Samstag, 20. Oktober 2012

Eine Woche Scoresbysund

Mein Sommerjob bei PolarQuest und Polar Kreuzfahrten war fünfwöchig ausgelegt, jedoch bekam ich das Angebot, die kanadische "MS Expedition" für zwei weitere Fahrten als Guide zu begleiten. Und als ich das Schiff Anfang September verlassen wollte, meinen Rucksack schon gepackt und meine Kabine soweit geräumt hatte - da kam die Anfrage aus dem kanadischen Büro, ob ich noch zwei weitere Wochen an Bord bleiben und per Schiff nach Island reisen könne.

Was für eine Frage! Auch wenn dies den Komplettausfall meines Islandurlaubs bedeutete: natürlich ließ ich mir die Chance nicht entgehen, von Svalbard über Grönland nach Island zu fahren! Und anstatt Freunde und Bekannte auf Island zu treffen und dort "richtiger" Landschaftsfotografie nachgehen zu können, fuhr ich auf der "Expedition" die Westküste Spitzbergens herab. Nach knapp zwei Tagen schaukeliger Überfahrt gen Südwesten erreichten wir dann die Ostküste der weltgrößten Insel.

Von Grönland hatte ich bisher keine wirkliche Vorstellung gehabt. Obwohl es von Island aus so nahe liegt, stand für mich nie zur Diskussion, dorthin zu fliegen. Zu klimaschädigend, zu teuer, zu wenig notwendig: schließlich warten in Island noch genügend Wunder darauf, entdeckt und erlebt zu werden! Plötzlich so unerwartet dort zu sein erschlug mich beinahe. Unberührt, wild und einfach nur beeindruckend mächtig ragten die schroffen, riesigen Berge der ostgrönländischen Küste vor uns aus dem Meer. 

Da die Eisverhältnisse das Schiff weiter nach Süden gezwungen hatten, als geplant gewesen war, entschied unser Expeditionsleiter, nicht hunderte von Kilometern entlang der scheinbar endlos langen grönländischen Küste zu segeln, sondern "nur" das Fjordsystem Scoresbysund / Kangertittivaq zu erkunden. "Nur" ist dabei allerdings wirklich in Anführungszeichen zu setzen, da es sich dabei mal eben um das größte und längste Fjordsystem der Erde handelt.

Auch um mir selber die Größenverhältnisse zu verdeutlichen, habe ich eine Karte gebastelt, die einerseits unsere Reiseroute beschreibt, andererseits Grönland, Island und einen Teil von Spitzbergen maßstabsgetreu abbildet. Außerdem habe ich, auch im richtigen Maßstab, die Umrisse Deutschlands aufs Eis gepinselt, um zu verstehen, wie groß dort alles ist. 
(Und ja: auch, um mir zu verdeutlichen, wie wahnsinnig diese Urlaube eigentlich sind. Was da für Kilometer zurückgelegt werden - und das nicht mit einem kleinen Auto, sondern mit einem Schiff, das, als es mal ne Autofähre war, 220 Autos und 1200 Passagiere fassen konnte.)

All der Wahnsinn konnte aber nicht verhindern, dass Grönland mich sprachlos machte: vor allem die Größe der treibenden Eisberge überstieg alles, was ich je für möglich hielt. Ich dachte immer, richtig große Eisberge würde es nur in der Antarktis geben, schon alleine deshalb, weil Gletscher auf der Nordhalbkugel ja meistens direkt an der Küste kalben und es dort oft so flach ist, dass die Eismassen immer nur "abbröckeln" können. Das mag in Island stimmen und in Svalbard auch: in Ostgrönland aber sind die Berge unter Wasser genauso steil, wie darüber. Scoresbysund ist bis zu 1450m tief - also fast so tief, wie die höchsten Berge der Umgebung hoch sind.

Mehr als einmal zog ich den Vergleich zu Jökulsárlón, der berühmten Gletscherlagune in Island - bloß dass Jökulsárlón in direkter Gegenüberstellung lächerlich klein erscheinen würde.
Das Inlandeis, dieser gewaltige, kilometerdicke Panzer aus Eis, fällt im Scoresbysund an einigen Stellen in dicken Gletscherzungen in die Fjorde hinab. Dutzende von Metern schieben sich die steilen Gletscher täglich voran und brechen in Abertausende von Eisbergen. Gesehen haben wir das nicht, weil wir gar nicht nah genug an die Gletscher herankamen: die Masse an Eisbergen machte ein Weiterkommen ab einem bestimmten Punkt unmöglich. So wichtig war das aber auch nicht: wir erkundeten das Fjordsystem an verschiedensten Stellen, gingen zweimal täglich an Land und machten mit lauffreudigen Gästen auch die eine oder andere lange Wanderung.

