Samstag, 17. September 2016

Svalbard: Sommer, Sonne, Plastikmüll

Auf Svalbard war der vergangene Sommer geprägt von viel gutem und warmem Wetter: wunderbar für uns Menschen, aber herausfordernd für einige Tiere. Polarfüchse und Eisbären sind ja (wie übrigens die meisten Tiere) nicht in der Lage, zu schwitzen: dies können sie nur an den Pfoten, also bloß einem winzigen Teil der Körperoberfläche. Den Eisbären hat man das angemerkt: an warmen Tagen waren sie eher faul und suchten sich schneebedeckte Untergründe zum Schlafen. Und die Polarfüchse liefen hechelnd durch die Gegend - manchmal hatte ich das Gefühl, die Zunge würde bald den Erdboden berühren...


Für mich sind so herrlich-warme Tage hier oben immer mit einem bitteren Beigeschmack versehen. Svalbard ist einer der nördlichsten Orte der Welt: hier herrschen traditionell Wind und Bewölkung vor. Die Durchschnittstemperatur im wärmsten Monat Juli beträgt laut Statistik 5,9°C. Im Juli 2016 betrug die Durchschnittstemperatur 9°C - also mal eben 3,1° höher als "normal". Und das spürten wir natürlich! Tag für Tag Sonnenschein und angenehme Temperaturen von teilweise über 15°C zu erleben, war Klimawandel par excellence. Dass 2016 das wärmste Jahr seit Beginn der menschlichen Messungen sein wird, wundert mich daher leider nicht. Es ist erschreckend und absolut furchteinflößend, weil ich einfach nicht absehen kann, wohin das alles führen wird.
                       


Wie schon im vergangenen Sommer, so bewirkten die hohen Temperaturen häufige Nebelbildung: wenn warme Luftmassen auf (Gletscher-)Eis treffen, kondensiert die Feuchtigkeit logischerweise als bodennahe Wolkenschicht. Das ist jetzt nicht so wirklich toll, wenn man etwas an Land unternehmen möchte: denn da tummeln sich ja bekanntlich auch die Eisbären, die wir tunlichst schon aus weiter Ferne erkennen möchten! Nebel kann einen also dazu zwingen, aus Sicherheitsgründen an Bord zu bleiben - was ich jetzt aber gar nicht als so negativ empfinde. Denn meistens ergeben sich dann spektakuläre Anblicke: Nebel kann wunderschön sein!

Neun Touren habe ich diesen Sommer begleiten dürfen, als Guide und Fotograf, auf meist kleinen Schiffen. Und wie in bisher jedem Sommer, so musste ich erleben, wie eigentlich alle meine Gäste ziemlich geschockt waren über den Zustand der Küsten hier oben. Wenn man an die hohe Arktis denkt, da kommen einem fantastische Landschaften in den Sinn, Gletscher und Eisberge, sowie die berühmten arktischen Tiere. An eines denkt man aber garantiert nicht: an Müll.
Genauer gesagt: an Plastik-Müll.



Leider ist dies bittere Realität. Tonnen von Plastik in jedweder Form und Konsistenz werden Jahr für Jahr an die Strände Spitzbergens geschwemmt: hergebracht über den Golfstrom und ebenso von der anderen Seite, aus der Barentssee, von Russland und Sibirien.

Und so liegen dort Fischernetze, Plastiktüten in allen Farben und Größen, Verpackungen aus der Fischerei, Gummi-Handschuhe, PET-Flaschen, Plastik-Bojen, Schuhe, Zahnbürsten, Benzin- und Ölkanister, Feuerzeuge, Schraubverschlüsse von Flaschen - die Liste kann endlos weitergeführt werden.


Die Strände sehen teilweise aus, als würde man am Rande einer Mülldeponie stehen: es ist absolut erschreckend. Man wähnt sich im falschen Film! Ich meine: wer stellt sich denn SO die Arktis vor?

