Dienstag, 21. August 2018

Eisbären-Familienausflug

Einen Eisbären in freier Wildbahn zu sehen, ist jedes Mal ein besonderes Erlebnis. In sieben Jahren habe ich nun schon mehrere hundert Bären gesehen; teils nur als gelbe Punkte im Fernglas (wir nennen das einen "Pixelbären"), teils aus nur wenigen Metern Entfernung (vom Schiff aus, versteht sich). Trotzdem bin ich gerade bei Nahbegegnungen immer wieder aufgeregt, wie ein kleines Kind vor Weihnachten. Es sind einfach so dermaßen faszinierende Tiere: Symbolcharakter und Knutifikation hin oder her. Wirklich, ich empfinde tiefen Respekt vor ihnen und eine unbändige Neugierde, mehr über sie zu lernen. Einerseits sind sie für uns Menschen schwer zu lesen: sie haben keine wirkliche Mimik, wedeln nicht mit Schwänzen und Ohrenbewegung ist auch eher schwer zu sehen. Aber sie verfügen über Körpersprache, die ich immer besser zu deuten vermag. Ein Bär muss genau beobachtet werden, um verstanden zu werden: wie verhält er sich, wie zögernd oder forsch ist er, in welcher Konstitution befindet er sich, wie oft gähnt er, wie oft blickt er sich um... Ich kann mittlerweile relativ schnell sagen, ob es sich um ein Männchen oder Weibchen handelt und wie alt es ungefähr sein mag. Das ist echt schön! :-)


Die bisher eindrücklichste Begegnung dieses Spätsommers war die mit einer Bärenmutter und zwei etwa achtmonatigen Jungtieren. Eisbärenmütter säugen ihre Jungen zweieinhalb bis drei Jahre lang, und je älter die Jungen werden, desto mutiger werden sowohl sie als auch die Mutter. Im ersten Lebensjahr allerdings, wenn die Kleinen noch ziemlich hilflos und nicht ganz so schnell sind, verhalten sich Mütter oft sehr vorsichtig und nähern sich uns Menschen nur ungern. Daher kommt es, dass ich so ganz junge Bären meist nur aus großer Distanz sehen kann: wenn überhaupt; so oft sieht man Bärennachwuchs ja leider gar nicht. Vor zwei Wochen aber trafen wir eine Mutter, der wir ziemlich egal waren. Sie befand sich auf einer Insel von vielleicht 100m Durchmesser auf der so gut wie nichts wuchs.



Während die Jungtiere mit skeptischer Neugierde auf uns Menschen reagierten, die wir still in Zodiaks in Ufernähe dümpelten, waren wir der Mutter völlig egal. Sie war auf einer Mission: im Zickzackkurs schritt sie über die Insel, immer dicht begleitet von ihren munteren Jungen. Was erst wie ein zielloses Umhergeirre wirkte, stellte sich als Suche heraus: auf der Insel befand sich eine Kolonie von Küstenseeschwalben. Diese aggressiven Vögel machten der Bärin deutlich, dass sie hier nicht willkommen war: aber das beeindruckte sie herzlich wenig...



Man muss wissen, dass der Sommer für Eisbären traditionell eine Zeit des Fastens ist. Das Packeis (und damit die Robben) liegen weit nördlich des Archipels. Da es an Land hier so gut wie nichts zu fressen gibt, sitzen viele Bären diese karge Zeit einfach aus: sie hocken einfach irgendwo an Land herum, sparen Energie und warten darauf, dass das Packeis zurückkommt. Das können sich jene Bären leisten, die eine gute Fettreserve haben: dünne Tiere und Eisbärenmütter mit immerhungrigen Jungtieren haben diese Option aber nicht.




Und weil die Fastenzeit jetzt in den Zeiten des Klimawandels ohnehin immer länger wird, beginnen viele Eisbären damit, sich alternative Nahrungsquellen zu erschließen: und dazu gehören Vogelkolonien. Wissenschaftler berichten vermehrt, dass Bären ganze Jahrgänge zunichte machen, weil sie ein Nest nach dem anderen plündern. Besonders davon betroffen sind Eiderenten, Gänse und (wie in diesem Falle) Küstenseeschwalben. Sie waren längst durch mit der Brut: die Küken aber waren noch nicht flügge und folglich total hilflos. Jungvogel für Jungvogel verschwand im Maul der Bärin, und ich begann zu begreifen, warum ihr Bauch so dick war. Sie musste in den vorhergegangenen Stunden Dutzende Küstenseeschwalbenküken gefressen haben.



