Montag, 5. September 2016

Svalbard: Ein Sommer ohne Eis

2016 war mein fünfter Sommer auf Svalbard, diesem hoch-arktischen Archipel zwischen Norwegen und dem Nordpol. Von Mai bis in den August hinein habe ich wieder als Guide und Fotograf auf kleinen Expeditionsschiffen gearbeitet. Und wie in den letzten Jahren, so habe ich wieder feststellen können: hier gleicht kein Sommer dem anderen. 2016 war für mich persönlich eine Saison der Gegensätze und emotionaler Achterbahnfahrten: von himmelhoch-jauchzend bis nachdenklich-betrübt war alles dabei. Und oft traf beides gleichzeitig zu.



Von Anfang an schien es, als würde dieser Sommer alles bestätigen wollen, was ich in meinem TED-Talk angesprochen habe. Als ich nämlich in der dritten Maiwoche nach Svalbard reiste, um in meine dreimonatige Sommersaison dort oben zu starten, da war nichts so, wie es sein sollte. Von Januar an war jeder Monat der wärmste, der je gemessen wurde. Schon der Winter war mit teilweise über 10°C über Normal so warm gewesen, dass sich um Svalbard herum so gut wie kein Treibeis gebildet hatte. Viele Fjorde und Buchten, die normalerweise zufrieren, waren offen geblieben; einzig und allein innerhalb der Hinlopenstraße schien sich gutes Packeis gebildet zu haben. Trotzdem konnten die Schiffe Svalbard schon im Mai umrunden - und das war extrem ungewöhnlich. Niemand, den ich kannte, hatte das schon erlebt.


Die Verteilung von Packeis um Spitzbergen. Ein Vergleich von zwei Jahren: oben der 04. Juni 2013, unten der 23. Mai 2016. Rot und orange ist sehr dicht gepacktes Eis, gelb und grün ist offener (eher schwimmende Schollen in Wasser), und blau bedeutet offenes Wasser mit eventuellen Eisstücken hier und da.
Vergessen darf man hierbei nicht, dass schon die Situation aus dem Jahr 2013 vom Klimawandel geprägt ist: auch hier hat man bereits gesagt, dass das Eis sich sehr früh zurückgezogen hat. 2016 aber hat sich so gut wie kein Eis gebildet - eine Katastrophe für alle Lebewesen, die vom Packeis abhängig sind.

 
Für viele Tiere ist das Packeis Lebensraum, auf dem sie jagen und/oder ihre Jungen gebären - ist es nicht da, dann haben sie einfach weniger Habitat und Nahrung zur Verfügung. Die Vögel fliegen oft bis zum Packeis, weil es dort die beste und meiste Beute gibt. Ist das Packeis weiter von den Vogelklippen entfernt, müssen längere Wege zurückgelegt werden, was die Brutsaison nach hinten verlängert.
Manche Robbenarten schaffen es nur noch unregelmäßig, Junge großzuziehen, weil diese ertrinken, statt auf dem Eis gesäugt werden zu können.

Das bekannteste Tier dort oben, der Eisbär, findet schlichtweg keine Nahrung, wenn kein Eis da ist - ich meine, er heißt nicht ohne Grund EIS-Bär!
Wenn das Eis nicht da ist, könnte man sie auch "Arktische Schafe" nennen: sie fressen alles, was sie finden. Vogeleier (deswegen gehen die Populationen einiger Vogelarten auf Spitzbergen gerade steil nach unten), Aas (wovon nicht viel vorhanden ist), Seetang und Landpflanzen. Manchmal klettern die Eisbären in steilen Hängen herum und grasen, wie Kühe! Nicht immer konnte ich erkennen, was genau sie mampften: einmal schien es Gras zu sein, ein anderes Mal Alpensäuerling, also eine Art Sauerampfer. Das ist schmackhaft, aber vermutlich wenig nährstoffreich und statt dessen ziemlich abführend. Aber ich denke, dass die Bären ganz bewusst gegen den Hunger anfressen: ein Magen voller Sauerampfer ist besser, als ein leerer - Dünnschiss hin oder her!


