Donnerstag, 19. Dezember 2024

Von wilden Tieren - und einem festgefrorenen Schwan

oder: eine etwas absurde Geschichte über die unergründlichen Wege von Social Media.

Island erlebt gerade einen „ordentlichen“ Winter. An Schnee mangelt es noch, aber seit Mitte November ist es so kalt, dass wir bereits Schlittschuhlaufen konnten auf klar gefrorenen Seen: das geschieht hier auch nicht so wahnsinnig oft!



Die Klimakrise hat ja weltweit schon viele Veränderungen bewirkt. Eine für mich klar sichtbare ist die Tatsache, dass es jedes Jahr mehr Vögel zu geben scheint, die in Island überwintern. Neben Singvögeln wie Drosseln und Staren sind es besonders Graugänse und Singschwäne, die man in Südisland in kleinen Gruppen auf Seen und Wiesen sehen kann. In Reykjavík hat sich eine kleine Gruppe von Freiwilligen gegründet, welche die Vögel an strategischen Orten füttern. Ihre Argumentation: die Hauptstadt Islands ist so gewachsen, dass es hier kaum noch Gebiete gibt, in denen die Vögel sich natürlich ernähren können. Zudem haben sich einige Vögel, wie etwa im Falle des Stadtsees im Zentrum von Reykjavík, nach der mittlerweile jahrzehntelangen Zufütterung an diese Nahrungsquelle gewöhnt und sind abhängig von ihr.


Ich war früher Gegner vom An- und Zufüttern von Wildtieren, aber ein drittes Argument hat auch mich mittlerweile davon überzeugt, dass es absolut notwendig geworden ist, dass wir Wildtieren in der Nähe von Zivilisation mit Futter helfen, denn: es gibt immer weniger Wildtiere. Ich glaube, den wenigsten Menschen ist klar, wie wenig Wildtiere wir im Vergleich zu uns Menschen mittlerweile haben. Die Verhältnisse sind mittlerweile so krass verschoben, dass, wenn man die Biomasse der Landsäugetiere betrachtet (sie also in Tonnen wiegen würde), es bei den Landsäugetieren nur noch 4% Wildtiere gibt - die anderen 96% bestehen aus uns Menschen (34%) und den von uns gezüchteten Tieren (62%).

Ich habe eine Grafik gefunden (Link unter dem Bild), aus der ich dieses Vergleichsbild herausgelöst habe: hier sehen wir die Biomasse von unseren Zuchtvieh ("Livestock" - darunter fällt alles, was wir züchten von Rindern über Schweine und Geflügel sowie Haustiere) und von uns Menschen ("Humans") gegenüber der verbliebenen Masse an Säugetieren ("Wild Mammals") und Vögeln ("Wild Birds").

Ausschnitt aus der Grafik "All the Biomass on Earth" von der Seite visualcapitalist.com


Seit es Menschen gibt, haben "wir" die wilde Tierwelt systematisch dezimiert: zuerst durch das große Ausrotten der Megafauna gegen Ende der letzten Kaltzeit (die sogenannte quartäre Aussterbewelle, die zeitgleich einherging mit dem Auftreten des Menschen) und nach unserer Sesshaftwerdung durch die Landwirtschaft bzw. die Zerstörung von Wildnis. Auch hier habe ich eine interessante Grafik gefunden, von der Seite ourworldindata.org

Türkis: Wilde Landsäugetiere, Blau: Menschen, Orangebraun: Nutztiere
Gemessen im Laufe der Zeit (vor 100.000 Jahren bis zum Jahr 2015) in "Kohlenstoff-Tonnen"


Interessant ist, dass die Anzahl der Biomasse der Säugetiere enorm gestiegen ist: weil wir Menschen mit der Landwirtschaft gelernt haben, effektiv unser Essen und das unserer Tiere anzubauen. Womit wir dann aber gleichzeitig die Lebensräume der wilden Tiere zerstört haben, die wir parallel auch munter als Nahrunsquelle nutzen. Eigentlich logisch, dass deren Anzahl so drastisch zurückgegangen ist.

Jetzt aber zurück nach Island - wo, innerhalb der Hauptstadt, an einigen Orten Gänse und Schwäne gefüttert werden. Der bekannteste dieser Orte ist der Stadtsee, Tjörnin. Und genau dort hat eine Tierfreundin bemerkt, dass ein junger Schwan sich stundenlang nicht vom Fleck bewegt hat. Ein Foto mit der Frage, wie man dem Vogel am besten helfen könne, teilte sie in der Facebookgruppe „Vogelfütterung“. Meine Freundin Arianne ist Teil dieser Gruppe, sah das Foto und antwortete: „Ich bin unterwegs mit allem was es braucht.“


Kaum, dass sie das geschrieben hatte, rief Arianne mich, die ich ja gerade bei ihr im Gästezimmer wohne, und bat mich, mitzukommen. Ich ließ mich nicht lange bitten: wir zwei sind mittlerweile so einigen Wildvögeln zur Hilfe gekommen und diesbezüglich ein eingespieltes Team. Ein festgefrorener Schwan war allerdings für uns beide etwas Neues!