Wir sind hier weit entfernt von jeglicher Zivilisation: der Nordpol ist näher, als das europäische Festland, es gibt hier Eisbären, Polarfüchse und unberührte Landschaften. Wer hätte geglaubt, dass unser Zivilisationsmüll selbst diese abgelegenen Ecken der Welt erreicht hat, und dann auch noch in dieser Menge?
Man will es nicht glauben, kann es nicht glauben - und ist einfach nur schockiert.
Denn dies ist nichts anderes als (mal wieder) ein Armutszeugnis der menschlichen Zivilisation.



Wie viele Fotos habe ich nicht schon gemacht, von Eisbären, die an Müll vorbeilaufen?
Bilder wie diese sind unverkäuflich: wer will schon Wildtiere neben Fischernetzen oder Plastikkanistern sehen? Wer will schon genauer hinschauen und die Skelette der Vögel erkennen, die in den meist absichtlich im Meer entsorgten Fischernetzen qualvoll ertrunken sind? 

Und wer begreift schon, dass in den Bündeln aus Verpackungs-Schnüren und Klumpen von Netzen am Strand nicht einfach irgendwelche Geweihe stecken, sondern dass daran noch Schädel befestigt sind? Die Geschichte ist zu verrückt, um wahr zu sein: Rentiere suchen sich aktiv menschlichen Müll aus, um sich daran zu kratzen. Wenn nämlich ihre Geweihe ausgewachsen sind, verlieren sie die darauf wachsende Haut, den sogenannten Bast - und das scheint elendig zu jucken. In Ermangelung von Bäumen und Sträuchern reiben die Spitzbergen-Rentiere ihr Geweih deshalb mit Vorliebe an Netzen am Strand - in denen sie sich dann hoffnungslos verheddern, verfangen - und verdursten.

Ironischerweise scheint ein verfangenes Rentier andere anzulocken (ganz nach dem Motto: wenn der da so viel Zeit verbringt, muss es was Gutes sein!) - mit dem Ergebnis, dass meist gleich mehrere Rentiere in ein und demselben Netz verenden. Ihre ausgebleichten Knochen sind noch Jahre später im Netz zu finden: wie oft ich das nun schon gesehen habe, weiß ich selber gar nicht.

Weil das Müllproblem auf Svalbard Jahr für Jahr größer wird, hat die Tourismusbranche hier als Erste Initiative ergriffen. Viele Schiffe holen aktiv Müll an Bord, vor allem die an den Stränden befindlichen Netze. Meist bedarf es nicht viel, um unsere Gäste zum Sammeln von Müll zu motivieren: es ist eine Kleinigkeit, die wir ohne großen Aufwand tun können. Und so werden hier jeden Sommer auf die Weise Tonnen von Müll eingesammelt und nach Longyearbyen gebracht. 


Das obrige Bild zeigt den Müll, den Guides und Gäste eines mittelgroßen Schiffes auf einer einzigen Reise gesammelt haben. Klar: selbst bei 15 Schiffen, die jedes Jahr 3-13 Reisen um Svalbard unternehmen, kommt da nur ein Bruchteil dessen zusammen, was jedes Jahr neu hier oben an den Stränden angeschwemmt wird. Dennoch ist dies ein Riesenerfolg: denn viele Strände sehen viel besser aus, seit die ständigen Säuberungsaktionen begonnen haben. Es ist ein Beispiel dafür, dass Tourismus und wir Menschen nicht nur für negative Dinge zu verantworten sind: sondern dass es auch Grund zur Hoffnung gibt. 

Vor ein paar Jahren noch wurde Plastik von den wenigsten Leuten als Gefahr wahrgenommen: dies hat sich grundlegend geändert. Plastik ist nun in aller Munde (leider ist das auch wörtlich zu nehmen, wenn es um Mikroplastik geht...): wir haben begriffen, dass wir uns ein Problem geschaffen haben und dies ändern müssen. Und wir handeln: überall gibt es nun Projekte, die sich mit Plastik als Bedrohung beschäftigen. Der "Feind" wird an allen Fronten bekämpft: und sei es auf so subtile Weise, wie einfach nur ein paar Meter Strand zu säubern. 