Die gesamte Kolonie befand sich in grenzenloser Panik; Dutzende von Vögeln attackierten die Bären mit ihren spitzen Schnäbeln, flogen wild kreischend umher und griffen sogar uns in den Zodiaks an. Warum dem so war, erkannten wir schnell: um den Bären zu entkommen, hatten sich viele Küken ins Wasser geflüchtet! Mir war bis dato nicht klar gewesen, dass diese fluffigen Küstenseeschwalbenküken schwimmen können. Aber klar: alles ist besser, als gefressen zu werden... Und so paddelten Dutzende Flauschbälle ungelenk und sichtbar ungerne im küstennahen Wasser, immer begleitet von lamentierenden Elternvögeln. Och jöööööö...



Auch die beiden Bärchen waren gut mit dabei und lernten von Mama, wie man Küken verspeist - nun, zumindest wenn sie nicht erforschen mussten, was diese schnell schwimmenden schwarzen Eisberge mit den bunten Lebewesen waren, die da am Ufer dümpelten und wie wild Klicklaute von sich gaben... Wir Menschen waren ihnen suspekt und gleichzeitig ungemein faszinierend - zumindest solange Mama in der Nähe war. Ohne Mama ging nichts!



Besagte Mama war eine Dame mittleren Altern, die Menschen kannte und weder als Gefahr noch als sonderlich interessant betrachtete. Sie behielt uns ständig im Blick, aber setzte ihren Fesskurs über die Insel völlig unbeirrt fort. Wie viele Küken an dem Tag in ihrem Magen landeten, weiß ich nicht. Eine Menge.



Irgendwann aber war Mama-Bär dann wohl satt und schritt zum Ufer. Dort versuchte sie dann, ihre beiden Jungen dazu zu überreden, mit ihr ans Ufer der Hauptinsel Spitzbergen zu schwimmen. Einziges Problem: die Kleinen hatten keine Lust. Das ist mir schon öfters aufgefallen: Eisbären sind zwar irre gute Schwimmer (die an den Vorderfüßen auch Schimmhäute besitzen), aber Jungbären scheuen das Wasser, wann immer sie können. Vermutlich, weil sie noch nicht ganz so gut isoliert oder abgehärtet sind, wie ein ausgewachsener Bär...



Allerdings konnten sie sich zieren, wie sie wollten: irgendwann reichte es der Bärin und begann sie, zu schwimmen. Und dann blieb den Kleinen nichts anderes übrig, als auch reinzuhopsen ins etwa 4°C kalte Nass. Begeisterung sieht anders aus - aber wer kann's ihnen verübeln bei den Temperaturen...?
;-)


Sonntag, 19. August 2018

Spitzbergen Sommer 2018 - Bildimpressionen

Hallo zusammen,

nach einer schweren Zeit in Deutschland (wer meine Familie kennt, der weiß, was los war) bin ich endlich wieder unterwegs im Norden. Es ist eine sehr kurze Saison für mich auf Svalbard, diesmal ausschließlich im August und September, aber trotz (oder gerade wegen) allem kann ich auch dieses Jahr die hohe Arktis nicht auslassen. Und so blicke ich jetzt (Ende August) bereits auf zwei Reisen zurück, die mich um Svalbard führten, und will ohne große Worte mit einigen Bildimpressionen vom Spätsommer hier oben berichten.

Wir hatten sehr großes Glück mit so ziemlich allem: tolles Wetter (wir sind irgendwie immer auf der Seite Spitzbergens unterwegs gewesen, wo gerade kein Sturm wütete), sehr nette Gäste, und unglaublich viel Glück mit dem Tierleben. Dazu manchmal abends und nachts das schöne Licht der Ende des Sommers endlich wieder tiefstehenden Sonne: ja, da lacht dann auch das Landschaftsfotografenherz! :-)
































































Montag, 12. März 2018

Die wohl missverstandensten Robben der Welt

Dies ist Teil Zwei meines Blog-Eintrages über die Antarktischen Seebären: Teil Eins ist weiter unten!
:-)
 
  
Um den niedrigen Temperaturen des Südpolarmeeres trotzen zu können, wurden die Antarktischen Seebären mit einem herrlich dichten Fell ausgestattet. Genau dies war leider der Grund, weshalb sie im 19ten Jahrhundert fast ausgerottet wurden: es war stark gefragt für Mützen und Mäntel der Protzgesellschaft der westlichen Welt. Die unmittelbar nach der Entdeckung Südgeorgiens eintreffenden nordamerikanischen Robbenfänger machten die Kolonien dieser Tiere dem Erdboden gleich und 'ernteten' wirklich jedes einzelne Tier, ohne Gedanken an die Zukunft und Nachhaltigkeit. Es ist doch immer die gleiche Geschichte mit uns Menschen... Und so kam es, dass die Art schon in den 1830er Jahren als ausgestorben galt! Zum Glück haben einige Tiere dieses gedankenlose Massenschlachten überlebt und es die Art im Laufe der vergangenen 180 Jahre geschafft, sich wieder zu erholen.


