Mitte August 2016 ging ein intensiver Sommer auf Spitzbergen zu Ende. Vor mir lagen nun sechs Wochen arbeitsfreie Zeit: so nenne ich das, wenn ich teilweise Urlaub machen kann, und mich aber dann auch um die „normalen“ Unannehmlichkeiten des Lebens kümmern muss: nötige Einkäufe tätigen, Büroarbeit (u.a. Fotos bearbeiten, Emails aus drei Monaten aufarbeiten), zum Friseur gehen - eben solch leidiger Kleinkrams.
Besagte arbeitsfreie Zeit verbrachte ich diesen Herbst, wie auch schon in den letzten Jahren, wieder in meiner zweiten Heimat Island. Wenn ich Urlaub mache, dann mag ich nicht in die Fremde reisen, denn das tue ich in der Arbeit schon oft genug. Ich mag auch nicht großartig mit anderen zusammen sein, schließlich bin ich als Guide und Vortragsredner ständig von vielen Leuten umgeben. Nein, wenn ich Urlaub habe, dann will ich alleine sein, und das möglichst in nordischer Natur, in der ich mich auskenne und mich Zuhause fühle. Sich zurückziehen, im Moment leben, sich viel bewegen / wandern / fotografieren, schlichtweg: in der Natur sein ohne dabei ihr oder anderen zu Lasten zu fallen, das ist meine Idealvorstellung von Entspannung.
Und eben weil ich zum ersten Mal seit Jahren so früh aus Spitzbergen zurückgekehrt war, konnte ich seit Ewigkeiten mal wieder bei angenehmen Temperaturen im Hochland unterwegs sein. Wenn man es gewohnt ist, auf Skiwanderungen um und unter dem Gefrierpunkt zu zelten, dann kommt einem das sommerliche isländische Hochland wie die Kanaren vor! Es ist ein ungewohnter Luxus, mit nur kleiner Ausrüstung unterwegs sein: kein dicker Winterschlafsack, keine Thermounterwäsche, kein Daunen-Pulli, kein stundenlanges Schneeschmelzen. Was für ein toller Gedanke, sich beim Klogang mal nicht den A.... abzufrieren!
Ziemlich enthusiastisch stand ich am 24. August 2016 abreisebereit im Busbahnhof BSÍ in Reykjavík. Als ich mein Ticket kaufte, passierte mir ein ziemlich dämliches Missgeschick: meine Kamera fiel aus Hüfthöhe auf den Betonboden. Professionelle Kamera hin oder her: das hat sie nicht einfach so weggesteckt. Das Objektiv riss das Bajonett und einen Teil des Gehäuses heraus: das war nichts, was man mit Sekundenkleber oder Panzertape reparieren konnte.
Der Schock saß tief, und statt in einen relaxten Wanderurlaub zu starten, verbrachte ich den Tag mit Schadenserfassung. Ich hatte Glück im Unglück: das Objektiv hatte den Sturz überlebt und funktionierte einwandfrei. So konnte ich dann meine geschrottete Nikon D610 austauschen mit meiner alten Nikon D700, die als Ersatzkamera fast immer mit von der Partie ist. Meine erste digitale Spiegelreflexkamera ist zwar mittlerweile acht Jahre alt, was für ein digitales Gerät eine elendig lange Zeit darstellt, aber die Qualität der Bilder ist immer noch erstaunlich gut. Und so stand ich einen Tag später dann wieder am BSÍ und stieg diesmal erfolgreich in den Linienbus Richtung Kjölur.
Wie bei fast allen meiner Touren, so entschied ich relativ spontan, wo es hingehen würde. Die Wettervorhersage war nicht gut: Regen erst im Süden, dann im ganzen Land. Das mittlere Hochland ist bekannt für seine geringen Niederschläge: einer von vielen Gründen, weshalb ich mich für diese Gegend entschied. Ich hatte Karten für sowohl den mehrtägigen Wanderweg des „Gamli Kjalvegur“ dabei, wie auch für die Rundwanderung um die nahegelegenen Kerlingarfjöll.