Ich kann euch an dieser Stelle nur dazu auffordern, einmal über euren eigenen Plastikkonsum nachzudenken, und wie ihr ihn (weiter) verringern könnt. Veränderung, die beginnt wie immer im Kleinen bei uns Zuhause. Und wir können viel tun, damit solche Bilder in Zukunft wieder der Vergangenheit angehören!

Samstag, 10. September 2016

Walrosse - die Charakterköpfe der Arktis

Wenn ich mich entscheiden müsste und ein Tier der Arktis benennen sollte, das für mich die größte Persönlichkeit ausstrahlt, dann ist es das Walross. Rentiere sind lustig, leicht dumm und lieb, Eisbären sind intelligent und berechnend, Robben sind niedlich und Wale sind gigantisch - aber Walrosse, das sind echte Charakterköpfe. Seit ich sie das erste Mal gesehen habe, sind sie meine absoluten Lieblingsrobben geworden!



Walrosse bilden eine von drei Familien innerhalb der Robben. Die Männchen des auf Spitzbergen lebenden Atlantischen Walross werden bis zu 3.5 Meter lang und 1.5 Tonnen schwer. Die Weibchen sind fast genauso groß, aber wesentlich leichter: 3 Meter lang und 900 kg schwer wird eine ausgewachsene Walross-Dame.
In der freien Wildbahn werden die Tiere 30-40 Jahre alt. Stoßzähne bekommen beide Geschlechter, wobei die der Männchen massiver und länger werden können: nämlich bis zu 1 Meter lang und 5 kg schwer. Die Zähne dienen einerseits zur Verteidigung, andererseits aber als Statusymbol: je beeindruckender die Zähne, desto toller das Walross... Außerdem nutzen sie ihre Hauer wie Eispickel, um sich auf Eisschollen hinaufzuziehen - und gerne auch mal als Kopfstütze...



Zugegeben: einen Schönheitswettbewerb würden die Walrosse vermutlich haushoch verlieren, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Sie sind weder süß noch hübsch, sondern einfach nur ... seltsam, in jeglicher Hinsicht.
Dennoch: als hässlich kann ich sie nicht bezeichnen. Ich finde sie irgendwie knuffig - wenn ich nochmal Kind wäre, würde ich mich unbedingt ein Walross-Stofftier wünschen! Ein passendes hab ich in Ny-Ålesund auch schon gefunden... ;-)

Es gibt eine Menge Negatives aus der Arktis zu berichten: aber glücklicherweise nicht über Walrosse. Sie waren auf Spitzbergen so gut wie ausgerottet, weil Robbenjäger sie im 16. bis 18. Jahrhundert zu Zehntausenden abschlachteten. Einerseits ließen sich die aus Elfenbein bestehenden Stoßzähne gewinnbringend verkaufen, andererseits war ihre bis zu drei Zentimeter dicke Haut gefragt, um Keilriemen daraus herzustellen.

Seit 1953 stehen Walrosse auf Spitzbergen komplett unter Schutz: und haben die Inselgruppe seitdem als Lebensraum für sich zurückerobert. 1983 gab es hier wieder 100 Tiere - und seitdem geht die Population so steil nach oben, dass man von einer Explosion sprechen kann. Mittlerweile leben auf und um Spitzbergen wieder mehrere tausend Walrosse - genaue Zahlen kennt keiner, aber es werden Jahr für Jahr mehr.


Die Tiere verbringen das ganze Jahr und ihr ganzes Leben ungefähr in derselben Region. Im Winter schlafen sie auf Eisschollen, im Sommer an Sandstränden. Ihre dicke Haut und die noch dickere Fettschicht lassen sie die Kälte nicht spüren: sie scheinen sich bei jedem Wetter und jeder Temperatur wohlzufühlen.




