Donnerstag, 17. Oktober 2019

Extinction Rebellion - Blockadewoche in Berlin

Ich vermisse die Arktis - sehr sogar. Dennoch halte ich es bisher ganz prima ohne sie aus: denn ich bin es satt, hilflos zuzusehen, wie der Klimawandel dort alles immer schneller verändert. Da es vor allem die Industrienationen sind, welche die Erderwärmung vorantreiben, wird auch nur dort eine Lösung zu finden sein: deshalb bin und bleibe ich erstmal in Deutschland. Und weil ich mir gerne meine eigene Meinung bilde, war ich letzte Woche in Berlin und habe mir dort die neue Umweltschutzbewegung "Extinction Rebellion" genauer angeschaut. Davon mag ich euch jetzt berichten!

Extinction Rebellion, kurz XR genannt, ist eine sehr junge Bewegung aus Großbritannien, die ich gerne als "Fridays for Future für Fortgeschrittene" bezeichne. Die Hauptthemen dieser „Rebellion gegen das Aussterben“ sind Klima- und Artenschutz sowie ein friedliches, tolerantes Miteinander aller Menschen. 

XR existiert, weil mehr und mehr Leute frustriert sind von der Tatenlosigkeit der Politik im Bereich des Klimaschutzes. Wir haben erwiesenermaßen nur noch ein sehr kurzes Zeitfenster (etwa 8 Jahre für uns Industrienationen), um die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen. Jahrzehnte "normaler" Demokratiebewegungen haben sehr wenig gebracht: deswegen leisten ganz normale Bürger jetzt zivilen Widerstand. Durch Blockaden auf Straßen und Brücken wird der städtische Autoverkehr gestört: so will man mit den Passanten (auch und besonders den Autofahrern!) ins Gespräch kommen und durch dieses "Stören des Systems" sowohl die Regierung als auch die Medien erreichen. Die Aktivisten sind dabei bereit, in der Tradition Mahatma Gandhis das Risiko einer Inhaftierung in Kauf zu nehmen: ein Zeichen, wie ernst ihnen ihr Anliegen ist. Dabei ist es XR extrem wichtig, komplette Gewaltfreiheit zu leben: auch verbale Gewalt ist ein absolutes Tabu!



Die drei Forderungen von XR lauten wiefolgt:
  1. Die Regierung soll den Klimanotstand ausrufen und sich auch in den Medien so mit dem Thema Klimawandel auseinandersetzen, wie es dem Ernst der Lage entspricht.
     
  2. Die Regierung soll endlich handeln, damit Deutschland bis zum Jahr 2025 emissionsfrei ist: denn das ist tatsächlich noch im Reich des Möglichen.
     
  3. Auf Basis von partizipatorischer Demokratie in Form von Bürgerversammlungen sollen zusammen mit der Politik Wege zur Überwindung der Klimakrise entwickelt werden.
Und so haben sich in der zweiten Oktoberwoche etwa zweitausend Menschen in Berlin versammelt, um sich dort für drastischeren und schnelleren Klimaschutz einzusetzen. In einem legal angemeldeten Camp direkt zwischen Kanzleramt und Reichstag schlugen wir unsere Zelte auf. Was für ein genial-verrückter Ort zum Übernachten: man guckt morgens aus dem Zelt und sieht direkt auf das Reichstagsgebäude!



Obwohl ich es eigentlich nicht so geplant hatte, verbrachte ich viel Zeit in diesem Camp: denn hier gab es eine Menge wichtiger Jobs zu erledigen. Alles hier war selbstorganisatorisch, alles basierte auf Freiwilligenarbeit. Dieses Zeltlager musste Auflagen der Stadt Berlin erfüllen: und ehe ich mich's versah, wurde ich der Koordinator der Ordner. Damit kümmerte mich um die Sicherheit des Camps und war einer derjenigen, die den generellen Überblick hatten.
Einmal Hüttenwart, immer Hüttenwart! ;-)



Dieses Camp war als Stätte der Begegnung gedacht und auch als Ort der gegenseitigen Information. Hier gab es Großzelte, in denen Vorträge und Workshops angeboten sowie erste Versuche von Bürgerversammlungen durchgeführt wurden. In kleinen und größeren Grüppchen wurde geredet und diskutiert, zu allen nur erdenklichen Themen: von Seenotrettung über die Verkehrswende, Klimawandel, Klimagerechtigkeit, Klimaschutz und Wirtschaftswachstum, "Green New Deal", Artensterben, Veganismus, müllfreie Textilindustrie, Achtsamkeit, Yoga und vieles mehr - es war echt ein buntes Programm!