Während Arianne auf den Dachboden stieg, um ein kleines Surfbrett zu holen (für den Fall, dass das Eis zu dünn war, um darauf zu gehen), füllte ich einen 5 Liter Kanister mit heißem Wasser, zog mir Wollunterwäsche und Gummistiefel an - und packte mir eine Tüte mit Ersatzschuhen und Socken. Mein Gedanke war, dass ich es vom offenen Wasser aus versuchen würde, denn der Stadtsee Tjörnin ist gerade einmal knietief. Mir wären zwar die Stiefel voll Wasser gelaufen, aber für ein paar Minuten lässt sich das gut aushalten. Und so starteten wir dann und fuhren mit Ariannes Auto zum 5 Minuten entfernten See.



Das Eis war dick genug, um uns zu tragen, und als ich zum Schwan kam, stellte sich heraus: er war nicht im Eis eingefroren, sondern auf dem Eis festgefroren. Der junge Vogel hatte sich mit nassen Federn, aufs Eis gesetzt und geschlafen, woraufhin ihm bei den tiefen Minustemperaturen (auch tagsüber war es -5 bis -9°C kalt) die nassen Federn auf dem Eis festgefroren sind. Das Eis um ihn herum war dick und trug mich, sodass ich ihn problemlos festhalten und leicht auf die Seite drehen konnte. Währenddessen nutzte Arianne das warme Wasser und ihre Finger, um die festgefrorenen Federn aufzutauen und ihn geduldig freizuzupfen. Nach nur wenigen Minuten war das Tier frei und mischte sich laut schimpfend unter seine Artgenossen.



Zurück im warmen Haus (also wir, nicht der Schwan, der blieb im See) beschlossen Arianne und ich, parallel auf Facebook von der Rettung zu berichten. Wir wollten erstens erreichen, dass die Leute bei der Kälte momentan ein aufmerksames Auge auf die Wildvögel werfen, aber auch zeigen, dass es manchmal gar nicht schwer ist, einem Tier in Not zu helfen.
Mein auf isländisch geschriebener Facebook-Post machte noch an dem Abend in Island die Runde, mit dem Ergebnis, dass mich am nächsten Morgen RUV um ein Interview bat; das ist das isländische Äquivalent zur ARD. Daraus wurde ein kleiner Onlineartikel, der viel weniger aussagte, als ich es gehofft hatte - aber gut, so ist das halt mit Medien...

https://www.ruv.is/frettir/innlent/2024-12-03-bjorgudu-alftarunga-vopnadar-hitabrusa-og-brimbretti-429963

Was danach geschah, erfuhr ich nur, weil mich jemand darüber informierte. Eine isländische Autorin kommentierte den Onlineartikel auf BlueSky (noch so ein Soziales Medium), und das wurde von einem amerikanischen Autor aufgegriffen. Bear Bergman, Autor, Sprecher und Aktivist für die LGBTQ-Bewegung schrieb einen kurzen Post auf Facebook, der auf Deutsch übersetzt wie folgt lautet:

„Mein heutiger Feed auf BlueSky enthielt einen Beitrag der isländischen Schriftstellerin Hildur Knútsdóttir, die den ursprünglichen Austausch auf einer Facebook-Seite aus Reykjavik gesehen hatte. Jemand hatte gepostet, dass ein Schwanenjunges anscheinend am Eis festgefroren sei und im Sterben liege. Während sich die Leute online Sorgen darüber machten, wie oder ob sie helfen könnten, antwortete die Naturforscherin Kerstin Langenberger auf den Beitrag und sagte: „Ich bin unterwegs, mit der notwendigen Ausrüstung“. Langenberger brachte eine Freundin, einige Thermoskannen mit warmem Wasser und ein Surfbrett für den Fall, dass das Eis bricht – die notwendige Ausrüstung –, taute das Schwanenbaby auf und befreite es, worauf es prompt davonflog.

Es gibt eine Reihe von Dingen, die ich an dieser Geschichte schätze, aber es ist Langenbergers Aussage, die in mir nachhallt. Danach strebe ich: wenn ich etwas/jemanden verletzt oder in Schwierigkeiten sehe, dass ich dann sage „Ich bin unterwegs mit der notwendigen Ausrüstung“. Besagte notwendige Ausrüstung kann manchmal auch die Entschlossenheit sein, es einfach zu versuchen, oder ein*e Freund*in, der/die hilft. Manchmal kann auch ich die notwendige Ausrüstung sein – der Freund, der mitkommt, um sich unter der Anleitung eines Experten nützlich zu machen.