An Land sind die Kolosse träge und ziemlich unbeweglich: allein vom Wasser zum Schlafplatz zu gelangen, dauert Minuten und scheint unendlich schwer zu sein. Nun ja, wenn man über eine Tonne wiegt und sich nur mit Hilfe seiner Vorderflossen an Land fortbewegen kann, ist wahrscheinlich jeder Zentimeter ein Marathon... Vermutlich schlafen sie auch deswegen dann gleich mehrere Tage am Stück - und das am liebsten zusammen mit Dutzenden bis Hunderten von anderen Walrossen.

Es mag nicht so aussehen, aber: dies sind über 200 Walrosse!



   
Die Gruppe bietet ihnen Schutz vor ihrem einzigen Feind: dem Eisbär. Dabei muss man aber wissen, dass Eisbären zwar immer wieder versuchen, Walrosse zu jagen, aber seltenst erfolgreich sind. Einerseits haben sie einen Heidenrespekt vor den Stoßzähnen, andererseits ist es für sie fast unmöglich, ein Walross an der Flucht ins Wasser zu hindern. Zu schwer sind die Riesenrobben, zu dick ist ihre Haut, sodass die Zähne und Krallen daran regelrecht abprallen.


Die größte Chance für einen Eisbären, ein Walross zu ergattern, besteht darin, eine ganze Herde in Panik zu versetzen. Wenn eine ganze Gruppe Walrosse gleichzeitig vom Land ins Wasser eilt, dann kann es geschehen, dass sie sich gegenseitig mit ihren Stoßzähnen verletzen oder kleinere Jungtiere erdrückt werden. Dann, und nur dann, haben Eisbären eine Möglichkeit, sich ein Walross zu greifen: gesehen habe ich es allerdings noch nie. Die wenigen Male, wenn ich einen Bären an einem toten Walross fressen sah, handelte es sich um ein im Meer verendetes Tier, das von der Brandung an den Strand gespült worden war.

Einmal habe ich erlebt, wie ein Bärin mit Jungtier direkt zwischen Walrossen hindurch lief, ohne dass diese sich im Geringsten gestört fühlten. Auch die Bärin unternahm keinen Versuch, die Riesen jagen zu wollen: sie sah zu ihnen hinüber, schmachtend fast, aber räumte sich keinerlei Chancen ein. Andere Eisbären, auch große Tiere, machen einen weiten Bogen um die Walrosse - als würden sie nicht einmal als Nahrungsquelle in Betracht kommen. Das mag einerseits absurd erscheinen, allerdings muss man ja nur einmal einen realistischen Blick auf die Größenverhältnisse der Kontrahenten werfen. So ein Eisbär wiegt 300 - 700 kg, ein Walross dagegen 1000 - 1500 kg. Da würde ich es mir auch mehrmals überlegen, einen Angriff zu starten!

Ja, und so liegen die Walrosse meist ziemlich sorgenfrei an ihren Sandstränden - und das manchmal tagelang. Innerhalb der Gruppe gibt es eine Menge interner Querelen: mal liegt der eine auf dem anderen (was bei 1.5 Tonnen sicherlich unangenehm sein kann), mal muss sich über unangenehm pieksende Stoßzähne beschwert werden. Und so wird grunzend und rülpsend geschimpft, mit Stoßzähnen gedroht und ganz ordentlich zugeschlagen - kein Wunder dass die Viecher völlig vernarbt sind!
Selbst, wenn alle schlafen wollen, ist irgendwer immer damit beschäftigt, sich zu kratzen und zu schubbern. Und wenn dann ein Walross aus der Mitte der Gruppe beschließt, ins Wasser gehen zu wollen, gibt es einen Riesentumult - klar, weil alle anderen dann aus ihrem Schlummer gerissen werden.
Ist ein Walross dann wieder im Meer, wird es mit größter Wahrscheinlichkeit einige Tage lang alleine unterwegs sein und fressen. Bis der Magen wieder voll ist, kann es etwas dauern, denn: diese Riesen ernähren sich ausschließlich von Muscheln!


