Einen Eisbären in freier Wildbahn zu sehen, ist jedes Mal ein besonderes Erlebnis. In sieben Jahren habe ich nun schon mehrere hundert Bären gesehen; teils nur als gelbe Punkte im Fernglas (wir nennen das einen "Pixelbären"), teils aus nur wenigen Metern Entfernung (vom Schiff aus, versteht sich). Trotzdem bin ich gerade bei Nahbegegnungen immer wieder aufgeregt, wie ein kleines Kind vor Weihnachten. Es sind einfach so dermaßen faszinierende Tiere: Symbolcharakter und Knutifikation hin oder her. Wirklich, ich empfinde tiefen Respekt vor ihnen und eine unbändige Neugierde, mehr über sie zu lernen. Einerseits sind sie für uns Menschen schwer zu lesen: sie haben keine wirkliche Mimik, wedeln nicht mit Schwänzen und Ohrenbewegung ist auch eher schwer zu sehen. Aber sie verfügen über Körpersprache, die ich immer besser zu deuten vermag. Ein Bär muss genau beobachtet werden, um verstanden zu werden: wie verhält er sich, wie zögernd oder forsch ist er, in welcher Konstitution befindet er sich, wie oft gähnt er, wie oft blickt er sich um... Ich kann mittlerweile relativ schnell sagen, ob es sich um ein Männchen oder Weibchen handelt und wie alt es ungefähr sein mag. Das ist echt schön! :-)
Die bisher eindrücklichste Begegnung dieses Spätsommers war die mit einer Bärenmutter und zwei etwa achtmonatigen Jungtieren. Eisbärenmütter säugen ihre Jungen zweieinhalb bis drei Jahre lang, und je älter die Jungen werden, desto mutiger werden sowohl sie als auch die Mutter. Im ersten Lebensjahr allerdings, wenn die Kleinen noch ziemlich hilflos und nicht ganz so schnell sind, verhalten sich Mütter oft sehr vorsichtig und nähern sich uns Menschen nur ungern. Daher kommt es, dass ich so ganz junge Bären meist nur aus großer Distanz sehen kann: wenn überhaupt; so oft sieht man Bärennachwuchs ja leider gar nicht. Vor zwei Wochen aber trafen wir eine Mutter, der wir ziemlich egal waren. Sie befand sich auf einer Insel von vielleicht 100m Durchmesser auf der so gut wie nichts wuchs.
Während die Jungtiere mit skeptischer Neugierde auf uns Menschen reagierten, die wir still in Zodiaks in Ufernähe dümpelten, waren wir der Mutter völlig egal. Sie war auf einer Mission: im Zickzackkurs schritt sie über die Insel, immer dicht begleitet von ihren munteren Jungen. Was erst wie ein zielloses Umhergeirre wirkte, stellte sich als Suche heraus: auf der Insel befand sich eine Kolonie von Küstenseeschwalben. Diese aggressiven Vögel machten der Bärin deutlich, dass sie hier nicht willkommen war: aber das beeindruckte sie herzlich wenig...
Man muss wissen, dass der Sommer für Eisbären traditionell eine Zeit des Fastens ist. Das Packeis (und damit die Robben) liegen weit nördlich des Archipels. Da es an Land hier so gut wie nichts zu fressen gibt, sitzen viele Bären diese karge Zeit einfach aus: sie hocken einfach irgendwo an Land herum, sparen Energie und warten darauf, dass das Packeis zurückkommt. Das können sich jene Bären leisten, die eine gute Fettreserve haben: dünne Tiere und Eisbärenmütter mit immerhungrigen Jungtieren haben diese Option aber nicht.
Und weil die Fastenzeit jetzt in den Zeiten des Klimawandels ohnehin immer länger wird, beginnen viele Eisbären damit, sich alternative Nahrungsquellen zu erschließen: und dazu gehören Vogelkolonien. Wissenschaftler berichten vermehrt, dass Bären ganze Jahrgänge zunichte machen, weil sie ein Nest nach dem anderen plündern. Besonders davon betroffen sind Eiderenten, Gänse und (wie in diesem Falle) Küstenseeschwalben. Sie waren längst durch mit der Brut: die Küken aber waren noch nicht flügge und folglich total hilflos. Jungvogel für Jungvogel verschwand im Maul der Bärin, und ich begann zu begreifen, warum ihr Bauch so dick war. Sie musste in den vorhergegangenen Stunden Dutzende Küstenseeschwalbenküken gefressen haben.
Die gesamte Kolonie befand sich in grenzenloser Panik; Dutzende von Vögeln attackierten die Bären mit ihren spitzen Schnäbeln, flogen wild kreischend umher und griffen sogar uns in den Zodiaks an. Warum dem so war, erkannten wir schnell: um den Bären zu entkommen, hatten sich viele Küken ins Wasser geflüchtet! Mir war bis dato nicht klar gewesen, dass diese fluffigen Küstenseeschwalbenküken schwimmen können. Aber klar: alles ist besser, als gefressen zu werden... Und so paddelten Dutzende Flauschbälle ungelenk und sichtbar ungerne im küstennahen Wasser, immer begleitet von lamentierenden Elternvögeln. Och jöööööö...
Auch die beiden Bärchen waren gut mit dabei und lernten von Mama, wie man Küken verspeist - nun, zumindest wenn sie nicht erforschen mussten, was diese schnell schwimmenden schwarzen Eisberge mit den bunten Lebewesen waren, die da am Ufer dümpelten und wie wild Klicklaute von sich gaben... Wir Menschen waren ihnen suspekt und gleichzeitig ungemein faszinierend - zumindest solange Mama in der Nähe war. Ohne Mama ging nichts!
Besagte Mama war eine Dame mittleren Altern, die Menschen kannte und weder als Gefahr noch als sonderlich interessant betrachtete. Sie behielt uns ständig im Blick, aber setzte ihren Fesskurs über die Insel völlig unbeirrt fort. Wie viele Küken an dem Tag in ihrem Magen landeten, weiß ich nicht. Eine Menge.
Irgendwann aber war Mama-Bär dann wohl satt und schritt zum Ufer. Dort versuchte sie dann, ihre beiden Jungen dazu zu überreden, mit ihr ans Ufer der Hauptinsel Spitzbergen zu schwimmen. Einziges Problem: die Kleinen hatten keine Lust. Das ist mir schon öfters aufgefallen: Eisbären sind zwar irre gute Schwimmer (die an den Vorderfüßen auch Schimmhäute besitzen), aber Jungbären scheuen das Wasser, wann immer sie können. Vermutlich, weil sie noch nicht ganz so gut isoliert oder abgehärtet sind, wie ein ausgewachsener Bär...
Allerdings konnten sie sich zieren, wie sie wollten: irgendwann reichte es der Bärin und begann sie, zu schwimmen. Und dann blieb den Kleinen nichts anderes übrig, als auch reinzuhopsen ins etwa 4°C kalte Nass. Begeisterung sieht anders aus - aber wer kann's ihnen verübeln bei den Temperaturen...?
;-)
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