Andere Vogelarten unterscheiden sich nur durch die Form einzelner Federn: Zilpzalp und Fitis sehen so komplett gleich aus, dass man sich die sechste Handschwingenfeder angucken muss, um sie zu identifizieren. Da die Küken beim Verlassen des Nestes schon komplett ausgewachsen sind, kann man sie bei einigen Arten nur am Zustand ihrer gerade neu gewachsenen, frischen Federn von erwachsenen Tieren unterscheiden. Bei wieder anderen Arten ohne Geschlechtsdimorphismus muss man die Flügellänge messen, um Männchen und Weibchen auseinanderzuhalten. Zum Glück gibt es dafür sehr detaillierte Bestimmungsbücher und hatte ich Ola immer nahebei, der mir alles erklärte. Und wenn man an einem Morgen mal eben 80 Vögel der gleichen Art fängt, lernt man diese Unterschiede dann doch ziemlich schnell.
Flügel vermessen bei einer jungen, männlichen Mönchsgrasmücke |
Wenn nicht zu viele Vögel in die Netze geflogen waren und wir folglich nicht zu sehr unter Zeitdruck standen, haben Ola und ich auch die Länge der Flügel vermessen, also vom Schulterknochen bis zur längsten Handschwingenfeder. Auf Lista wurden die Piepmätze auch noch gewogen, und schauten sie sich die Kondition der Tiere an, also ob am Bauch viel Fett zu sehen war, oder nicht. All diese Daten werden akribisch in Listen eingetragen und diese dann später digitalisiert ans Museum Stavanger geschickt - womit sie dann weltweit zugänglich sind.
So
aufgeregt die Vögel im Netz und unter der Beringen auch sind, so
schnell finden sie wieder zur Normalität zurück. Gefahren begegnen ihnen überall im Leben: Marder, Katzen, Raubvögel, Autos und Windräder lassen sie immer wieder nur knapp mit dem Leben davonkommen. Sich zu erschrecken, das sind sie also irgendwie gewohnt, und deshalb erholen sie sich schnell wieder von der kurzen Fangepisode. Die meisten
machten sich mit einem empörten 'Pieps' auf den Weg, wenn ich die Hand
öffnete, einige blieben sogar noch ein wenig sitzen! Ganz so schlimm kann's also nicht gewesen sein...
Ein Fitis, der nach seiner Beringung noch gute 30 Sekunden lang auf meiner Hand herumhüpfte... |
Damit die Vögel die Beringungsaktion möglichst gut überstehen, gilt es einige Regeln zu beachten. So fängt man beispielsweise nie im Regen, weil die Tiere völlig chaotisch in den Netzen hängen und ihr Gefieder dann nicht wasserdicht ist, woraufhin sie schnell an Unterkühlung sterben könnten. Vögel sind relativ temperaturanfällig: man muss immer auf die Außentemperatur achten und die Beutel beispielsweise nie im direkten Sonnenlicht hängen lassen, denn dann überhitzen sie. Beim Hantieren eines Vogels ist es wichtig, ihn nie an nur einem Bein festzuhalten, sondern immer an beiden, und außerdem so körpernah wie möglich, damit sie sich nichts ausrenken können, wenn sie einen Fluchtversuch starten. Beachtet man all dies, und das wurde sowohl auf Jomfruland und auch auf Lista vorbildlich getan, dann lassen sich Unfälle auf's absolut Unvermeidliche reduzieren.
Trotz allem überlebt schätzungsweise einer von 100 Vögeln die Fangaktion nicht oder wird verletzt - meist dann, wenn er versucht, dem Netz zu entkommen. Je kleiner der Vogel, desto empfindlicher scheint sein Kreislauf zu sein: so sah ich einen Vogel sterben, drei Minuten nachdem er ins Netz geflogen war, und das scheinbar ohne Grund, als habe er einen plötzlichen Herzinfarkt erlitten. Ola hat die Theorie, dass diese Tiere vielleicht ohnehin einen Herzschaden haben. Klar, beweisen kann das keiner. Fakt ist aber: wenn wir sie nach 15-75 Minuten wieder in die Freiheit entlassen, sind die meisten Vögel 'nur' stinksauer, ansonsten scheint es ihnen aber gut zu gehen.