Bis zu 450 Schnurrbarthaare hat ein Walross: jedes ist einzeln beweglich und extrem sensibel. Sie nutzen sie, um den Meeresboden abzutasten. Fühlen sie den Siphon einer Sandklaffmuschel, dann graben sie sie aus, meist mit der rechten Vorderflosse. Dann wird die Muschel zwischen die starken Lippen genommen und ratzfatz ausgesaugt. Im Magen landet nur weiches Muschelfleisch, aber keine einzige Schale!

Ein ausgewachsenes Walross frisst pro Tag wohl bis zu 70 Kilogramm reines Muschelfleisch. Und die bis zu 10 Zentimeter großen Sandklaffmuscheln scheint es im Überfluss zu geben: klar, die Walrosse waren über 200 Jahre lang komplett dezimiert, da konnten sich die Muscheln hier wunderbar vermehren. Und nun gibt es Nahrung im Überfluss - wohl der Hauptgrund, weshalb der Bestand sich so rasant erholt.


Außerhalb der Paarungszeit, die im Januar/Februar stattfindet, halten sich Weibchen und Männchen in separaten Gruppen auf. Sobald ein männliches Jungtier etwa 3-4 Jahre alt ist, verlässt es die Mutter und schließt sich einer Junggesellengruppe an, die sich meistens im Westen von Svalbard aufhält. Die Töchter dagegen bleiben bei den Müttern im Osten von Svalbard. Und während die Männchen ziemlich relaxt und sorgenfrei an den Stränden "chillen", sind die Weibchen generell viel vorsichtiger und mögen menschliche Annäherung nicht so sonderlich gerne: klar, macht Sinn, sie haben Jungtiere bei sich, die es zu beschützen gilt!

Erst im zweiten Lebensjahr werden die Stoßzähne sichtbar.
Hier also links die Mutter, die bestimmt schon 15-20 Jahre alt ist, mit ihrem einjährigen Jungtier.
Rechts ein 4-5 jähriges Walross, das eventuell eine ältere Tochter sein könnte.

 
Walrosse sind sanfte Riesen: "Harte Schale, weicher Kern" - bei keinem anderen Tier trifft dieser Spruch so zu! Es sind ganz sensible Wesen, die schnell in Panik ausbrechen können - besonders, wenn sie sich an Land ausruhen, denn dort sind sie unbeholfen und langsam. Außerdem können sie extrem schlecht sehen. Weil wir das wissen und keine Massenpanik auslösen wollen, halten wir Guides und Touristen respektvollen Abstand: normalerweise sind 30 Meter die absolute Grenze. Wenn man sich ihnen langsam und leise nähert und in dieser Distanz stoppt, scheinen sie uns nicht einmal wahrzunehmen.

Der Besuch einer Gruppe Walrosse ist, ohne Zweifel, ein unvergessliches Erlebnis für alle Sinne. Die Viecher riechen in etwa so extrem, wie eine große Vogelkolonie oder eine Kläranlage... Und sie geben allerlei Geräusche von sich, die wir Menschen ausnahmslos in den Bereich "schlechte Manieren" einordnen würden...

Eine Nahbegegnung mit einem Walross kann man nicht erzwingen: dafür sind sie zu scheu und ist die Gefahr zu groß, eine ganze Gruppe ins Wasser zu scheuchen. Nein, sie selbst müssen auf einen zukommen, und wir Menschen müssen dann entscheiden, wie nahe wir sie an uns herankommen lassen möchten. Befindet man sich zum Beispiel in einem Zodiac, das ja ein mit Luft gefülltes Gummiboot ist, dann ... sollte man bedenken, dass Walrosse Stoßzähne haben, die sie auch zu nutzen wissen.



