, dass ich die Zeit mitgebracht hatte, auf genau so tolle Wetterstimmungen zu warten. Das würde der Sonnenaufgang der Reise werden, dessen war ich mir sicher!

Und so stand ich dann am zweiten Morgen infolge auf 1062 Meter Höhe, und sah diesmal, was ich mir am Tag zuvor nicht einmal vorstellen konnte. Langsam kroch der Nebel über das Land, sachte wabernd und in filigraner Schönheit. Als dann die Sonne über den Osthorizont lugte, begann ein Alpenglühen der Sonderlative. Wow, einfach nur wow!



Mit fast so etwas wie Mitleid dachte ich an die sechs Wanderer, die noch in der Hütte schlummerten und die dieses Spektakel ebenso verpassten, wie die beiden Wildcamper, deren Zelte unten im feuchten Nebel standen. Ich war heilfroh, den Aufstieg trotz Müdigkeit auf mich genommen zu haben. Schlafen konnte ich, wenn ich zurückkam oder es das nächste Mal regnete! :-)
 
Im Laufe der kommenden Stunde hob sich der Nebel und verdunstete ganz langsam. Meine Güte, was waren das für Anblicke! Ich war im wahrsten Sinne des Wortes völlig "benebelt" von so viel Schönheit - und fotografierte mich dumm und dämlich.










Fotogenen Nebel habe ich in meinem Leben noch nicht so erleben dürfen: umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn ich mich mal über den Wolken befinde. So auch jetzt: ich wollte gar nicht mehr von diesem Gipfel herunter, und der Wunsch, irgendwann weiterzuziehen, war auch komplett verflogen. Jetzt die Zeit anzuhalten, das wär's gewesen!


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Und weil es wieder so weit ist, die Geburt eines vor 2000 Jahren Gestorbenen zu feiern, wünsche ich all denjenigen, die das bewusst tun, ein frohes Weihnachtsfest - und allen anderen ein paar schöne Feiertage!