Geblieben ist ihnen eine angeborene Wut auf alles, was zwei Beine hat und aufrecht geht: zumindest ist das meine persönliche Erklärung, weshalb die Seebären uns Menschen gegenüber chronisch schlecht gelaunt sind. Wagt ein Zweibeiner es auch nur ins Sichtfeld eines Seebären zu kommen, wird er erst angeknurrt, und dann angegriffen, manchmal auch vice versa. Es sind echte Grummeltrolle, diese Robben: chronisch miesepetrig und höchst bissig.


Mit diesen Zähnen ist absolut nicht zu spaßen: sie sind spitz und voller netter Bakterien, die nur darauf warten, eine Wunde so richtig fies festern zu lassen. Selbst ein kleiner Kratzer wird hier auf der Station mit der Zahnbürste ausgeschrubbt (autsch...) und sofort mit zwei Arten von Antibiotika behandelt, sofern er von einem Seebärenbiss stammt: dies nämlich, sagen hier alle, ist mit die sicherste Art, sich eine Blutvergiftung einzuhandeln, inklusive einer herrlichen Infektion. Also generell nichts, was irgendwie erstrebenswert wäre...


Die Seebären sind raue Gesellen, deren liebstes Spiel es ist, miteinander zu ringen und sich gegenseitig zu jagen. Ich vergleiche sie gerne mit kleinen Hunden: sie sind extrem aktiv (hyperaktiv wäre ein anderes Wort...) und gleichzeitig äußerst aggressiv, zumindest so lange, bis es ans Eingemachte geht. Hat man den Nerv, den Angreifern die Stirn zu bieten, dann erlebt man, dass sie ihren Angriff dann abbrechen, wenn ihre Schnurrbarthaare den Gegner berühren - zumindest meistens. Manchmal beißen sie trotzdem. Und genau deswegen verlassen wir hier in Grytviken das Haus nicht, ohne einen Stock dabeizuhaben: denn der stoppt die Robben und nimmt den Biss entgegen, so er kommen sollte.


Bei der Menge an Pelzrobben, welche die Strände hier bevölkern, ist es ziemlich schwierig, sich in Ufernähe zu bewegen, ohne eine Robbe zu verstimmen. Schätzungsweise 6 Millionen Antarktische Seebären gibt es wieder hier auf Südgeorgien, wobei die Anzahl weiterhin steigt. Auf dieser einen Insel leben 98 Prozent der globalen Population! Das obige Bild ist ein 'leerer' Strand hier bei uns tief im Fjordinneren. Die Küsten mit direktem Zugang zum offenen Meer sind viel, viel voller. Dort kann man sich als Mensch wirklich gar nicht mehr bewegen! Zumal auf den Stränden ja 'nur' jene Robben sind, die geschlechtsreif sind bzw. einem Harem zugehören. Die Jungen und Außenseiter wandern hinein in die Vegetation und klettern im Laufe des Sommers gar die Berghänge empor, wo sie sich liebend gerne zwischen den Tussockgräsern verstecken. Wie oft wir uns dort gegenseitig erschreckt haben, kann ich schon gar nicht mehr zählen...


Ständig angeknurrt und angegriffen zu werden, ist zugegebenermaßen ein eher unschönes Gefühl. Da jährlich mehrere Menschen von Seebären gebissen werden, habe ich von Seiten der Kreuzfahrttouristen und Guides öfters die Frage gehört, was denn die Regierung Südgeorgiens gegen das 'Pelzrobbenproblem' zu tun gedenke. Ich antworte dann immer: die Robben haben ja wohl mehr Recht, hier zu sein, als wir! Dass sie sich im letzten Jahrzehnt expotentiell vermehrt haben (in etwa so, wie die Touristen auf Island...), bedeutet nicht, dass dies nicht der Lauf der Natur wäre. Wir Menschen haben fast alles ausgerottet hier unten, allen voran die krillfressenden Wale. Ohne diese Riesenstaubsauger gibt es momentan viel mehr Futter im umliegenden Meer, wovon die Robben profitieren. Die Wale erholen sich zwar mittlerweile auch, aber halt viel langsamer: und nun nach Jahrzehnten des großen Fressens, herrscht bei den Seebären totale Überbevölkerung. Die Population hat, vermutlich, die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. In Anbetracht dessen ist es wohl kaum verwunderlich, dass die Tiere ein großes Maß an Stressverhalten und Aggression zeigen!