Letztlich war es reines Bauchgefühl, das mich nach Hveravellir brachte. Der Ort summte wie ein Bienenschwarm: mehrere Dutzend Autos und drei Busse parkten dort, und eine Horde von Menschen wuselte durch das von hölzernen Wegen verschandelte Hochtemperaturgebiet. Ich eilte mich, meinen Wandertrailer zusammen zu bauen, wuchtete meine wasserdichte Tasche auf die Radkonstruktion, klinkte mich ein - und folgte dem gut markierten Wanderweg Richtung Südwesten.
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Ein Bild nicht von dieser Wanderung, sondern einen Monat später bei Hvanngil aufgenommen.
Egal: ich wollte nur einmal den Wandertrailer zeigen, meine bandscheibenfreundliche Trage-Hilfe! |
„Gamli Kjalvegur“, oder auch „Kjalvegur hinn forni”, also die alte Kjölur-Route, ist eine der wenigen markierten Mehrtageswanderungen Islands, auf der man in Hütten übernachten kann. Drei technisch nicht anspruchsvolle Tageswanderungen von jeweils 12-14 Kilometer führen von Hveravellir über Þjófadalir und Þverbrekknamúli nach Hvítárnes, von wo man dann theoretisch noch weiter bis zum Gullfoss wandern kann. Ich war aber auch nicht abgeneigt, eine ganze Woche an einem Ort ´zu verbringen und diesen gut kennen zu lernen. Mit all diesen Optionen im Hinterkopf und 11 Tage Essen im Gepäck wollte ich erstmal nur raus in die Natur und anschließend einfach mal schauen, was Wetter und meine Laune so hergeben würden.
Im Moment interessierte mich ohnehin erstmal etwas ganz anderes: nämlich die Frage, ob ich meinen lustigen Wandertrailer diesmal ziehen können würde, ohne mir nach nur einem Kilometer blutige Scheuerwunden an der Hüfte zu holen. Wegen schlechter Erfahrungen aus vorherigen Versuchen hatte ich den Gürtel diesmal mit mehreren Schwämmen abgepolstert. Und das half tatsächlich, denn es bildeten sich "nur" Druckstellen. Damit machte das Wandern mit Gepäck tatsächlich wieder einigermaßen Spaß!
Gut gelaunt kam ich nach nur wenigen Stunden an der kleinen, gemütlichen Hütte in Þjófadalir an (oben im Bild als 'Þjófafell' markiert, so heißt der angrenzende Hügel). Die drei Hütten südlich von Hveravellir gehören dem isländischen Wanderverein FÍ, also meinem alten Arbeitgeber. Im Hochsommer wird hier ein mobiler Hüttenwart engagiert, der die fälligen Gebühren für Hütten- und Zeltübernachtung einkassiert und sich um die Anlagen kümmert. Ist kein Personal da, wird darauf vertraut, dass man sein Entgelt in den roten den Briefkasten in der Hütte schmeißt, oder nachträglich beim FÍ bezahlt. Ich bin in Gesprächen mit Wanderern immer wieder der irritierten Frage begegnet, warum man für die Nutzung eines Stücks Wildwiese und eines sehr einfachen Plumpsklos Geld zahlen soll, wenn man doch 500 Meter weiter umsonst zelten könnte. Leider verstehen manche Zeitgenossen nicht, dass es vor allem darum geht, die im Hochland oft empfindliche Vegetation zu schützen - und zu verhindern, dass jeder Wildcamper seine Notdurft samt Klopapier munter in der Landschaft verstreut.
Als ich in Þjófadalir ankam, waren keine anderen Zelte da und befanden sich nur vier Wanderer in der Hütte. Es war zwar schon Ende August, dennoch hatte ich vermutet, dass hier mehr los sei - eine sehr angenehme Überraschung! Also schlug ich frohen Mutes mein Zelt in der Nähe eines plätschernden Rinnsals auf und genoss den zunehmend bewölkten Abend in aller Stille und Einsamkeit. Dass es am nächsten Tag regnen würde, war absehbar, störte mich aber nicht. Ich wollte hier ohnehin ein paar Tage bleiben, denn ich mag diesen Ort und seine Nähe zum Gletscher Langjökull. Deswegen hatte ich extra meine Steigeisen mitgebracht: und die sollten gleich am nächsten Tag zum Einsatz kommen.