Dieses und das folgene Bild zeigen, dass die Bären sehr erfindungsreich sind, was das Erschließen neuer Nahrungsquellen angeht. Wie schon an anderer Stelle erwähnt: Eisbären sind sehr intelligent und von Natur aus extrem neugierig. Dies hat ihnen in der Vergangenheit dabei geholfen, Zeiten zu überdauern in denen es wenig(er) Treibeis und Robben hab, und dies wird der Art auch in der Zukunft helfen, irgendwie zu überleben. Dennoch ist ganz klar: Eisbären können keine Vegetarier werden; sie sind auf tierische Fette angewiesen, um den Extremen trotzen zu können. Ein Magen voller Gras und Seetang hilft vielleicht dabei, ein paar Tage länger ohne Fleisch zu überleben: es kann aber keinen Robbenspeck ersetzen.


Im Nordwesten Spitzbergens wurde dies diesen Sommer ganz besonders deutlich. Weder hatte sich hier im Winter Eis gebildet, noch hatte der Wind ein Packeisband später nach Süden gedrückt. Die Bären in dieser Gegend standen so gut wie ohne Nahrung dar: und das schon seit dem Frühjahr 2015, also seit eineinhalb Jahren! Während die Bären in der Hinlopenstraße oft normal bis fett waren, traf ich in der Nordwestecke fast ausschließlich dünne bis extrem dünne Bären an. Tiere, die den Sommer mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht überlebt haben.


Diese Bilder dokumentieren die meisten und dünnsten Bären, welche ich in den vergangenen Wochen gesehen habe. Den Anblick zweier verhungerte Tiere, die tot an Land lagen, will ich euch hier aber ersparen. Obwohl: so ganz ohne toten Eisbär kam auch diese Collage nicht aus, denn der Bär vom 13. August nagt an den Resten eines toten Artgenossen herum.

Wie im letzten Jahr, so scheine ich der einzige Guide hier oben gewesen zu sein, der so viele dünne Bären gesehen hat. In Diskussionen mit anderen erntete ich oft Schulterzucken und die Aussage: „Neee, wir sehen hauptsächlich normale bis dicke Bären.“ 
Ich vermute einmal, dass dies einerseits daran liegen könnte, dass Eisbären oft dicker aussehen, als sie es sind. Ähnlich wie bei Hunden haben sie ein dickes Fell und sieht man manchen ihre Magerkeit nur bei bestimmten Bewegungen an. Die auffällige Anzahl von mir beobachteter, dünner Bären liegt aber auch daran, dass ich eher in Landnähe unterwegs bin: die Reisen, die ich begleite, haben oft einen Fokus auf Wanderungen und halten sich immer mal wieder in besagter, eisfreier Nordwestecke auf. Andere Schiffe meiden die Gegend und fahren ganz gezielt schnell hoch zum Packeis und in die Hinlopenstraße, um Bären zu finden. Weil es dort den ganzen Sommer über Nahrung gab, sind die Bären da natürlich dick! Ganz besonders freue ich mich immer, wenn solch dicke Bären dann auch noch Weibchen sind. Wenn eine Bärin, die jetzt gerade keine Junge führt, so mollig ist wie unten zu sehen, dann wird sie im kommenden Winter garantiert Junge zur Welt bringen.




Und so will ich diesen ersten Eintrag der Sommersaison nicht vollends negativ ausklingen lassen, sondern mit ein paar Lichtblicken beenden. Ein einziges Mal bin ich diesen Sommer nach Norden zum Packeis gekommen, und prompt trafen wir dort eine Mutter mit anderthalbjährigen Teenagern - alle gut in Schuss: sportlich-schlank, aber mit vollem Magen; sie hatten also vor kurzem noch gefressen. Eine Eisbären-Idylle wie aus dem Bilderbuch!

Und dann ging für mich ein lang-gehegter Traum in Erfüllung: in Form eines toten Wals. Alle paar Jahre wird irgendwo an Spitzbergen ein toter, großer Wal angespült: ein Fest für die Eisbären, die dann erstmal wochen- bis monatelang ausgesorgt haben. Wenn genügend Nahrung vorhanden ist, werden die Einzelgänger zu sozialen Gruppentieren, die sich gegenseitig akzeptieren und teilweise sogar miteinander spielen. Dies zu erleben hatte ich mir schon immer gewünscht: und nun war es soweit. Am Strand waren zwar nur noch die fast abgeknabberte Wirbelsäule und der Teil des Unterkiefers eines großen Wals zu finden, aber die Bären waren relaxt, allesamt vollgefressen, voller Energie und Tatendrang. Dies beobachten zu können, war ein Riesenprivileg: und hat mich die ganzen negativen Nachrichten endlich mal vergessen lassen. Die Natur und das Leben finden halt doch immer einen Weg - egal wie schwer wir Menschen es ihr auch machen!

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