Samstag, 17. März 2012

Geschichten aus dem hohen Norden

Den meisten von euch wird schon aufgefallen sein, dass ich seit Wochen hauptsächlich ein Gesprächsthema kenne: Licht. Dies mag in der Tat die größte Auswirkung der Polarnacht sein: Licht ist mir unglaublich wichtig und fällt mir dieser Tage einfach am meisten auf.
Rentiere vor der Haustür? Normal.
Frauen, die Kinderwägen schieben und dabei ein Großkalibergewehr geschultert haben? Normal!
Ein Sonnenstreif auf einem Berghang? Sensation!
;-)
Selbst jetzt, da es rapide heller wird und die Nächte schon sehr kurz geworden sind, lechzt alles in mir nach Licht jeglicher Art und tanke ich Sonnenschein, wann immer ich es kann.


Dieser Winter, da sind sich alle einig, ist der wärmste in der menschlich erlebten Geschichte Spitzbergens. Der Januar war 11°C wärmer als normal, und auch jetzt liegen die Temperaturen bei +2 bis -15°C. Und das im eigentlich kältesten Monat des Jahres, in dem die -30°C-Marke normalerweise mehrmals unterboten wird!

Die Wärme lässt diesen Winter völlig anders verlaufen als sonst. Das Meer ist 3-4°C wärmer als normal und denkt nicht ans Zufrieren, was vor allem die Schneemobiltouren einschränkt. Weil die Fjorde offen bleiben verdunstet mehr Wasser, gibt es mehr Wolken und mehr Niederschläge: blauer Himmel ist eine Rarität! Die kleine Siedlung Ny Ålesund hat in den ersten Wochen des Jahres fast 200% seines Jahresniederschlages erhalten: innerhalb eines Tages fiel die 432,6 prozentige Menge des normalen Monatsniederschlages. Auch in Longyearbyen kam fast schon der gesamten Jahresniederschlag vom Himmel runter: leider aber als Regen, nicht als Schnee.
Das hat unter anderem zur Auswirkung dass hier alles mit Eis überzogen ist: problematisch besonders für die vielen Rentiere. Diese kleinen, knuffigen Viecher mit ihrer kurzen Schnauze und Stummelbeinen verbringen ihre Tage nur mit Fressen: da hier selbst im Sommer kaum etwas wächst ist es mir ein Rätsel, wie sie es schaffen, hier zu überleben.


Aufgrund des Futtermangels sind die ohnehin wenig scheuen Tiere sehr tolerant gegenüber Menschen geworden und suchen nach Fressbarem wo immer sie auch etwas finden: und wenn es mitten in der Stadt und unmittelbar vor Haustüren ist. Zwischen vereisten Steinen knappern sie alles ab was irgendwie pflanzlich ist - und lassen sich von Fotografen wie mir nicht stören.
Ich ließ mir diese Gelegenheit nicht entgehen und näherte mich diesem Rentier langsam und offensichtlich. Als ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, kauerte ich mich an die Hauswand und blieb dort ruhig liegen. Das Ren (das wie viele seiner Artgenossen sein Geweih im November/Dezember abgestoßen hat) äste munter auf mich zu, bis es auf dem spiegelglatten Hang nach hinten abrutschte und dann (beleidigt?) vondannen schlurfte.


Ich war, wie die beiden Skiwanderer im vorletzten Bild, auf dem Weg hinauf in die Berge. Mein Ziel: den Berg 850m hohen Trollsteinen mit meinen Backcountryski erklimmen und auch die Abfahrt überleben OHNE dafür die Bretter unter meinen Füßen abzuschnallen. Für Norweger ist das ein Kinderspiel: die werden scheinbar allesamt mit Ski unter den Füßen geboren und flitzen auch die steilsten Berge mit Langlaufski im lustigen Telemark-Stil herab. Mir Rheinländer schlottern dann nur die Knie: mit Langlaufski einen 800m hohen Berg runterfahren gehört nicht wirklich zu meinen normalen Freizeitbeschäftigungen.

Erstmal hieß es aber: oben auf dem Trollsteinen ankommen. Das war leichter gesagt als getan, denn dort wehte ein mehr als laues Lüftchen. Wind ist auf Svalbard allgegenwärtig; je höher man sich befindet desto heftiger werden die Windböen, die den Pulverschnee mit sich reißen und die Temperaturen gefühlsmäßig um 20°C abkühlen lassen. Draußen unterwegs zu sein ist dann ein richtiges Erlebnis!

Nach der erfolgreichen Besteigung des Berges ging es runter: schööööön langsam im Zickzack, ich habe da vermutlich alle Langsamkeitsrekorde gebrochen, die jemals aufgestellt wurden. Ich hatte wie gesagt nur ein Ziel: überhaupt unten anzukommen, und das wenn möglichst ohne mir Knochen oder Ski zu brechen. Und tatsächlich: es funktionierte! Sogar mit Brettern unter den Füßen! :-)

Wir waren genau rechtzeitig wieder im Tal angekommen: der Wind nahm beständig zu und zudem begann es nun auch noch zu schneien. Die Kombination aus Sturm und Pulverschnee ist meistens eher unangenehm - aber sehr fotogen! Darf ich vorstellen: ganz normales Svalbardwetter!

Aber auch dies ist normales Svalbardwetter: wechselhaft-sonnig, wie am 15. März, als ich im Namen meines Studiums zum ersten Mal auf einem Schneemobil saß und das genausowenig mochte, wie ich es vermutet habe. Gut, dass mir zumindest ein paar gute Bilder gelangen - die Kamera auf dem Schneemobil zu handhaben war das Bescheuertste was mir hätte einfallen können. Doch das Risiko hat sich gelohnt: ich wäre zwar beinahe runtergefallen, ebenso meine Handschuhe und der Objektivdeckel, ABER ich habe dieses Foto im Kasten. Dennoch, liebe Kinder und Mitfotografen: diese Aktion ist nicht zur Nachahmung empfohlen!