Nach einem Sommer unter Seebären muss ich sagen: bei den kleinen Grummeltrollen handelt es sich um eine von uns Menschen chronisch missverstandene Spezies. Kaum einer mag sie, alle begegnen ihnen mit Misstrauen und Kontra-Aggression. Dabei sind die kleinen Schnappkiefer eigentlich nur verstört! Es sind echte Angstbeißer, deren Überlebensmotto ist: „Angriff ist die beste Verteidigung!“ Man muss sich nur mal in ihre Situation versetzen! Wir Menschen sind extrem einschüchternde Gestalten: riesig ragen wir über ihnen auf, und unsere normale (für sie schnelle) Schrittgeschwindigkeit wirkt extrem bedrohlich auf sie. Kein Wunder, dass sie verängstigt sind: und deswegen laut von sich hören lassen. Würde man ihr Knurren übersetzen, dann käme wahrscheinlich Folgendes  dabei heraus:
„Eh, stör mich nicht beim Schlafen! Du bist mir zu groß und unheimlich – und außerdem ist das mein Territorium! Sag mal, hast du Tomaten auf den Ohren? VERPISS DICH!“


Wenn man einen respektvollen Abstand einhält, die Robben nicht direkt anschaut und sich langsam bewegt, dann sind die Tiere merkbar gelassener. Klar, sie knurren immer noch, aber es ist mehr ein „Eh, du bist zu groß - halte lieber Abstand!“ und kein „Ich fürchte um mein Leben und beiße dich gleich!“

Und lässt man sich dann am Boden nieder und ragt man nicht mehr so riesig über ihnen auf, dann kommen sie, um einen auszukundschaften: neugierig-still bist verunsichert-knurrend hoppeln sie einem entgegen. Die Jungtiere sind, wie alle jungen Tiere, viel unbefangener und neugieriger: sie lasse ich gerne an mir schnüffeln und an meinen Stiefeln oder Schnürsenkeln herumknabbern.


Bei den Einjährigen (Teenagern) ist schon etwas mehr Vorsicht geboten, und bei allem ab Schäferhundgröße kommt der Stock als Abstandhalter zum Einsatz – sicher ist sicher. Ich habe weiterhin einen ordentlichen Respekt vor ihren Zähnen und potentiell unberechenbar-aggressivem Naturell. Aber generell gilt: verhält man sich ruhig, dann ignorieren bzw. akzeptieren sie einen ziemlich schnell, oder aber betrachten einen als willkommenes Unterhaltungsprogramm. Sie sind im Grunde ihrer Seele friedfertige, harmoniebedürftige Gesellen, diese Grummeltrolle – bei Aufregung vergessen sie das bloß manchmal. ;-)

Freitag, 9. März 2018

Seebären – die wahren Herrscher Südgeorgiens


Den Sommer auf Südgeorgien kann man ziemlich einfach in zwei Hälften aufteilen: die erste gehört den See-Elefanten, und die zweite den Seebären. Wenn nämlich die See-Elefanten die Strände verlassen, weil sie nach der intensiven Jungenaufzucht und Paarungszeit erst einmal mehrere Wochen lang im Meer ihre Reserven auffüllen müssen, dann übernehmen ihre kleineren Verwandten die Strände.


Die Antarktischen Seebären sind Pelzrobben, welche größenmäßig zwischen Schäferhund bis Mastschwein einzuordnen sind: dies beschreibt die Körpermaße der erwachsenen Tiere, also ohne Beine. Wikipedia sagt: die männlichen Seebären können bis zu 190cm lang und bis zu 150 Kilogramm schwer werden. Wie bei den See-Elefanten, so sind die Männchen wesentlich größer als die Weibchen, und genau wie bei ihren riesigen Kollegen kommen die Männer zuerst an Land und sichern sich ein Territorium von knappen 10 bis 30 Quadratmetern Strandbereich. Es sind prächtige, stolze Kerle, die Seebären-Männer: vor Kraft und Energie nur so strotzend, zeigen sie ihre kurze Mähne - und warten auf die Weibchen, die erst an Land kommen, wenn die Geburt ihres (im letzten Sommer gezeugten) Jungtieres unmittelbar bevorsteht.