Eine junge männliche Mönnchsgrasmücke |
Da Jomfruland ein beliebtes Naherholungsziel für die Südnorweger ist, sind dort gerade am Wochenende eine Menge Leute unterwegs. Wir fangen die Vögel sichtbar für alle, weshalb wir oft interessierte Beobachter um uns herum hatten. Nicht wenige Kinder blieben stundenlang bei uns, etwa um uns beim Tragen der Beutel zu helfen oder den ein oder anderen Vogel in die Freiheit zu entlassen. Ola hat erstaunlichen pädagogischen Feinsinn bewiesen und sich als hervorragender Lehrer und Inspiration entpuppt - mir gegenüber genau wie allen Gästen. Bei besonderen Fängen, wie etwa einem Schwarzspecht, Sperber und Ziegenmelker, haben wir die gesamte Umgebung zusammengetrommelt: über Whatsapp sind sogar Bewohner der Insel zu uns gekommen, 'nur' um dabeizusein, wenn wir die dann schon beringten Vögel in die Freiheit entlassen haben. Wie viele Zoos und Tiergärten, so versuchen auch Vogelwarten diesen schwierigen Spagat zwischen Umweltpädagogik, wissenschaftlichem Nutzen, Naturschutz und der Sorge um das Wohl des Tieres. Wir haben interessante Diskussionen geführt, etwa zu der Frage, ob der Vogelfang jetzt notwendig und/oder gut ist. So kritisch ich das auch sehe, besonders wenn ich dann wieder meinen (zwei-) täglichen Todesfall in den Händen hielt, so interessant, aufschlussreich und inspirierend war die direkte Arbeit mit den Dinosauriernachfahren.
Ein Ziegenmelker. Dieser total coole, nachtaktive Vogel heißt auch auf Latein so seltsam: "Caprilmulgus" heißt die Gattung, capra = Ziege; mulgere = melken. Plinius der Ältere hat in seiner Naturgeschichte fälschlicherweise berichtet, die Art würde nächtlich an den Eutern von Ziegen saugen. Das ist natürlich totaler Blödsinn - aber der Name hat sich bis heute gehalten. |
Laut Ola wird übrigens nur ein Prozent der beringten Vögel woanders wieder gefangen, bzw. von Leuten, welche die Funde weiterleiten. Der illegale Fang von Singvögeln im Mittelmeerraum, bei dem die kleinen Kerle zu Hunderttausenden in den Kochtopf wandern, hat viele Arten stark in Mitleidenschaft gezogen, dazu kommen dann noch Klimawandel und Habitatzerstörung durch Menschen. Wichtiger als die Ringfunde sind daher die Daten, welche die Beringer allein durch ihre Listen sammeln: also wie viele Vögel welcher Art in diesem oder jenen Monat in die Netze geflogen sind. So kann man Trends beobachten und dann eventuell eine Art komplett unter Schutz stellen, was immer mal wieder national geschieht.
Im Endeffekt liefert die Vogelwarte Jomfruland einen kleinen aber wichtigen Beitrag beim Sammeln internationaler, wissenschaftlicher Informationen. Ohne die Station wäre das Gebiet wohl nicht zum Nationalpark erkoren geworden, gäbe es hier keinen aktiven Vogelschutz, keine Nerzjagd, keine Biotoperhaltung und keine Zusammenarbeit mit Schulen und Kindergärten. Es sind die Bemühungen von Freiwilligen, die solch kleine Außenposten des Naturschutzes möglich machen. Vogelbegeisterte aus einem Einzugsgebiet von ca. zwei Autostunden kommen hierher, um Ola in den Ferien sowie an den Wochenenden zu helfen. Ich alleine habe in meinen zwei Wochen dort etwa zwei Kilometer Strand gesäubert, 799 Singvögel beringt und Ola dabei unterstützt, Stadtmenschen verschiedenen Alters unsere Arbeit vorzustellen, sprich: ihnen zum wahrscheinlich ersten Mal im Leben einen Vogel aus direkter Nähe zu zeigen.
Bürokraten (Entscheidungsträger des Umweltministeriums) mit Sperber. |
Mein Fazit dieser zwei intensiven Wochen: Vogelberingung ist wahnsinnig interessant, und ja, sie ist notwendig und wichtig, wenn sie nach wissenschaftlichen Standards durchgeführt wird. Diese Beschaffung von Basisdaten ist die einzige Möglichkeit, Informationen über den momentanen Status einer Population zu gewinnen und letztlich zu erfahren, was genau wir tun könn(t)en, um den allgegenwärtigen Negativtrends irgendwie entgegenzuwirken. Ich bin total froh, einen ersten Einblick in diese Arbeit gewonnen zu haben und bin mir sicher, dass dies nicht mein letzter Besuch auf Jomfruland war. Wer weiß: vielleicht bin ich nächsten Spätsommer/Herbst dann wieder da?!
:-)
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