Ich habe bisher noch keine schlechten Erfahrungen mit wilden Tieren gemacht und vertraue meinem Bauchgefühl: bisher habe ich immer gewusst, wann die Toleranzgrenze der Tiere erreicht war. Ist die Stimmung relaxt, weil wir die Tiere nicht bedrängen und einfach nur still in guter Distanz zu ihnen auf dem Wasser dümpeln, dann habe ich auch in Situationen wie auf dem obrigen Bild kein schummriges Gefühl - obwohl ich weiß, dass in den letzten Jahren immer wieder Schlauchboote von Walrossen punktiert worden sind.



Die tollsten Walross-Begegnungen aber erlebte ich vom Ufer aus. Im Wasser sind Walrosse agil und allein deswegen schon viel mutiger, weil sie wissen, dass sie schnell flüchten können. Verhält man sich in Ufernähe also ruhig, dann kann es gut sein, dass ein oder mehrere Walrosse beschließen, mal zu schauen, wer oder was wir sind. Und wenn man dann wirklich ganz still ist, sich nicht bewegt und den Tieren keinen Grund zur Sorge gibt, dann trauen sie sich manchmal im Laufe von mehreren Minuten immer näher an einen heran.



Erst bei einer solchen Annäherung habe ich begriffen, wie groß diese Tiere wirklich sind.
Wir Fotografen laufen ja öfters mal Gefahr, Distanzen zu unterschätzen, weil wir hinter dem Weitwinkelobjektiv festkleben - und durch den Sucher sieht ja alles kleiner und weiter weg aus.
Es ist schon ganz schön beeindruckend, wenn man plötzlich realisiert, dass man zu einem Walross  aufschauen muss - weil es höher aus dem Wasser aufragt, als man selber.
Gut, ich lag auf dem Bauch - aber trotzdem, es war ein echter Aha-Moment. Aus der Distanz und dem Blickwinkel sehen selbst kurze Stoßzähne ganz schon groß aus. Und sind die über 3 Meter Körperlänge nicht mehr nur Theorie!





Nach diesem Erlebnis beschloss ich, dass Knien vielleicht doch eine etwas sichere Option ist, was meinen persönlichen Rückzug angeht. Aber selbst dann bin ich kleiner, als ein Walross, wenn es sich aufrichtet! 

Mein Respekt vor diesen stillen Riesen wächst mit jeder Begegnung: ich habe sie richtig zu lieben gelernt, diese skurrilen Persönlichkeiten. Es sind einfach nur coole Viecher, die ihr Leben in vollen Zügen genießen und das Wort "Stress" nicht kennen. Wenn ich mir aussuchen dürfte, als was ich im nächsten Leben wiedergeboren werde, dann stände das Walross ziemlich hoch auf meiner Liste!
:-)











Montag, 5. September 2016

Svalbard: Ein Sommer ohne Eis

2016 war mein fünfter Sommer auf Svalbard, diesem hoch-arktischen Archipel zwischen Norwegen und dem Nordpol. Von Mai bis in den August hinein habe ich wieder als Guide und Fotograf auf kleinen Expeditionsschiffen gearbeitet. Und wie in den letzten Jahren, so habe ich wieder feststellen können: hier gleicht kein Sommer dem anderen. 2016 war für mich persönlich eine Saison der Gegensätze und emotionaler Achterbahnfahrten: von himmelhoch-jauchzend bis nachdenklich-betrübt war alles dabei. Und oft traf beides gleichzeitig zu.