Tiefliegende Wolken und feiner Nieselregen machten Tag Nummer Zwei zu einem perfekten Gletscher-Erkundungstag. So stand ich dann nach wenigen Kilometern vor Islands zweitgrößter Eiskappe. Wie bei allen schmelzenden Gletschern gibt es im Sommer oft das Problem, dass das Schmelzwasser die von Sedimenten gefüllte Moränenlandschaft am Gletscherrand in ein schlammiges Moor verwandelt. Deswegen dauerte es eine Weile, bis ich einen Weg zum Eis gefunden hatte, bei dem ich NICHT bis zu den Knien im Matsch versank.
Das Eis des Langjökull war bis zur hoch liegenden Altschneegrenze dunkelgrau, braun und sogar rötlich vor lauter eingeschmolzenem Schmutz, und taute auf gesamter Fläche. Wie nach einem starken Regenschauer flossen überall dünne Wasserströme, die teils in Ritzen versickerten oder die vielen Schmelzwasserkanäle speisten, welche sich wie Adern übers Eis zogen. Ich kenne die Zahlen, ich weiß, dass die isländischen Gletscher jedes Jahr einen Meter (!!!) dünner werden. Das mit eigenen Augen zu sehen, am unmissverständlichen Beispiel dieser erschreckenden Mengen an Schmelzwasser, hat einen sehr bitteren Beigeschmack hinterlassen.
Während ich den Gletscher erkundete, senkten sich die Wolken immer weiter, bis ich den Hausberg von Þjófadalir, den Rauðkollur kaum noch sehen konnte. Also trat ich den Rückweg an. Als ich nach fühlbaren Ewigkeiten einen anderen Weg aus der Schlamm-Ebene gefunden hatte, tat ich eine folgenschwere Entscheidung. Ich beschloss, nicht den gleichen Weg zurückzugehen, den ich gekommen war, sondern den Berg im Uhrzeigersinn zu umrunden.
Ich hatte Karte und GPS dabei - was sollte mir da schon passieren?
Fröhlich suchte ich mir meinen Weg durch die sich immer tiefer senkenden Wolken. Ich finde Nebel total klasse! Unter anderem mag ich es, mich selber zu testen und das GPS so lange nicht zu nutzen, wie es mir möglich ist. Die Sicht lag mittlerweile bei schätzungsweise 50-100 Metern, was effektiv aber noch weniger war, da ich den Rauðkollur teilweise besteigen musste, um seinen Gipfel von Norden aus zu umgehen. Und so ging ich, und ging ich, und ging ich, viel weiter als ich vom Gefühl her hätte laufen sollen, aber immer noch ging es nicht ins Tal hinab. Verdammt, wie groß war dieser Berg denn bloß? Und so setzte ich mich schließlich hin, holte mein GPS aus der Fototasche: und stellte fest, dass ich vor der Abreise doch tatsächlich vergessen hatte, die frisch aufgeladenen Batterien aus dem Ladegerät ins GPS zu tun. Und die Ersatzbatterien lagen da, wo ich sie jetzt super brauchen konnte: im Zelt.
Klassisch.
Da ich absichtlich kein Smartphone besitze (mein alter Knochen kann telefonieren, sms-schreiben und die Batterie hält 4-6 Wochen, jawohl!), hatte ich keine andere Möglichkeit der wundersamen Richtungsweisung. Also studierte ich die Karte und überlegte noch einmal ganz genau, wo ich wohl sein mochte. Ich stand auf einem von mehreren Bergrücken, die südlich von mir in den hohen Berg Rauðkollur übergingen, also jenen Berg, auf dessen Ostseite mein Zelt stand. Der Wind kam schon die ganze Zeit beständig vom Gletscher, der lag im Westen, und das half mir prima beim Halten der Marschrichtung. Deshalb war ich mir auch einigermaßen sicher, wo ich sein musste.