Und genau wie schon im Camp von „Ende Gelände“ so war die Stimmung hier einfach nur toll: alle waren gut drauf, hilfsbereit und positiv eingestellt. Die Organisation und Struktur war beeindruckend: obwohl nur ganz wenige Leute den Überblick hatten, lief alles ziemlich reibungslos. Zu jeder Tageszeit halfen Dutzende von Freiwilligen dabei, diese kleine Zeltstadt am Laufen zu halten: es gab Kloputzteams und Müllsammler sowie eine Campküche, die für unzählige Menschen vegane Mahlzeiten kochte. Es gab ein Team aus Sanitätern, eines von "feinfühligen" Menschen, die mentale Unterstützung lieferten - und es gab "mein" Team aus Ordnern, die Ansprechpartner und Sicherheitsdienst des Camps waren. Nicht, dass da viel passierte, das Ganze fühlte sich an wie eine Hippieveranstaltung aus lauter guten Freunden. Und wenn es regnete, wurde die Outdoor-Bühne zum Freiluftwohnzimmer umgestaltet - Leute, das hat richtig Spaß gemacht!



Das Camp von XR war das Herzstück, in dem alle sich ausruhen, diskutierten und sich vernetzen konnten. Die Aktionen aber, über welche die Medien berichteten, hatten mit dem Camp eigentlich nichts zu tun: sie wurden unter ziemlicher Geheimniskrämerei von externen XR-Gruppen geplant und gestartet. Diese aktiven Kleingruppen von Aktivisten, die vor allem über Smartphones vernetzt waren, werden "Bezugsgruppen" genannt und hatten sich meistens schon vorher in den jeweiligen XR-Ortsgruppen formiert.

So eine Bezugsgruppe ist gedacht als die "Familie" während der Aktion(en): man kennt einander (wichtig im Falle potentieller Verhaftungen), passt aufeinander auf und entscheidet demokratisch, wie weit man bei den Aktionen dabei sein möchte. Das ist ja von Person zu Person unterschiedlich: vom "wir lassen uns auf jeden Fall wegtragen" bis zu "wir suchen keine Polizeikonfrontation und helfen drumherum, in dem wir Essen vorbeibringen oder nach der Räumung die Straße reinigen" war alles dabei.



Und so wurden dann die ganze Woche über Plätze, Straßenkreuzungen und Brücken blockiert. Einige Aktionen dauerten nur mehrere Minuten: das sind sogenannte "Swarmings", die meist nur wenige Ampelphasen lang Straßen sperrten. Andere Blockaden wurden mehrere Tage lang aufrecht erhalten - eben so lange, wie es die Polizei zuließ. Die größten Blockaden fanden an folgenden Orten statt: dem Kreisverkehr an der Siegessäule, dem Potsdamer Platz, auf mehreren Brücken und vor'm Bundesumweltministerium. Wo auch immer XR-Gruppen auftauchten, herrschte Straßenfeststimmung. Unzählige Leute bemalten den grauen Asphalt mit Kreide und viele Künstler brachten sich ein: es gab Riesenseifenblasen, Akrobatik und Yoga, Musik und Gesang, Tanz und eine Menge gute Laune!







Für die Versorgung der Blockaden war eine Straßenküche zuständig und es hätten Dixie-Klos bereitgestanden, hätte die Polizei sie durchgelassen: statt dessen mussten meist die öffentlichen Toiletten genutzt werden, die (wenn ich das richtig verstanden habe) auch von XR-Kloputzteams sauber gehalten wurden. Viele verbrachten mehrere Nächte auf der Straße: unter freiem Himmel schliefen sie auf Isomatten, und als es regnete, behalf man sich mit Planen oder harrte unter Rettungsdecken und Regenzeug beharrlich aus. Das Wetter war nicht immer toll: dass so viele Leute auch Regen und Temperaturen von bis 1°C ertrugen, ist bewundernswert! Und es zeigt gleichzeitig, wie ernst es den Aktivisten von XR ist: wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun, dann fliegt uns hier bald alles um die Ohren!



Den Kern der Blockade bildeten jeweils sogenannte "Arrestables" - das sind Menschen, die sich anketten, meist aneinander oder an feststehenden Dingen, um die Räumung für die Polizei schwieriger zu gestalten. Damit nehmen sie etwas höhere Strafen in Kauf, als jene, die sich der Sitzblockade anschließen und "nur" von der Polizei wegtragen lassen.

Diese Strafen sind für so "banale" Dinge wie eine Blockade zum Glück nicht so krass: eine nicht angemeldete Demo / Blockade nach Aufforderung der Polizei ist noch keine Straftat, wie Anketten es wäre, sondern "nur" eine Ordnungswidrigkeit: lässt man sich von der Polizei wegtragen, dann drohen einem ein Polizeigewahrsam von maximal 48 Stunden sowie ein Bußgeld. Praktisch war vom ersten Tag an klar, dass die Berliner Polizei wohl von oben (also der Regierung) den Befehl erhalten hatte, niemanden festzunehmen: da wollte wohl jemand Eskalationen und eventuelle Rechtfertigungen vermeiden...