Von Anfang an schien es, als würde dieser Sommer alles bestätigen wollen, was ich in meinem TED-Talk angesprochen habe. Als ich nämlich in der dritten Maiwoche nach Svalbard reiste, um in meine dreimonatige Sommersaison dort oben zu starten, da war nichts so, wie es sein sollte. Von Januar an war jeder Monat der wärmste, der je gemessen wurde. Schon der Winter war mit teilweise über 10°C über Normal so warm gewesen, dass sich um Svalbard herum so gut wie kein Treibeis gebildet hatte. Viele Fjorde und Buchten, die normalerweise zufrieren, waren offen geblieben; einzig und allein innerhalb der Hinlopenstraße schien sich gutes Packeis gebildet zu haben. Trotzdem konnten die Schiffe Svalbard schon im Mai umrunden - und das war extrem ungewöhnlich. Niemand, den ich kannte, hatte das schon erlebt.


Die Verteilung von Packeis um Spitzbergen. Ein Vergleich von zwei Jahren: oben der 04. Juni 2013, unten der 23. Mai 2016. Rot und orange ist sehr dicht gepacktes Eis, gelb und grün ist offener (eher schwimmende Schollen in Wasser), und blau bedeutet offenes Wasser mit eventuellen Eisstücken hier und da.
Vergessen darf man hierbei nicht, dass schon die Situation aus dem Jahr 2013 vom Klimawandel geprägt ist: auch hier hat man bereits gesagt, dass das Eis sich sehr früh zurückgezogen hat. 2016 aber hat sich so gut wie kein Eis gebildet - eine Katastrophe für alle Lebewesen, die vom Packeis abhängig sind.

 
Für viele Tiere ist das Packeis Lebensraum, auf dem sie jagen und/oder ihre Jungen gebären - ist es nicht da, dann haben sie einfach weniger Habitat und Nahrung zur Verfügung. Die Vögel fliegen oft bis zum Packeis, weil es dort die beste und meiste Beute gibt. Ist das Packeis weiter von den Vogelklippen entfernt, müssen längere Wege zurückgelegt werden, was die Brutsaison nach hinten verlängert.
Manche Robbenarten schaffen es nur noch unregelmäßig, Junge großzuziehen, weil diese ertrinken, statt auf dem Eis gesäugt werden zu können.

Das bekannteste Tier dort oben, der Eisbär, findet schlichtweg keine Nahrung, wenn kein Eis da ist - ich meine, er heißt nicht ohne Grund EIS-Bär!
Wenn das Eis nicht da ist, könnte man sie auch "Arktische Schafe" nennen: sie fressen alles, was sie finden. Vogeleier (deswegen gehen die Populationen einiger Vogelarten auf Spitzbergen gerade steil nach unten), Aas (wovon nicht viel vorhanden ist), Seetang und Landpflanzen. Manchmal klettern die Eisbären in steilen Hängen herum und grasen, wie Kühe! Nicht immer konnte ich erkennen, was genau sie mampften: einmal schien es Gras zu sein, ein anderes Mal Alpensäuerling, also eine Art Sauerampfer. Das ist schmackhaft, aber vermutlich wenig nährstoffreich und statt dessen ziemlich abführend. Aber ich denke, dass die Bären ganz bewusst gegen den Hunger anfressen: ein Magen voller Sauerampfer ist besser, als ein leerer - Dünnschiss hin oder her!


Dieses und das folgene Bild zeigen, dass die Bären sehr erfindungsreich sind, was das Erschließen neuer Nahrungsquellen angeht. Wie schon an anderer Stelle erwähnt: Eisbären sind sehr intelligent und von Natur aus extrem neugierig. Dies hat ihnen in der Vergangenheit dabei geholfen, Zeiten zu überdauern in denen es wenig(er) Treibeis und Robben hab, und dies wird der Art auch in der Zukunft helfen, irgendwie zu überleben. Dennoch ist ganz klar: Eisbären können keine Vegetarier werden; sie sind auf tierische Fette angewiesen, um den Extremen trotzen zu können. Ein Magen voller Gras und Seetang hilft vielleicht dabei, ein paar Tage länger ohne Fleisch zu überleben: es kann aber keinen Robbenspeck ersetzen.


