Ende Juni ist es auch in der hohen Arktis endlich soweit: der Sommer ist da! Im Norden Spitzbergens liegt noch immer viel Schnee; dort ist es teilweise noch sehr winterlich, aber in geschützten Buchten und Tälern entlang der Küste wird es jetzt definitiv sommerlich. Die Zugvögel sind alle angekommen und haben nun mit der Brut begonnen: überall befinden sich Nester, ständig übersieht man Eiderenten, Gänse, Meerstrandläufer und Küstenseeschwalben, die ihre Eier einfach irgendwo auf der kargen Tundra ablegen und kaum zu entdecken sind.
Bei vielen Tieren sind die Rollen strikt verteilt: die unauffälligeren Weibchen kümmern sich um die Brut und meist auch Aufzucht der Jungen, während die bunten Männchen ihre Aufmerksamkeit eher auf Revierverteidigung und (wie im Falle der Eiderenten) nur auf sich selber liegen haben.
Es gibt in der Natur aber nichts, was es nicht gibt: das Thorshühnchen ist da ein schönes Beispiel. Hier geben nämlich die Weibchen den Ton an: sie sind größer, bunter, und bestimmen so ziemlich alles. Sie suchen sich den Nistplatz aus und umwerben das kleinere Männchen, das für sie das Nest baut, die Eier bebrütet und die Jungen begleitet. Das Weibchen sucht sich nach der Eiablage oft ein neues Männchen aus, das für sie ebenfalls ein Nest baut und sich dann um ihre zweite Brut des Sommers kümmert.
Wenn sich in der Vogelwelt beide Elternteile um die Jungen kümmern, sehen sich die Geschlechter oft zum Verwechseln ähnlich: wie etwa bei allen Alken und Lummen. Die kleinsten der Familie der Alkenvögel, zu der auch die Papageitaucher gehören, sind die Krabbentaucher: gerade mal 20cm stehen sie hoch, sind sehr gesellig, lautstark - und fressen übrigens Krill, keine Krabben.
Krabbentaucher sind vielen gänzlich unbekannt: zu unrecht, denn man vermutet, dass sie zu den zahlenreichsten Meeresvögeln überhaupt gehören. Es ist sehr schwer, ihren Bestand zu schätzen, denn sie brüten in unübersichtlichen Geröllhalden und sind ansonsten nur auf hoher See in Eisnähe anzutreffen. Man geht von 15 Millionen Brutpaaren aus - global betrachtet ist das ist eine ganze Menge! Es gibt wenig "höhere" Tierarten, deren Populationen sogar dreistellige Millionenbeträge übersteigen: diese sind dann meistens irgendwie an den Menschen geknüpft (Mensch, Schaf, Rind, Nager ect.). Das setzt die Populationsgröße unserer eigenen Spezies (~ 7 Milliarden) dann auch mal in ganz anderes Licht. Von uns Menschen gibt es wirklich VERDAMMT viele!
Genauso, wie die Anzahl des Homo sapiens ansteigt, sinkt die Anzahl vieler Arktisbewohner. Wissenschaftler können das bei einigen nachweisen, bei vielen nicht - von den meisten Tieren haben wir nicht den blassesten Schimmer, wie viele es eigentlich gibt. Wer sich aber mit offenen Augen oft und über einen langen Zeitraum hinaus in der Natur bewegt, dem können Ungereimtheiten auffallen.
So wie mir in Punkto Eisbären auf Svalbard.
Hier auf Spitzbergen lebt die laut Eisbärenspezialisten gesündeste Bärenpopulation der Welt: 2-3000 von den weltweit geschätzten 20-25.000. "Gesund" ist die Spitzbergenpopulation, weil hier so gut wie gar nicht gewildert wird: Norwegen sowie die entlegene Lage schützen die Tiere wirklich gut. Das ist leider die Ausnahme, denn: an fast allen anderen Orten der Arktis werden unverhältnismäßig hohe Bärenzahlen offiziell und inoffiziell getötet - obwohl die Tiere ohnehin unter dem Klimawandel zu leiden haben. Aber solange es kein internationales Verbot auf den Handel von Bärenfell gibt, steigt die Nachfrage der Neureichen für ihre Pelzmäntel und Trophäensammlungen. Eisbär für Mode und Wände ist hoch im Kurs - gerade weil er ein Symboltier und eine seltene Spezies ist. Selbst hier in Longyearbyen gibt es ein Geschäft, in dem man Eisbärenfelle erwerben kann - ganz legal, trotz Klimawandel und aller ethischen Bedenken. Für mich ist es unvorstellbar, wie jemand dieses majestätische Tier als Statussymbol missbrauchen kann - aber es geschieht. Da kann sich der Eisbär in eine Reihe mit Elefant und Tiger stellen. Leider.