Auf diesem Schiff wurden die 133 Gästen von 12 Guides begleitet, wobei allerdings davon nur acht davon Waffenträger waren - auch Grönland ist Eisbärenland. Diese acht Waffenträger (darunter auch ich) mussten sich so auf die verschiedenen Gruppen verteilen, dass immer mindestens zwei bis drei Waffen in einer Gruppe waren - also gab es pro Landgang maximal vier Gruppen. Meistens unterteilte es sich in eine kleine Strandgruppe (damit auch die Faulen, die Hüftprothesenanwärter und Herzinfarktkanditaten Land betreten konnten), eine meist sehr große Gruppe, die eine mittelschwere Wanderung machte, und die "Bergziegengruppe", die unser Expeditionsleiter gerne mal 10km weit über 600m hohe Pässe schickte. 
Damit jeder von uns Guides mindestens einmal die beliebte Bergziegengruppe begleiten konnte, wechselten wir uns ab. Ich hatte das Glück, auf einer der beiden sprichwörtlichen Höhepunkte der Reise dabei zu sein. Denn erst auf dem schon angesprochenen 600m hohen Pass wurde mir wirklich bewusst, wie groß die Eisberge sind, die da in den Fjorden treiben. Teilweise schienen dort ganze Gletscher im Wasser zu treiben, inklusive der Gletscherspalten. Ruft euch bitte auch in Erinnerung, dass nur ein bis drei Zehntel einens Eisberges ÜBER Wasser sind - der Rest versteckt sich im nassen Blau!  
Also: verlängert mal den Eisberg im anschließenden Bild imaginär nach unten. Was für ein Koloss das sein muss! Und dabei war dies nicht mal einer der ganz großen...

Schon als ich den Rest der Gruppe den Berg hinunter trieb (Zeitdruck, Zeitdruck, immer dieser Zeitdruck...) und ich die ersten Wanderer vor den Eisbergen sah, fragte ich mich, wie groß wohl die 104m lange "Expedition" sein würde. Das Schiff hatte uns an einer anderen Bucht ausgesetzt und musste uns erst noch abholen kommen. Als sie dann erschien, staunten wir alle. Wie winzig das Schiff wirkte, als wir es aus der Ferne im direkten Größenvergleich sahen!

Ihr könnt an den Bildern auch erkennen, dass wir unglaubliches Wetterglück hatten. An Bord waren einige eingefleischte Grönlandreisende, die behaupteten, dass dieses Wetter völlig normal sei - nun, für mich war es das definitiv nicht! Wenn man in Ländern wie Island und Spitzbergen lebt, dann ist ein einzelner Tag ohne Wolken schon etwas total besonderes. Wir erlebten wolkenlosen Sonnenschein an fünf aufeinanderfolgenden Tagen - für mich ein Ereignis absoluten Seltenheitswertes!

Als wären Eisberge, Wetter und das ganze Grönlanderlebnis nicht genug, herrschte genau jetzt Anfang/Mitte September der "Indian Summer". Der Herbst färbte die Beeren und Sträucher bunt, und der erste Schnee des Frühherbstes verpasste den Bergen einen weißen Schleier. 
Wenn ich nicht am Erklären, Zodiakfahren oder Eisbärenwacheschieben war, wenn ich nicht in Gespräche mit aufdringlichen, netten oder ignoranten Touristen verstrickt war oder gelangweilt auf das abendliche Dreigängemenü mit Anwesenheitspflicht wartete - nun, dann verbrachte ich meine wenige Freizeit mit Staunen. Mit kurzen aber extrem intensiven Augenblicken des Wunders, des Lernens, der Stille und der Begeisterung. 

Ich sah zum ersten Mal im Leben wilde Moschusochsen und Schneehasen, wurde Zeuge, wie Eisberge in der Größe von Einkaufszenten sich im Wasser einfach umdrehten und krachend auseinanderbrachen. Ich animierte skeptische Gäste dazu, Rausche- und Krähenbeeren zu probieren,  machte den frühesten Frisch-Schnee-Engel meines Lebens (am 13.September - wer kann's unterbieten?) und sah die ersten Nordlichter der Saison! Deshalb weckte ich, mehrmals an aufeinanderfolgenden Nächten, alle Gäste mitten in der Nacht auf. Lautsprecherdurchsagen zu Unzeiten machen Spaß! ;-)


So, und jetzt habe ich fürs Erste genug geschrieben. Die anschließenden Bilder will ich einfach nur als solche wirken lassen. Es war eine erstaunliche Reise, und ich bin bis oben hin angefüllt mit Eindrücken, Erlebnissen und Emotionen, die erst noch verarbeitet werden müssen. Ich melde mich bald wieder. Bis dann!













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