Ich selber war als Camp-Verantwortlicher ohne Bezugsgruppe immer nur stundenweise auf den Blockaden, habe es aber zweimal geschafft, bei einer Räumung der Polizei dabei zu sein. Und dort konnte ich erleben, dass XR-Deutschland zu seinem Wort steht: alle bemühen sich um absolute Gewaltfreiheit und um eine gute Beziehung zur Polizei.

Spezielle XR-Polizeikontakte waren ständig mit den Beamten in Beratung, zögerten Räumungen heraus und versuchten, die Wünsche der Gesetzeshüter in die XR-Entscheidungen einfließen zu lassen: denn dass die individuellen Polizisten mit uns Arbeit haben, ist echt schade, aber im Zuge der Mission (Politik beeinflussen, in dem man hartnäckig ein Zeichen setzt) unvermeidlich. Ich selber habe mich bei meiner ersten Räumung wegtragen lassen, aber mich echt schlecht gefühlt, als ich merkte, wie müde die beiden Beamten waren - weil ich wahrscheinlich schon die fünfzigste Person war, die sie an dem Morgen wegtrugen...



Immer wieder suchte ich das Gespräch mit der Polizei und lernte ihren Zwiespalt kennen: meine Gesprächspartner unterstützten unser Anliegen, fanden es aber meist nicht so toll, dass wir es "auf ihrem Rücken" austrugen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Und deswegen folgte ich bei meiner zweiten Räumung der Bitte der Polizisten, in Begleitung selber fortzugehen, statt mich von ihnen tragen zu lassen.

Empathie und gegenseitiges Verständnis waren Werte, die zu leben in dieser Woche ganz viele Menschen versucht haben. Dazu passt auch gut, dass die Blockaden Rettungsfahrzeuge durchgelassen haben: wenn normale Polizei-Einsatzwagen (also keine Gruppentransporter) oder Nicht-Polizei mit Blaulicht und Martinshorn angerauscht kam, öffneten wir sofort eine Rettungsgasse und ließen sie hindurch. Soviel dann auch zu dem falschen Gerücht, dass XR keine Rettungswagen durchlassen und deswegen Menschenleben gefährden würde!







An der Stelle will ich mit einigen anderen Falschinformationen über XR aufräumen: etwa, dass es ein sektenähnlicher Verein sein soll mit esoterischer Denkweise. Das ist totaler Quatsch! Eine Sekte ist religiös oder vertritt Ideologien, die nicht den ethischen Grundwerten der Gesellschaft entsprechen. Beides ist bei XR absolut nicht der Fall. Es machen Menschen allen Alters und aller Gesinnungen mit: es sind viele Studenten dabei, aber auch Familien mit Kindern, Rentner und einfach jeder nette Mensch, der sich Sorgen um die Zukunft macht und sich aktiv und friedlich aber hartnäckig einbringen will.




Klar: es gibt in der Bewegung einige, nennen wir sie mal "Paradiesvögel", und ja, ein paar wenige Esoteriker mögen dabei sein, das will ich nicht ausschließen. XR ist komplett inklusiv: mitmachen dürfen alle, solange sie sich an die Grundwerte halten (die ihr gerne hier nachlesen könnt: XR - Prinzipien und Werte). Viele Künstler und künstlerische Aktionen sind dabei: unter anderem die "Rote Brigade", eine Schweige-Prozession von Menschen in seltsamen roten Gewändern. Ich glaube, dass sie der Grund sind, warum sich die Vorwürfe einer XR-Sekte mit esoterischem Anklang so hartnäckig halten. Die Idee hinter der Darstellung der Rote Brigade ist, dass sie "das gemeinsame Blut symbolisieren, das wir mit allen Spezies dieser Erde teilen", die Verbundenheit, Trauer und das Leid, das wir mit dem Klimawandel über die Erde bringen. Es ist eine Kunstform: und eine sehr eindrückliche, das nur mal nebenbei gesagt...



Meine Erfahrungen mit XR waren durchweg positiver Natur. Dafür, dass in Berlin mehrere tausend  Menschen zusammenkamen, um selbstorganisatorisch zu campen und Aktionen zu machen (eine Premiere für XR Deutschland), lief alles erstaunlich gut! Natürlich gab es hier und da kleine Pannen; unter anderem war ich wenig begeistert von zwei Swarmings, die (weil ganz spontan und nicht gut durchdacht) nicht nur die Autofahrer, sondern auch die öffentlichen Verkehrsmittel störten - also eher suboptimal...