Die Weibchen werden von den Männchen zu Harems zusammengetrieben und wie ein Schatz bewacht. Niemand ist innerhalb des Harems erlaubt: keine anderen Robben (außer noch mehr Weibchen...), keine Menschen, keine wild spielenden (Robben-)Teenager und ganz besonders keine anderen Männchen. Den Weibchen ist das nur Recht, sie wollen ihre Ruhe haben, ganz besonders, wenn ihr Nachwuchs endlich da ist. Die neugeborenen Seebärchen sind zugegebenermaßen ziemlich niedlich: sie haben riesige, blau-schillernde Augen und erstmal nichts anderes im Sinn, als zu trinken und zu schlafen – Babys halt...


Die Seebärenweibchen säugen ihre Jungen deutlich länger, als die See-Elefanten, nämlich vier Monate lang. Weil sie in der langen Zeit selbst bei Kräften bleiben müssen, schwimmen sie alle Paar Tage aufs Meer hinaus. Die kleinen Seebärchen sind während dieser Nahrungs-Streifzüge regelmäßig auf sich alleine gestellt, womit sie aber absolut kein Problem haben. Sie rotten sich zu Spielgruppen zusammen, lernen schwimmen, erkunden die Umgebung und schlafen, wo immer es ihnen beliebt: sie haben ja hier so gut wie keine Feinde. Die Riesensturmvögel und Skuas schnappen sich ein paar Jungtiere, wenn sie noch klein und hilflos sind: aber die Zeit ist schnell vorbei. Seebären werden schon aggressiv geboren, und ihre spitzen Zähne machen sie zu einem gefährlicher Gegner, selbst für Riesen wie meine geliebten Neo-Velociraptoren.


Um ihr Jungtier nach der Essenspause wiederzufinden, nutzen die Mütter ihre Stimme: es ist ein lauter, durchdringender Ruf, der extrem menschlich klingt. Die Weibchen haben schöne Sopranstimmen, und sie nutzen Vokale, vor allem I und U. Teilweise klingt es so, als würden Frauen Ji(iiiiiiiii)m oder Bo(ooooooooooo)b rufen!


Ihr Jungtier antwortet, wenn es den charakteristischen Ruf der Mutter hört, mit einer Art Meckern, einem raspelnden Ä, das wie eine Mischung aus Zicklein und knatschigem Kind klingt. Bei Tausenden von Robben innerhalb einer Bucht herrscht also das Gegenteil von Stille. Schließt man die Augen, dann kann man sich vorstellen, in einem Freibad zu stehen, in dem gerade hunderte Kinder toben, jauchzen und ausgelassen lärmen - zusammen mit einer Herde Ziegen...


Seebären sind, wie ihr es ja schon gesehen habt, eher einfarbig: die Jungtiere sind komplett schoko-braun und bekommen erst nach drei Monaten ihr seidig-graues Erwachsenenfell, das am Bauch heller ist als am Rücken. Etwa eines von 800 Jungtieren aber ist leuzistisch, also heller als die Norm: für eine an sich seltene Mutation ist das ein ziemlich hoher Anteil. Hier in der Bucht wurden drei 'Blondies' geboren – es sind wirklich attraktive Tiere! Die helle Fellfarbe scheint ihnen keinerlei Nach- oder Vorteile zu bringen: wenn überhaupt, dann sind ihre Artgenossen minimal neugieriger, was den Kontakt zu den 'Blonden' angeht.


Seebären gehören zur Gattung der Ohrenrobben, und als solche haben sie (wie der Name es so prägnant verrät) Ohren. Nicht, dass die anderen keine hätten, aber die Pelzrobben besitzen externe Ohrmuscheln, die teilweise herrlich vom Kopf abstehen. Ich will mich hier über niemanden lustig machen, aber … nun, sie bringen mich schon manchmal zum Schmunzeln, die kleinen Segelöhrchen!


Die zweite Besonderheit von Ohrenrobben ist ihre extreme Beweglichkeit. Während die Hundsrobben (darunter alle an den deutschen Küsten vorkommenden Robbenarten sowie die See-Elefanten) eine versteifte Hüfte besitzen und an Land nur extrem schwerfällig voran kommen, können die Ohrenrobben ihre Hinterflossen unter den Körper knicken und wie Beine benutzen. Sie sind deshalb ziemlich wendig und können auf unebenem Gelände und glitschigen Steinen einen Menschen einholen. Das ist wirklich eindrucksvoll!