Am achten März war es dann auch in Longyearbyen soweit: die Sonne kam wieder so hoch über die Berge dass sie die Häuser der Stadt erreichte. Nun ja, zumindest theoretisch. Praktisch hat sich seit 2005 am Sonnentag, dem 8. März, keine Sonne blicken lassen. Die Einwohner Longyearbyens, insbesondere die Kinder, hielt die übliche Bewölkung aber nicht davon ab, das Ende der viermonatigen Polarnacht zu feiern: bemalt mit Sonnen auf den Wangen und Sonnenkragen um den Hals sangen sie Sonnenlieder, trugen Sonnenbrillen - und hatten teilweise eine Menge Spaß!



Nach all der Kultur, die ich in dieser Sonnenwoche fotografiert hatte, war ich froh, als es doch tatsächlich wieder ein paar sternenklare Nächte geben sollte, in denen die Nordlichtvorhersage auch noch gut war. Also griff ich mir meine Kamera und ging zum Meer, um dort Nordlichter zu fotografieren: wunderschöne, stark-grüne Schlieren über den von der Stadt rötlich erhellten Bergen.

Auf dem Weg zurück stapfte ich durch eine Schneewehe die unmittelbar am Fjordufer entstanden und vom Meereswasser angefeuchtet war. Nichtsahnend sah ich hinunter auf meine Füße - und staunte nicht schlecht als ich den Schnee blau leuchten sah!

Das Meer hatte mikroskopisch kleine Einzeller, sogenannte Dinoflagellaten, in den Schnee gespült, die leuchteten, wenn sie stärker als normal bewegt wurden. Es war völlig verrückt! Begeistert verstand ich, was ich da sah, und ging nach diesem ersten Beweisfoto auf Erkundungswanderung. Und tatsächlich: bei genauerem Hinsehen sah ich das blaue Leuchten auch in der Brandung des Meeres. Wann immer ein Verbund von Meeresleuchttierchen von den Wellen durchgeschüttelt wurde, glühten sie für einen kurzen Augenblick blau auf. Nicht in der Intensität und Menge, wie es meine Fußtritte im Schnee bewirkten, jedoch deutlich sichtbar.

Für mich waren die kleinen Einzeller (Zooplankton, auch "Meeresleuchttierchen" genannt, oder auf Englisch "Sea Sparkle") die wahren Nordlichter des Abends - dieses kleine Lichtspektakel hatte mich gänzlich überrascht! Glühwürmchen im Schnee und in der See - Natur wird niemals langweilig, immer wieder gibt es neue Wunder zu entdecken! Interessante weiterführende Informationen zu den Meeresleuchttierchen gibt es übrigens hier!

In den Tagen darauf wollte ich eigentlich wieder am Fjord auf Dinoflagellatenjagd gehen. Die gute Wettervorhersage und vielversprechende Nordlichtprognosen ließen mich dann doch wieder nach oben schauen: es sind schließlich die letzten Wochen, in denen die Nacht dunkel genug ist um auch schwächere Nordlichter sehen zu können. Und tatsächlich: wieder einmal durfte ich ein ganz wunderbares Schauspiel beobachten und fotografieren: vor und nach Mondaufgang. Aurora ist einfach immer und immer wieder faszinierend schön!


Relativ mittig und scheinbar genau an der Grenze zwischen grünem und violettem Nordlicht kann man eine Wolke aus Sternen erkennen. Die wissenschaftliche Bezeichnung dieses Sternenhaufens ist "Messier 44", aber zum Glück hat es auch einen schönen Namen: Praesepe, die "Krippe" im Sternbild Krebs. Der Himmel ist voller Geschichten, vor allem aus der griechichen Mythologie: Praesepe etwa dient den beiden Sternbildern Asellus borealis und Asellus Australis (nördlicher und südlicher Esel) als himmlische Futterkrippe. Schon lustig, was man mit so angehauchtem Vorwissen nachts alles am Himmel zu sehen beginnt! ;-)

Die naturwissenschaftlichen Fakten interessieren mich aber mindestens genauso. Praesepe ist ein Sternenhaufen innerhalb unserer Galaxie: eine Ansammlung von etwa 1000 Sonnen, deren Alter auf "nur" 600 Millionen Jahre geschätzt wird. In sehr klaren Nächten kann man diese helle Wolke deutlich mit dem bloßen Auge sehen: diese Aufnahme verstärkt den Eindruck aber aufgrund der langen Belichtungszeit. Die Farben rot und blau habe ich wie immer auch nur als farbloses Nordlicht sehen können; die Kamera zeichnete knalliges lila und quietschgrün auf. Ich habe das Foto extrem entfärbt: dies erscheint mir als fairer Kompromiss aus meiner Erinnerung und dem Wunsch nach einem schönen Foto...

Ich war auf dem Weg nach Hause und hatte die Kamera schon im Rucksack verstaut, als ich von einem sehr starken Nordlichschub direkt am Zenith überrascht wurde. Vor der Kulisse der von den Straßenlaternen orange erleuchteten Berghängen geisterten starke grüne Beamer über den Nachthimmel. Die Aurora war so intensiv dass sie sogar den Einwohnern auffiel, welche den Moment mit lauten "Oh!" und "Ah!"-Rufen den Moment genossen.
Auch für mich war das, einmal wieder, ein unvergesslicher Augenblick!
Danke Svalbard, danke Natur!

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