Die Bären auf Svalbard sind aufgrund des strengen Schutzes kaum scheu und lassen tolle Begegnungen zu. Irritierenderweise treffen wir fast ausschließlich auf Männchen - Weibchen werden extrem selten gesichtet. Und das liegt nicht nur daran, dass es schwer ist, ein Weibchen von einem Männchen zu unterscheiden, sondern auch, weil es immer weniger Bärinnen zu geben scheint. Diese gehen zum Winterschlaf an Land, wenn sie trächtig sind, und kommen mit ihren Jungen erst im März aus der Geburtshöhle, genau zu dem Zeitpunkt, wo die Ringelrobben ihre Jungen gebären. Die Robben sind auf den zugefrorenen Fjorden Zuhause, also halten sich die Bärinnen auch dort auf. Erst, wenn die Fjorde komplett eisfrei sind und die Robben wegschwimmen, kommen die Bären auf die Idee, sich nach dem Packeis umzusehen - das ist nun, in Zeiten des Klimawandels, aber längst aufgebrochen und nach Norden abgetrieben.
Ein Bär wird nur dann zum Packeis hinaus schwimmen, wenn er es wahrnimmt, also wenn es nur wenige Kilometer vom Land entfernt ist. In den meisten Fällen stecken die Bären schon im Frühsommer an Land fest - ohne Robben und folglich ohne Futter. Sie plündern Eiderentennester, suchen angeschwemmtes Aas, versuchen sich an der Jagd nach den für sie zu schnellen und außerdem zu mageren Rentieren - ansonsten gibt es hier auf Spitzbergen rein gar nichts für sie zu holen. Ausgemergelt, wie das Weibchen nach 5-6 Monaten Winterschlaf und dem Säugen der Jungen dann ist, wird es zuerst die Jungen verlieren. Und eventuell sogar selbst sterben, wenn es bis zum Winter keine Nahrung mehr findet.
Bisher habe ich jedes Jahr einen verhungerten Bären gesehen; das obrige Bild ist vom Juni 2013. Und letzte Woche trieb einer auf dem Packeis in Landnähe an uns vorbei: bis auf die Knochen abgemagert. Vielleicht hungerte er aufgrund von Krankheit, Verletzungen oder wegen eines entzündeten Zahns, das ist alles möglich. Es kann aber genauso gut sein, dass dieses Tier bis kurz vor seinem Tod an Land gefangen war; vielleicht den gesamten letzten Sommer bis in den Winter hinein. Denn auch dieses Jahr hat sich um Spitzbergen herum so gut wie kein Eis gebildet. Das Eis, was jetzt vor der Küste Nordsvalbards treibt, ist Packeis aus dem hohen Norden, das jetzt vom Wind nach Süden gedrückt wurde.
Dies sind Bilder, die keiner sehen will, ich weiß. Ich zeige sie euch dennoch, denn sie begleiten mich seit meiner ersten Saison hier oben und machen mich seitdem schon stutzig. Ja, auf den ersten Blick, scheint zu stimmen, was die Norweger sagen: dass es der Population gut geht und sie seit dem Jagdverbot von 1973 stetig anwächst. Immer wieder haben wir das Glück, dicke Bären auf dem Eis zu treffen, die vielleicht sogar noch am Kill stehen und vor Gesundheit nur so strotzen.
Aber diese Bären, das will ich noch einmal explizit wiederholen, sind alles Männchen. Man sieht so gut wie keine Weibchen mehr auf dem Packeis, und Mütter mit Jungen sind ohnehin ein seltener Anblick geworden. Von daher befürchte ich, dass wir seit mehreren Jahren Zeuge einer Krise sind, die kaum jemand bemerkt. Die Situation der Bären ist vermutlich vergleichbar mit der der Papageitaucher in Südisland. Die Tiere sind langlebig, wir sehen sie also noch in großen Zahlen: ohne Nachwuchs und mit immer weniger Weibchen kann sich jedoch keine
Population halten. Ich fürchte, dass es in den nächsten Jahren einen
enormen Einbruch in der Spitzbergen-Population geben wird.
Oh, wie wünsche ich mir, dass ich falsch liege! :-(
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