Dazu gehört auch, dass ich nicht alle Aktionen von XR vollen Herzens unterstütze; so hielt ich nicht viel davon, Kunstblut auf Treppen auszuschütten. Ich selber plädiere immer an die Toleranz aller Menschen: man muss nicht immer zu 100% hinter jeder Aktion stehen, um die generelle Richtung der Bewegung zu unterstützen. Das ist ja in der Politik nicht anders: kaum jemand wird hinter allen Entscheidungen stehen, welche die Partei fällt, und trotzdem wählt man "für die Sache"... Solange Extinction Rebellion gewaltfrei bleibt und sich nicht gegen die Gesellschaft richtet, sondern mit ihr für mehr Klimaschutz arbeiten will, werde ich sie unterstützen, und dabei andere Ansichten und Fehler akzeptieren. Das gehört einfach dazu, wenn viele unterschiedliche Menschen zusammen agieren!



Überhaupt waren es die Menschen, die mich am meisten überrascht haben. Jeder einzelne war interessant, nett und auf seine Art besonders! Ich habe erlebt, wie mit Polizisten geflirtet wurde, wie erst unverständige Passanten zu Unterstützern wurden, und wie Menschen aller Altersstufen und Gesinnungen sich ohne Vorurteile begegneten und einander halfen. Verrückt war auch der Moment, als ich mich plötzlich (mitten in der Räumung des Potsdamer Platzes) in einem Sessel neben einer mir zuvor gänzlich Unbekannten wiederfand, die versuchte, mir das Stricken beizubringen. Dass es davon auch noch ein Foto gibt, setzt dem ganzen die Krone auf!




Einer der eindrücklichsten Momente war es, als eine Demo mehrerer tausend Teilnehmer beim Holocaust-Mahnmal ankam - und von jetzt auf gleich mucksmäuschenstill wurde. Nicht einmal Gespräche waren zu hören: schweigend zogen Demonstranten wie Polizisten an den grauen Stelen vorbei, minutenlang, bis auch die letzten vorbei gezogen waren. Die Kombination aus Holocaust und dem gerade geschehenen Anschlag in Halle erzeugten einen absoluten Gänsehautmoment, der mir noch einmal verdeutlicht hat, was für Menschen bei XR mitmachen: empathische, soziale Leute, die viel begriffen haben. Und die hoffen, dass ihr friedlicher Aufstand bald erhört werden wird: denn wir wollen doch nur, dass auch die nächsten Generationen noch in Frieden und Wohlstand in Deutschland und ganz generell auf dieser Welt leben können...



Nach einer ganzen Woche voller Aktionen waren wir einerseits begeistert von der gefühlten Aufbruchstimmung - andererseits aber enttäuscht darüber, dass von der Bundesregierung nicht einmal die kleinste Stellungnahme kam. Wirklich überraschend war das aber nicht: wohl kaum einer von uns hat geglaubt, dass die Woche in Berlin sofort Ergebnisse erzielen würde. Wichtig ist daher, dass das Thema Klimaschutz weiter stark im Gespräch bleibt - und sich mehr und mehr Bürger Klimaschutzbewegungen wie FFF oder XR anschließen. Je mehr Leute auf die Straße gehen und sich für ihre Überzeugungen stark machen, desto eher werden die Politiker sich trauen, endlich mutige Entscheidungen zu treffen: gegen den menschengemachten Klimawandel und für eine inklusive, empathische Gesellschaft.

Von daher apelliere ich einmal mehr an euch: engagiert euch und traut euch, Stellung zu beziehen für die Dinge, die euch wichtig sind. Im Angesicht der Klimakrise, des Rechtsrucks in der Gesellschaft und der zunehmenden Normalisierung von Gewalt kann es sich eigentlich niemand mehr leisten, schweigend im Hintergrund zu bleiben. Eine Demokratie ist vom Volk für's Volk: nur wer sich aktiv einbringt, wird die Chance haben, die Zukunft zu beeinflussen!


























Eine kurze Zusammenfassung der Woche sowie die Frage, ob der Protest von XR nun sinnvoll ist, oder nicht, könnt ihr euch hier ansehen, in einer 20-minütigen Reportage des BR:

PULS Reportage: Wie geht guter Protest?

1 Kommentar:

  1. Kerstin, dein Bericht ist großartig! Ich bin selbst Aktivistin bei Anonymous for the Voiceless und habe auch an FFF-Demos teilgenommen, aber von XR habe ich bisher immer nur im Radio gehört und die Bewegung daher kaum beobachtet. Dein Bericht hat mir viele Fragen beantwortet. Danke dafür! Ich werde schauen, ob ich mich einer Ortsgruppe hier in der Nähe anschließen kann. :-) Liebe Grüße, Linda

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