Im Nordwesten Spitzbergens wurde dies diesen Sommer ganz besonders deutlich. Weder hatte sich hier im Winter Eis gebildet, noch hatte der Wind ein Packeisband später nach Süden gedrückt. Die Bären in dieser Gegend standen so gut wie ohne Nahrung dar: und das schon seit dem Frühjahr 2015, also seit eineinhalb Jahren! Während die Bären in der Hinlopenstraße oft normal bis fett waren, traf ich in der Nordwestecke fast ausschließlich dünne bis extrem dünne Bären an. Tiere, die den Sommer mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht überlebt haben.


Diese Bilder dokumentieren die meisten und dünnsten Bären, welche ich in den vergangenen Wochen gesehen habe. Den Anblick zweier verhungerte Tiere, die tot an Land lagen, will ich euch hier aber ersparen. Obwohl: so ganz ohne toten Eisbär kam auch diese Collage nicht aus, denn der Bär vom 13. August nagt an den Resten eines toten Artgenossen herum.

Wie im letzten Jahr, so scheine ich der einzige Guide hier oben gewesen zu sein, der so viele dünne Bären gesehen hat. In Diskussionen mit anderen erntete ich oft Schulterzucken und die Aussage: „Neee, wir sehen hauptsächlich normale bis dicke Bären.“ 
Ich vermute einmal, dass dies einerseits daran liegen könnte, dass Eisbären oft dicker aussehen, als sie es sind. Ähnlich wie bei Hunden haben sie ein dickes Fell und sieht man manchen ihre Magerkeit nur bei bestimmten Bewegungen an. Die auffällige Anzahl von mir beobachteter, dünner Bären liegt aber auch daran, dass ich eher in Landnähe unterwegs bin: die Reisen, die ich begleite, haben oft einen Fokus auf Wanderungen und halten sich immer mal wieder in besagter, eisfreier Nordwestecke auf. Andere Schiffe meiden die Gegend und fahren ganz gezielt schnell hoch zum Packeis und in die Hinlopenstraße, um Bären zu finden. Weil es dort den ganzen Sommer über Nahrung gab, sind die Bären da natürlich dick! Ganz besonders freue ich mich immer, wenn solch dicke Bären dann auch noch Weibchen sind. Wenn eine Bärin, die jetzt gerade keine Junge führt, so mollig ist wie unten zu sehen, dann wird sie im kommenden Winter garantiert Junge zur Welt bringen.




Und so will ich diesen ersten Eintrag der Sommersaison nicht vollends negativ ausklingen lassen, sondern mit ein paar Lichtblicken beenden. Ein einziges Mal bin ich diesen Sommer nach Norden zum Packeis gekommen, und prompt trafen wir dort eine Mutter mit anderthalbjährigen Teenagern - alle gut in Schuss: sportlich-schlank, aber mit vollem Magen; sie hatten also vor kurzem noch gefressen. Eine Eisbären-Idylle wie aus dem Bilderbuch!

Und dann ging für mich ein lang-gehegter Traum in Erfüllung: in Form eines toten Wals. Alle paar Jahre wird irgendwo an Spitzbergen ein toter, großer Wal angespült: ein Fest für die Eisbären, die dann erstmal wochen- bis monatelang ausgesorgt haben. Wenn genügend Nahrung vorhanden ist, werden die Einzelgänger zu sozialen Gruppentieren, die sich gegenseitig akzeptieren und teilweise sogar miteinander spielen. Dies zu erleben hatte ich mir schon immer gewünscht: und nun war es soweit. Am Strand waren zwar nur noch die fast abgeknabberte Wirbelsäule und der Teil des Unterkiefers eines großen Wals zu finden, aber die Bären waren relaxt, allesamt vollgefressen, voller Energie und Tatendrang. Dies beobachten zu können, war ein Riesenprivileg: und hat mich die ganzen negativen Nachrichten endlich mal vergessen lassen. Die Natur und das Leben finden halt doch immer einen Weg - egal wie schwer wir Menschen es ihr auch machen!