Was mich auch beeindruckt hat, ist die Länge der Vibrissen dieser Tiere, also der beweglichen und extrem tast-empfindlichen Schnurrbarthaare. Besonders die großen Männchen haben auf jeder Seite zwei extrem lange Barthaare: die längste gemessene Vibrisse bei einem männlichen Antarktischen Seebären lag bei 48 cm. Das ist Rekord für alle Robben - und möglicherweise für alle Säugetiere überhaupt.
Diese Vibrissen sind ein eigenes Sinnesorgan, das eine Mischung aus Tasten und Hören ermöglicht. Klingt seltsam? Klar, über Wasser nutzen sie ihre Schnurrbarthaare in etwa so, wie es Katzen tun, eben als Tasthaare. Unter Wasser aber fangen die Vibrissen Schwingungen auf: da wäre einmal Geräusche, aber auch die Bewegung von Wasser. Sie sind damit in der Lage, den 'Spuren' von Fischen zu folgen, lange nachdem der Fisch vorbeigeschwommen ist, und ihn so zu finden. Einige Robben haben dies perfektioniert: die Bartrobbe in der Arktis etwa. Unsere Seebären hier dagegen fressen fast ausschließlich Krill, diese kleinen Krebstierchen, die in millionenfachen Schwärmen fast alles ernähren, was hier in den Gewässern lebt.

Sonntag, 11. Februar 2018

Die Drachen der Antarktis

Grytviken liegt in der kleinen Bucht King Edward Cove, welche sich wiederum in einem Seitenarm von Cumberland Bay befindet, dem größten Fjord der Insel. Umringt und geschützt von hohen Bergen ist dieser Ort der beste Hafen für Schiffe, denn hier ist die See am ruhigsten, das Wetter am besten und die Winde oft am wenigsten stark. Was super für uns Menschen ist, muss nicht unbedingt ideal sein für die vielen Tiere, die einen direkten Zugang zum offenen Meer vorziehen und sich lieber an der Außenseite der Insel aufhalten. Die großen Tierkolonien befinden sich deshalb außerhalb meiner direkten Reichweite: mir bleibt 'nur' der im Vergleich zum Rest Südgeorgiens spärlich bevölkerte Strand im Inneren von King Edward Cove. An Tierleben gibt es hier die Harems von See-Elefanten und Antarktischen Seebären (Pelzrobben), vereinzelte, sich meist in der Mauser befindende Pinguine (Königspinguine und Eselspinguine) sowie einzelne Paare / Individuen unterschiedlichster Vögel: Antarktische Küstenseeschwalbe, Dominikanermöwe, Spitzschwanzente, Riesenpieper, Skua und Rußalbatross wären da zu nennen. Eine Vogelart aber hat vom ersten Tag an mein besonderes Interesse geweckt: der Riesensturmvogel, auf Englisch 'Giant Petrel'. Wir hier auf der Insel nennen ihn aber schlichtweg GP ('Dschii-pii') oder 'Geep' (Dschiip, wie 'Jeep').


Riesensturmvögel sind entfernt mit den Albatrossen verwandt: es sind Röhrennasen, deren eigentümlicher Schnabel so aussieht, als sei er aus mehreren Hornstücken zusammengepuzzelt. Obendrauf sitzen die Nasenlöcher als eine Doppelröhre auf, die dazu dient, das Salz aus dem beim Trinken aufgenommenen Meerwasser auszuscheiden. Diese Entsalzungsanlage (die alle Röhrennasen haben, also auch die Albatrosse) ermöglicht es ihnen, ihr Leben komplett auf See zu verbringen, also wirklich gänzlich unabhängig von Süßwasser. An Land kommen sie daher eigentlich nur, um zu brüten - ansonsten trifft man sie auf dem offenen Meer an, dem stürmischen Südpolarmeer, wo sie steif aber elegant mit sehr wenig Flügelschlägen über den Wellen segeln.


Wie auch die Albatrosse und Eissturmvögel, so können Riesensturmvögel ziemlich alt werden: wie alt genau, wissen wir nicht, aber 50 Jahre schaffen sie locker.

Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei den Riesensturmvögeln um ziemlich große Tiere. Eissturmvögel, ihre europäischen Verwandten, wirken wie Zwerge im Angesicht dieser größten aller Sturmvögel: sie weisen eine Körperlänge von teils über 90 cm auf und eine Flügelspannweite von über zwei Metern. Allein der Schnabel kann 12 cm lang sein und ihre mit Schwimmhäuten bestückten Füße haben locker die Größe einer menschlichen Hand. Ihr Federkleid ist meist braun bis gräulich gescheckt, aber es gibt auch seltene weiße Exemplare, die wir hier 'Spirit Petrels' nennen, Geistersturmvögel.