Das Problem, so wurde mir schnell klar, war die Auflösung der Karte. Die war 1:100.000, und das ist zu grob, um realistische Höhenprofile zu sehen. Das Plateau, das ich gesucht hatte, gab es gar nicht: statt dessen war hier ein kleines Netz aus teils tief einschneidenden Schluchten, die ich irgendwie umgehen musste. Und das versuchte ich nun, mit weiterhin meist weniger als 100 Metern Sicht. Eine falsche Abzweigung, und ich stand vor einem sich immer tiefer einschneidenden Bach. Also Rückweg angetreten, etwas nach Norden ausgewichen, und neuer Versuch gen Osten. Irgendwann musste es doch einmal einen machbaren Abstieg ins Tal geben!
Es war kein schönes Gefühl, fast blind durch den dichten Nebel zu stapfen und zu wissen, dass bald die Nacht hereinbrechen würde. Es wurde beständig dunkler: wenn ich den Abstieg nicht bald fand, würde ich die Nacht hier ausharren müssen. Das war jetzt nicht gefährlich, sowas habe ich schon öfters gemacht (freiwillig wie unfreiwillig) - aber es war halt nicht wirklich angenehm. Habe ich die Geschichte eigentlich schon erzählt, als ich mal eine Nacht mit einem zuvor völlig Unbekannten auf einem nebligen Bergrücken ausgeharrt habe, eng aneinandergekauert, um der schlimmsten Kälte zu entgehen? Das war etwa die gleiche Jahreszeit und Landschaft, und spätestens seitdem weiß ich, wie schweinekalt eine windige Nebelnacht sein kann. Das zu wiederholen, darauf war ich nicht erpicht.
Letztlich ging es zum Glück schnell: nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, einen langsam nach Süd-Osten abfallenden Hang zu queren, und ich dabei etwa 50 Höhenmeter abstieg, kam ich endlich aus den Wolken heraus. Unter mir öffnete sich der Blick auf ein weites Tal. Oder war das eine Ebene? Erst war ich irritiert, dann aber begriff ich, dass ich mich viel weiter nördlich befand, als vermutet. Unter mir lag der Wanderweg und Jeeptrack, den ich am Tag zuvor entlang gekommen war. Der Bergrücken, auf dem ich stand, war glücklicherweise perfekt geeignet, um abzusteigen. Plötzlich waren da die Fußstapfen anderer Menschen, endlich erkannte ich „meine“ Hütte.
Heissa, war ich froh, die Nacht im Trockenen verbringen zu können!
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Ein Bild, zwei Tage später aufgenommen, von der kleinen Hütte und dem 1062 Meter hohen Berg Rauðkollur. |
Als toller Bonus war ich diese Nacht der einzige Mensch im Tal, selbst die Hütte stand leer. So nutzte ich den Vorraum, um meine plitschnasse Kleidung über Nacht dort trocknen zu lassen. Im Zelt ist das ja so gut wie unmöglich!
Und so kroch ich kurze Zeit später fröhlich in mein kleines Hillebergzelt, schmiss den Kocher an - und genoss einen ruhigen Abend. Das Geräusch der leise auf die Zeltplane passelnden Regentröpfchen begleitete mich in den Schlaf. Es war ein spannender erster Tag gewesen: so konnte es gerne weitergehen. Bloß beim nächsten Mal mit vorhandenen und funktionierenden Batterien im GPS, danke! :-)
Vier Tage später ging ich die Wanderung noch einmal an: diesmal bei gutem Wetter. Da war ich dann ziemlich froh, dass ich nicht den Bächen gefolgt war und auf den Rücken geblieben bin! Im obrigen Bild stehe ich in etwa an jener Stelle, an der ich wieder aus den Wolken herauskam und begriff, dass mich dieser langgezogene Bergrücken "nach Hause" führen würde. Ziemlich genau in der Mitte im oberen Drittel, vor dem gletscherbedeckten Berg Hrútfell, liegen Hütte und Campingplatz. Schaut hier, ein Zoom-Bild, in dem man die Hütte erkennen kann: