Samstag, 10. September 2016

Walrosse - die Charakterköpfe der Arktis

Wenn ich mich entscheiden müsste und ein Tier der Arktis benennen sollte, das für mich die größte Persönlichkeit ausstrahlt, dann ist es das Walross. Rentiere sind lustig, leicht dumm und lieb, Eisbären sind intelligent und berechnend, Robben sind niedlich und Wale sind gigantisch - aber Walrosse, das sind echte Charakterköpfe. Seit ich sie das erste Mal gesehen habe, sind sie meine absoluten Lieblingsrobben geworden!



Walrosse bilden eine von drei Familien innerhalb der Robben. Die Männchen des auf Spitzbergen lebenden Atlantischen Walross werden bis zu 3.5 Meter lang und 1.5 Tonnen schwer. Die Weibchen sind fast genauso groß, aber wesentlich leichter: 3 Meter lang und 900 kg schwer wird eine ausgewachsene Walross-Dame.
In der freien Wildbahn werden die Tiere 30-40 Jahre alt. Stoßzähne bekommen beide Geschlechter, wobei die der Männchen massiver und länger werden können: nämlich bis zu 1 Meter lang und 5 kg schwer. Die Zähne dienen einerseits zur Verteidigung, andererseits aber als Statusymbol: je beeindruckender die Zähne, desto toller das Walross... Außerdem nutzen sie ihre Hauer wie Eispickel, um sich auf Eisschollen hinaufzuziehen - und gerne auch mal als Kopfstütze...



Zugegeben: einen Schönheitswettbewerb würden die Walrosse vermutlich haushoch verlieren, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Sie sind weder süß noch hübsch, sondern einfach nur ... seltsam, in jeglicher Hinsicht.
Dennoch: als hässlich kann ich sie nicht bezeichnen. Ich finde sie irgendwie knuffig - wenn ich nochmal Kind wäre, würde ich mich unbedingt ein Walross-Stofftier wünschen! Ein passendes hab ich in Ny-Ålesund auch schon gefunden... ;-)

Es gibt eine Menge Negatives aus der Arktis zu berichten: aber glücklicherweise nicht über Walrosse. Sie waren auf Spitzbergen so gut wie ausgerottet, weil Robbenjäger sie im 16. bis 18. Jahrhundert zu Zehntausenden abschlachteten. Einerseits ließen sich die aus Elfenbein bestehenden Stoßzähne gewinnbringend verkaufen, andererseits war ihre bis zu drei Zentimeter dicke Haut gefragt, um Keilriemen daraus herzustellen.

Seit 1953 stehen Walrosse auf Spitzbergen komplett unter Schutz: und haben die Inselgruppe seitdem als Lebensraum für sich zurückerobert. 1983 gab es hier wieder 100 Tiere - und seitdem geht die Population so steil nach oben, dass man von einer Explosion sprechen kann. Mittlerweile leben auf und um Spitzbergen wieder mehrere tausend Walrosse - genaue Zahlen kennt keiner, aber es werden Jahr für Jahr mehr.


Die Tiere verbringen das ganze Jahr und ihr ganzes Leben ungefähr in derselben Region. Im Winter schlafen sie auf Eisschollen, im Sommer an Sandstränden. Ihre dicke Haut und die noch dickere Fettschicht lassen sie die Kälte nicht spüren: sie scheinen sich bei jedem Wetter und jeder Temperatur wohlzufühlen.




An Land sind die Kolosse träge und ziemlich unbeweglich: allein vom Wasser zum Schlafplatz zu gelangen, dauert Minuten und scheint unendlich schwer zu sein. Nun ja, wenn man über eine Tonne wiegt und sich nur mit Hilfe seiner Vorderflossen an Land fortbewegen kann, ist wahrscheinlich jeder Zentimeter ein Marathon... Vermutlich schlafen sie auch deswegen dann gleich mehrere Tage am Stück - und das am liebsten zusammen mit Dutzenden bis Hunderten von anderen Walrossen.

Es mag nicht so aussehen, aber: dies sind über 200 Walrosse!



   
Die Gruppe bietet ihnen Schutz vor ihrem einzigen Feind: dem Eisbär. Dabei muss man aber wissen, dass Eisbären zwar immer wieder versuchen, Walrosse zu jagen, aber seltenst erfolgreich sind. Einerseits haben sie einen Heidenrespekt vor den Stoßzähnen, andererseits ist es für sie fast unmöglich, ein Walross an der Flucht ins Wasser zu hindern. Zu schwer sind die Riesenrobben, zu dick ist ihre Haut, sodass die Zähne und Krallen daran regelrecht abprallen.


Die größte Chance für einen Eisbären, ein Walross zu ergattern, besteht darin, eine ganze Herde in Panik zu versetzen. Wenn eine ganze Gruppe Walrosse gleichzeitig vom Land ins Wasser eilt, dann kann es geschehen, dass sie sich gegenseitig mit ihren Stoßzähnen verletzen oder kleinere Jungtiere erdrückt werden. Dann, und nur dann, haben Eisbären eine Möglichkeit, sich ein Walross zu greifen: gesehen habe ich es allerdings noch nie. Die wenigen Male, wenn ich einen Bären an einem toten Walross fressen sah, handelte es sich um ein im Meer verendetes Tier, das von der Brandung an den Strand gespült worden war.

Einmal habe ich erlebt, wie ein Bärin mit Jungtier direkt zwischen Walrossen hindurch lief, ohne dass diese sich im Geringsten gestört fühlten. Auch die Bärin unternahm keinen Versuch, die Riesen jagen zu wollen: sie sah zu ihnen hinüber, schmachtend fast, aber räumte sich keinerlei Chancen ein. Andere Eisbären, auch große Tiere, machen einen weiten Bogen um die Walrosse - als würden sie nicht einmal als Nahrungsquelle in Betracht kommen. Das mag einerseits absurd erscheinen, allerdings muss man ja nur einmal einen realistischen Blick auf die Größenverhältnisse der Kontrahenten werfen. So ein Eisbär wiegt 300 - 700 kg, ein Walross dagegen 1000 - 1500 kg. Da würde ich es mir auch mehrmals überlegen, einen Angriff zu starten!

Ja, und so liegen die Walrosse meist ziemlich sorgenfrei an ihren Sandstränden - und das manchmal tagelang. Innerhalb der Gruppe gibt es eine Menge interner Querelen: mal liegt der eine auf dem anderen (was bei 1.5 Tonnen sicherlich unangenehm sein kann), mal muss sich über unangenehm pieksende Stoßzähne beschwert werden. Und so wird grunzend und rülpsend geschimpft, mit Stoßzähnen gedroht und ganz ordentlich zugeschlagen - kein Wunder dass die Viecher völlig vernarbt sind!
Selbst, wenn alle schlafen wollen, ist irgendwer immer damit beschäftigt, sich zu kratzen und zu schubbern. Und wenn dann ein Walross aus der Mitte der Gruppe beschließt, ins Wasser gehen zu wollen, gibt es einen Riesentumult - klar, weil alle anderen dann aus ihrem Schlummer gerissen werden.
Ist ein Walross dann wieder im Meer, wird es mit größter Wahrscheinlichkeit einige Tage lang alleine unterwegs sein und fressen. Bis der Magen wieder voll ist, kann es etwas dauern, denn: diese Riesen ernähren sich ausschließlich von Muscheln!


Bis zu 450 Schnurrbarthaare hat ein Walross: jedes ist einzeln beweglich und extrem sensibel. Sie nutzen sie, um den Meeresboden abzutasten. Fühlen sie den Siphon einer Sandklaffmuschel, dann graben sie sie aus, meist mit der rechten Vorderflosse. Dann wird die Muschel zwischen die starken Lippen genommen und ratzfatz ausgesaugt. Im Magen landet nur weiches Muschelfleisch, aber keine einzige Schale!

Ein ausgewachsenes Walross frisst pro Tag wohl bis zu 70 Kilogramm reines Muschelfleisch. Und die bis zu 10 Zentimeter großen Sandklaffmuscheln scheint es im Überfluss zu geben: klar, die Walrosse waren über 200 Jahre lang komplett dezimiert, da konnten sich die Muscheln hier wunderbar vermehren. Und nun gibt es Nahrung im Überfluss - wohl der Hauptgrund, weshalb der Bestand sich so rasant erholt.


Außerhalb der Paarungszeit, die im Januar/Februar stattfindet, halten sich Weibchen und Männchen in separaten Gruppen auf. Sobald ein männliches Jungtier etwa 3-4 Jahre alt ist, verlässt es die Mutter und schließt sich einer Junggesellengruppe an, die sich meistens im Westen von Svalbard aufhält. Die Töchter dagegen bleiben bei den Müttern im Osten von Svalbard. Und während die Männchen ziemlich relaxt und sorgenfrei an den Stränden "chillen", sind die Weibchen generell viel vorsichtiger und mögen menschliche Annäherung nicht so sonderlich gerne: klar, macht Sinn, sie haben Jungtiere bei sich, die es zu beschützen gilt!