Der politischen Korrektheit halber sollte erwähnt werden, dass es zwei Arten von Riesensturmvögeln gibt, die Nördlichen und Südlichen Riesensturmvögel. Wir Deutschen machen es komplizierter als es sein muss, denn als Riesensturmvogel bezeichnet die Fachwelt den südlichen GP, und der nördliche heißt offiziell 'Hallsturmvogel'. Wenn ich von Riesensturmvögeln spreche, dann meine ich beide, denn sie sind sich extrem ähnlich und kommen hier in Südgeorgien auch beide vor. Äußerlich unterscheiden sich die beiden Arten nur auf den zweiten Blick. Am verlässlichsten erkennen kann man sie an der Farbe ihrer Schnabelspitze: die ist nämlich dunkler / rötlich (bei den nördlichen) bzw. heller / grünlich (bei den südlichen). Meine Eselsbrücke ist eine Ampel: rot für den Norden (oben), grün für den Süden (unten) ...

Links: nördlicher GP mit roter Schnabelspitze und (oft) hellen Augen
Rechts: südlicher GP mit grünlicher Schnabelspitze und (oft) dunklen Augen






 
Auf hoher See ernähren sie sich die GPs von allem, was auf bzw. dicht unter der Wasseroberfläche treibt: Krill, Tintenfisch, Abfälle der Fischerei und sonstiges Totes. Wenn aber im Sommer die Robben ihre Jungen bekommen, macht es für sie viel mehr Sinn, die Strände zu patrouillieren. Dabei sind sie nicht nur reine Aasfresser, sondern ziemlich skrupellose Jäger, die ganz gezielt einzelne Tiere anvisieren und töten.

An dieser Stelle eine kleine aber ernst gemeinte Warnung: dieser Blogbeitrag ist ab sofort gespickt mit nichtvegetarischen Bildern und wenig angenehmen Beschreibungen. Ich will diese Tiere keinesfalls als 'böse' oder abstoßend darstellen, ganz im Gegenteil, aber: es sind Jäger und sie ernähren sich von uns sympathischen Lebewesen. Genau wie bei Löwen, so gibt es diese blutige, raubtierhafte Seite an ihnen - die ich euch, absichtlich, zeigen bzw. nicht vorenthalten will!





Es gibt in der Antarktis keine Landraubtiere und auch keine Greifvögel. Damit fehlt die 'Gesundheitspolizei', also jene Instanz, welche die Schwachen und Kranken aussortiert und die Kolonien von Kadavern befreit. Genau diese Aufgabe haben hier die Skuas (Raubmöwen) und eben jene Riesensturmvögel übernommen. Was für manche Menschen brutal erscheinen mag, ist der Lauf des Lebens hier in Südgeorgien beziehungsweise ganz generell in der Natur. Außerdem haben die Riesensturmvögel ihrerseits auch Jungtiere, die im Laufe eines Sommers von Wachtelgröße auf Schwanengröße herangefüttert werden wollen. Es sind ziemlich lustige Wesen, diese Riesenküken: hühner- bis truthahngroße Wattebälle mit einem überdimensionalen Schnabel.


Laut Internet sind es 'nur' die größten, stärksten Männchen, welche aktiv Tiere töten: die jüngeren und kleineren GPs sind immer auf der Suche nach Aas. Wenn ich mich irgendwo hinlege, um etwa Tiere aus deren Augenhöhe heraus zu fotografieren, dann dauert es nicht lange, bis ein Riesensturmvogel zu Besuch kommt. Wenig elegant watschelt er dann herbei und lässt sich im Umkreis von zwei Metern nieder, um mich mehrere Minuten lang zu beobachten: es könnte ja sein, dass ich schon tot bin, schließlich habe ich mich ganze zwei Minuten nicht mehr bewegt...


Die mit Abstand meisten GPs sind Aasfresser bzw. suchen sich auf dem Ozean ihre Nahrung. Einige Individuen aber, vermutlich die erfahrenen, alten Tiere, können ziemlich skrupellose Jäger sein. Ihre Jagdstrategie ist dreist und einfach: sie gehen zu ihrer potentiellen Nahrungsquelle und versuchen, ihr die Augen auszuhacken, was vermutlich zum ziemlich sofortigen Tod führt ('vermutlich', weil ich's noch nie beobachtet habe).


Wenn die Taktik des "Ich hacke dir mal eben schnell die Augen aus" nicht klappt, sie aber jemanden gefunden haben, der sich nicht genügend wehrt, dann versuchen es die Vögel manchmal mit reiner Kraft. Sie verbeißen sich in Federkleid oder Fell fest und reißen so lange, bis sie Zugang zu Fett und Fleisch haben. Kurzum: sie hacken Löcher in andere Tiere hinein und beginnen mit dem Ausweiden, wenn es noch lebt.

