Die Tage vor dem 17. August waren sehr winterlich gewesen. Der starke Wind hatte die Tagestemperaturen in Longyearbyen von 3-6°C auf Gefühlsfrost heruntergekühlt, es hatte für hiesige Verhältnisse stark und viel geregnet und auch geschneit, sodass ich schon in Erwägung zog, meinen Daunenparka auszupacken. Am Dienstag aber begann eine Gutwetterperiode, die wir uns zwar alle erhofft, aber niemand erwartet hatte: bei strahlendem Sonnenschein absolvierten wir erst unseren Schnupperschießkurs und stachen dann am Mittwoch Morgen bei gleißendem Sonnenschein mit einem Touristenboot von Longyearbyen aus in See.
Außer etwa 15 Touristen und allen 17 ANG-Studenten befanden sich Ungengen an Gepäck an Bord. Wir hatten Essen, Ausrüstung und persönliche Gegenstände für einen Neuntagesaufenthalt mit dabei: solange wollten wir in einem Zeltlager im Billefjord bleiben. Das Ziel dieses Ausfluges: mit dem Wandern auf Gletschern und den Gefahren dort vertraut werden und Rettungsmaßnahmen lernen. Schließlich müssen sich "Arctic Nature Guides" auch und besonders auf Eis zurechtfinden können!
Die dreistündige Fahrt zu unserem Ziel, dem Gletscher Nordenskiöldbreen, war fantastisch! Endlich raus aus diesem dann doch ziemlich langweiligen Kohle-Dorf Longyearbyen, endlich einmal sehen, wo man sich befindet! Wir fuhren den Isfjord hinein ins Landesinnere und passierten die in den meisten Fällen komplett unbewachsenen, wunderschön gemusterten und farbenfrohen Berge.
Viele Vögel waren zu sehen, hauptsächlich Eissturmvögel, Küstenseeschwalben und Papageitaucher. Fast in jedem Fjord standen Ruinen, Hütten und / oder Zeltlager vor meist atemberaubender Kulisse. Der Mensch hat auch hier oben überall sichtbar seine Spuren hinterlassen – ironischerweise wird das als "Kulturgut" deklariert und per Gesetz an Ort und Stelle belassen. Die Gründe sind einerseits Stolz auf die historische Bedeutung der Orte (Norweger LIEBEN Geschichtliches!), andererseits gibt es hier auch ganz klar politische Interessen. Ein gutes Beispiel ist die russische Mienenstadt Pyramiden, die wir aus der Ferne erspähten. Sie war schon komplett verlassen worden, als Russland seine Gebietsansprüche erneut geltend machte und heute den Unterhalt von 5-15 Russen bezahlt, nur damit sie die Ruinen instand halten und Ort und Bodenschätze weiterhin als russisch deklariert werden können.
Nachdem wir dieses (in meinen Augen) Schandmal der Naturzerstörung erfolgreich links liegen gelassen hatten, sahen wir endlich unser neues Zuhause: den Gletscher Nordenskiöldbreen.
Unsere Fähre brachte uns bis auf mehrere hundert Meter an die Küste heran, dann setzten wir mit all unserem Gepäck und dem Hund in Schlauchbooten zur Küste über.
Dort befand sich schon ein Lager von UNIS-Geologen, sowie unsere Lehrer, welche die vergangenen beiden Tage mit dem Erkunden des Gletschers verbracht und sich schlichtweg eine schöne Zeit gemacht hatten. Schnell bauten wir neun Zelte auf, organisierten das Lager in einen "sauberen" und einen "dreckigen" Bereich (Essen und Fäkalien sind innerhalb des Eisbären-Stolperdrahtes bei den Schlafzelten tabu), und dann war es irgendwie auch schon an der Zeit, zu Abend zu essen und sich am Treibholzlagerfeuer ein wenig besser kennenzulernen.
Kleiner Einschub: während ich dies schreibe, schwimmt eine große Gruppe von Belugas (kleine, schneeweiße Walen) im Fjord. Einfach mal so. Ist das toll!
Auch diese Nacht währte nur kurz, denn ich war für die 3-Uhr Schicht der Eisbärenwache eingeteilt worden. Um drei Uhr wurde ich von meiner Vorwache geweckt, sprang schnell in meine gesamte Winterdaunengarnitur, übernahm Gewehr und Signalpistole, und hockte mich dann eine Stunde lang auf den Hügel überhalb unseres Zeltplatzes. Ich empfand es als ganz wunderbar, einfach nur die ruhige Landschaft zu betrachten und dabei aufmerksam nach sich bewegenden, weißen Flecken zu suchen. Viel zu schnell war es vier Uhr und weckte ich meinen Nachfolger, um dann, nach der Waffenübergabe, mitsamt Kamera, Stativ und einem zweiten Gewehr in den Sonnenaufgang hineinzuwandern. Wäre in der Zeit ein Eisbär gekommen, so hätte der mich höchstwahrscheinlich gefressen, denn ich hatte meine Augen nur auf der Landschaft. An den Gedanken, ein großes Raubtier in meiner Nähe zu haben, muss ich mich wirklich erst noch dran gewöhnen!
Nach zwei weiteren Stunden Schlaf hieß es schon wieder aufzustehen. Bei weiterhin unglaublich gutem Wetter näherten wir uns dem Gletscher, verbrachten ein paar Stunden mit Theorie und dem "Lesen" des Gletschers per Karte und aus der Ferne.
Dann wagten wir, endlich, die ersten Schritte auf einem spaltenarmen Seitenarm des Nordenskiöldbreen, und machten uns mit dem Eis und der Handhabung unserer gesamten Ausrüstung vertraut. Wie ich, so trugen auch einige der anderen zum ersten Mal eine komplette Kletterausrüstung mit kombiniertem Klettergurt, allen möglichen Gerätschaften und zu allen Seiten hin abstehenden Steigeisen. Bis ich erst einmal verstanden hatte, wie man die vielen Knoten knüpft und wann man welche Steigeisentechniken nutzt, war es auch schon wieder Abend geworden.
"Abend", das bedeutet so hoch in der Arktis auch Mitte August noch, dass die Sonne weit höher am Horizont steht, als in Island im Juni zu Mitternacht. Immerhin stellte sich eine leichte Abendstimmung ein, wenn das Licht wärmer wurde und die Täler im Schatten der hohen Berge lagen. Dann nahmen die sonst leuchtend weißen Gletscher die Farbe des Himmels an und wirkten unwirklich blau. Ein Traum für Fotografen! Und so kam es, dass ich auch am zweiten Abend wenig sozial war: statt mit den anderen am Lagerfeuer zu sitzen, flitzte ich mit der Kamera am Strand entlang. Aber auch einige der anderen genossen es, einfach nur "da" zu sein und die Weite und Größe der auf den ersten Blick unberührten Landschaft zu genießen. Es erschien geradezu surreal, dass wir hier im Zeichen unseres Studiums verweilten: es war das tollste Klassenzimmer, das man sich vorstellen kann! Was für ein irrsinniges Privileg und Geschenk dieses Studium doch ist!
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