Erst im zweiten Lebensjahr werden die Stoßzähne sichtbar.
Hier also links die Mutter, die bestimmt schon 15-20 Jahre alt ist, mit ihrem einjährigen Jungtier.
Rechts ein 4-5 jähriges Walross, das eventuell eine ältere Tochter sein könnte.

 
Walrosse sind sanfte Riesen: "Harte Schale, weicher Kern" - bei keinem anderen Tier trifft dieser Spruch so zu! Es sind ganz sensible Wesen, die schnell in Panik ausbrechen können - besonders, wenn sie sich an Land ausruhen, denn dort sind sie unbeholfen und langsam. Außerdem können sie extrem schlecht sehen. Weil wir das wissen und keine Massenpanik auslösen wollen, halten wir Guides und Touristen respektvollen Abstand: normalerweise sind 30 Meter die absolute Grenze. Wenn man sich ihnen langsam und leise nähert und in dieser Distanz stoppt, scheinen sie uns nicht einmal wahrzunehmen.

Der Besuch einer Gruppe Walrosse ist, ohne Zweifel, ein unvergessliches Erlebnis für alle Sinne. Die Viecher riechen in etwa so extrem, wie eine große Vogelkolonie oder eine Kläranlage... Und sie geben allerlei Geräusche von sich, die wir Menschen ausnahmslos in den Bereich "schlechte Manieren" einordnen würden...

Eine Nahbegegnung mit einem Walross kann man nicht erzwingen: dafür sind sie zu scheu und ist die Gefahr zu groß, eine ganze Gruppe ins Wasser zu scheuchen. Nein, sie selbst müssen auf einen zukommen, und wir Menschen müssen dann entscheiden, wie nahe wir sie an uns herankommen lassen möchten. Befindet man sich zum Beispiel in einem Zodiac, das ja ein mit Luft gefülltes Gummiboot ist, dann ... sollte man bedenken, dass Walrosse Stoßzähne haben, die sie auch zu nutzen wissen.



Ich habe bisher noch keine schlechten Erfahrungen mit wilden Tieren gemacht und vertraue meinem Bauchgefühl: bisher habe ich immer gewusst, wann die Toleranzgrenze der Tiere erreicht war. Ist die Stimmung relaxt, weil wir die Tiere nicht bedrängen und einfach nur still in guter Distanz zu ihnen auf dem Wasser dümpeln, dann habe ich auch in Situationen wie auf dem obrigen Bild kein schummriges Gefühl - obwohl ich weiß, dass in den letzten Jahren immer wieder Schlauchboote von Walrossen punktiert worden sind.



Die tollsten Walross-Begegnungen aber erlebte ich vom Ufer aus. Im Wasser sind Walrosse agil und allein deswegen schon viel mutiger, weil sie wissen, dass sie schnell flüchten können. Verhält man sich in Ufernähe also ruhig, dann kann es gut sein, dass ein oder mehrere Walrosse beschließen, mal zu schauen, wer oder was wir sind. Und wenn man dann wirklich ganz still ist, sich nicht bewegt und den Tieren keinen Grund zur Sorge gibt, dann trauen sie sich manchmal im Laufe von mehreren Minuten immer näher an einen heran.



Erst bei einer solchen Annäherung habe ich begriffen, wie groß diese Tiere wirklich sind.
Wir Fotografen laufen ja öfters mal Gefahr, Distanzen zu unterschätzen, weil wir hinter dem Weitwinkelobjektiv festkleben - und durch den Sucher sieht ja alles kleiner und weiter weg aus.
Es ist schon ganz schön beeindruckend, wenn man plötzlich realisiert, dass man zu einem Walross  aufschauen muss - weil es höher aus dem Wasser aufragt, als man selber.
Gut, ich lag auf dem Bauch - aber trotzdem, es war ein echter Aha-Moment. Aus der Distanz und dem Blickwinkel sehen selbst kurze Stoßzähne ganz schon groß aus. Und sind die über 3 Meter Körperlänge nicht mehr nur Theorie!





Nach diesem Erlebnis beschloss ich, dass Knien vielleicht doch eine etwas sichere Option ist, was meinen persönlichen Rückzug angeht. Aber selbst dann bin ich kleiner, als ein Walross, wenn es sich aufrichtet! 

Mein Respekt vor diesen stillen Riesen wächst mit jeder Begegnung: ich habe sie richtig zu lieben gelernt, diese skurrilen Persönlichkeiten. Es sind einfach nur coole Viecher, die ihr Leben in vollen Zügen genießen und das Wort "Stress" nicht kennen. Wenn ich mir aussuchen dürfte, als was ich im nächsten Leben wiedergeboren werde, dann stände das Walross ziemlich hoch auf meiner Liste!
:-)











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