Ein GP mit einem knapp 10 Tage alten Seebärenjungen,
das sich zu weit aus dem Schutz des Harems fortbewegt hat

Der Kampf zwischen Jäger und Gejagten kann Stunden dauern: dem beizuwohnen, ist harter Tobak... Ist ihr Gegenspieler dann endlich tot, sind die Riesensturmvögel erstaunlich effizient darin, den Kadaver zu leeren und einmal komplett umzukrempeln. Dass Tiere ohne Krallen bzw. Hände mit 'nur' einem Schnabel so etwas zu Stande bringen können, ist absolut erstaunlich!

Dieser Kadaver war verlassen, als ich ihn fand und mich mindestens eine halbe Stunde lang neben ihn kauerte, bis zuerst zwei Skuas vorbeischauten - und dann dieser relative junge, südliche Riesensturmvogel. Nachdem er mich kurz beobachtet hatte, begann er mit dem Fressen und ließ sich davon weder unterbrechen noch abbringen, als ich, irgendwann, langsam rückwärts von dannen robbte... Was für ein Erlebnis!
  
Auf diese Art und Weise sind sie in der Lage, See-Elefantenbabys und selbst erwachsene Königspinguine zu töten, also Tiere, die mindestens doppelt so groß und um ein Vielfaches schwerer sind, als sie selbst - und das ohne Krallen, sondern lediglich mit einem spitzen, kräftigen Schnabel und einer Menge Dreistigkeit und Kraft ausgestattet. Hartnäckig und ausdauernd sind sie auch: haben sie einmal mit dem Angriff begonnen, dann sind sie davon kaum mehr abzubringen. Nie zuvor ist mir ein Vogel begegnet, der so echsenhaft vom Charakter ist, so unglaublig 'anders' und urig. Die GPs sind für mich der klare Beweis, dass Vögel von Dinosauriern abstammen!


Am faszinierensten aber ist es, Riesensturmvögel an einem Kadaver zu beobachten. Gibt es nämlich irgendwo ein totes Tier, dann wissen relativ bald alle GPs der Umgebung davon, und dann beginnt der Streit ums Fressen. Jetzt zeigen sie, wie komplett anders vom Verhalten sie sind als alle mir bekannten Vögel. Um sich gegenseitig einzuschüchtern, breiten sie die Flügel aus und spreizen die Federn an Hals und Rücken: sie wollen so groß wirken, wie möglich.

 

Die ganz dominanten Tiere werfen ihren Kopf von links nach rechts, während sie einen krächzenden Ruf ausstoßen, der wie eine Mischung aus Pferdewiehern und Katzengejammer klingt und perfekt zu ihnen passt: ja, so könnten Dinosaurier klingen! Zu guter Letzt klappen die Streithähne dann noch ihren Schwanz nach oben und stolzieren herum, wie entfernte Verwandte des Auerhahns - es ist absurd-faszinierend!


Wenn das ganze Geprolle und Gehabe nicht hilft und der Konkurrent immer noch ans Fressen heran will, dann wird gekämpft. Die beiden Streithähne laufen aufeinander zu und verbeißen sich ineinander, während sie wild wiehernd und hoch aufgerichtet zeigen, wer der Stärkere ist. Spätestens bei dem Anblick besteht absolut kein Zweifel mehr: Velociraptoren haben überlebt! Sie sind nur kleiner geworden, haben ein Federkleid bekommen und ihre Krallen durch Schwimmhäute eingetauscht.


Ein kleiner Einwurf komplett am Thema vorbei, aber zu interessant um es nicht zu erwähnen: Velociraptoren, diese bekannten Raubsaurier mit den scharfen Krallen, welche in den 'Jurassic Park'-Filmen als 2 Meter große, 80 kg schwere Killer dargestellt werden, waren in Wirklichkeit nur so groß und schwer, wie ein Truthahn! Damit waren sie aber immer noch um einiges höher und schwerer als die Riesensturmvögel... :-)


Viel zu selten geschieht es, dass man Zeuge einer solchen 'Geepparty' wird, wie wir so ein Fressgelage nennen. Nur dann agieren die Vögel miteinander, nur dann zeigen sie dieses faszinierende Spektrum an Verhaltensweisen. Normalerweise sind es nämlich scheue, zurückhaltende Einzelgänger, die irgendwo am Strand sitzen und schlafen bzw. die Umgebung beobachten - still und unscheinbar, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ich hoffe, dass ich in den verbleibenden (nur noch 6!) Wochen noch ein oder zweimal die Chance bekomme, sie in Aktion zu sehen: denn sie haben mich komplett in ihren Bann gezogen, diese gefiederten Echsen - diese Drachen der Antarktis!