Es gibt heutzutage viele Momente, in denen es mir sehr, sehr schwer fällt, den nächsten Schritt zu tun, oder um überhaupt etwas zu tun. Die Welt ist so, so kompliziert. Ich fühle mich oft nutzlos oder überfordert, erschöpft oder einfach nur verdammt traurig. Aber ich werde versuchen, die Tage mit all der Stärke zu beginnen, die ein Naturforscher aufbringen kann, der bereit ist, sich im Dunkeln auf’s Eis zu wagen um ein Vogelbaby zu retten, mit der Einstellung: Ich bin unterwegs mit der notwendigen Ausrüstung.“


Dieser Beitrag fand so viel Anklang, dass es jetzt wohl Leute gibt, die sich den Spruch „I am on my way with the necessary equipment“ (die grobe Übersetzung von Ariannes Antwort auf den eingefrorenen Schwan) als Tattoo stechen lassen wollen. Bear hat einen kleinen Online-Shop mit T-Shirts, die er für sich selbst entworfen hat, vor allem um mehr Aufmerksamkeit für Transpersonen zu generieren. In diesem Shop, dessen Erlös gespendet wird, bietet er jetzt auch ein Design an, das die Silhouette eines Schwans zeigt und in verspielter Schrift „I am on my way with the necessary equipment“ - natürlich in Regenbogenfarben.



Angesichts der Wellen, die diese kurze Rettungsaktion geschlagen hat, habe ich erstmal ungläubig die Augen verdreht und amüsiert gelacht. Einer meiner ersten Gedanken war: es gibt nun wirklich größere Probleme auf unserem Planeten, in die man seine Zeit investieren sollte! Es war niemals mein Ziel, dass sich jemand einen Spruch auf seinen Körper tätowiert, den ich zu allem Überfluss auch nie so gesagt habe. Oder dass jemand ein T-Shirt entwirft, das einen regenbogenfarbigen Schwan zeigt.

Gleichzeitig ist aber auch klar: diese für mich selbstverständliche Aktion scheint Menschen erfreut, inspiriert und motiviert zu haben. Und das ist etwas Wunderbares! Wenn ich es mit diesem Facebook-Post geschafft habe, anderen Freude zu machen: prima. Wenn es sie zudem motiviert, in Zukunft statt eines passiven Zuschauers vielleicht jemand zu sein, der etwas tut, oder es zumindest versucht: super!

Und genau deswegen habe ich mich jetzt auch entschlossen, diese für mich immer noch ziemlich absurde Geschichte über die undurchschaubaren Wege der sozialen Medien mit euch zu teilen.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die anderen Freude machen und Hoffnung geben. Und damit ist es vermutlich genau die richtige Geschichte zur Weihnachtszeit!

Liebe Grüße aus dem dunklen, stürmischen Reykjavík,
Kerstin

Dienstag, 26. November 2024

November in Island

Hallo zusammen!
Hier kommt endlich mal wieder ein Lebenszeichen von mir: Und zwar diesmal wieder aus Island.

Es ist lange her, dass ich einen Winter in Island verbracht habe. Das liegt einerseits daran, dass ich in den letzten Jahren oft mit Fotovorträgen in den deutschsprachigen Ländern unterwegs war, andererseits aber auch daran, dass ich nicht mehr fliege. Der einzige Weg für mich, nach Island zu gelangen, ist also per Schiff. Es gibt leider nur eine einzige Passagierfähre zwischen Island und dem Rest der Welt: Norröna, von der färingischen Reederei Smyrilline. Sie macht allerdings seit einigen Jahren vier Monate Winterpause. Das bedeutet, dass ich zwischen Mitte November und Mitte März Island entweder nicht verlassen bzw. nicht erreichen kann - denn eine Alternative gibt es leider nicht.

Mir war in diesem Jahr nach einem ordentlichen Winter, und so habe ich vor zwei Wochen die letzte Fähre von Dänemark aus nach Island genommen. Meine „lange Reise nach Norden“ dauert immer 5-8 Tage, je nach Richtung, Wetter und Mitfahrgelegenheit. Diesen Herbst bin ich dann also Mitte November an einem Tag mit verschiedenen Zügen vom Rheinland nach Norddänemark gereist, habe in einem Hotel in Aalborg übernachtet und am nächsten Morgen stressfrei die letzten 1,5 Stunden Zugfahrt nach Hirtshals unternommen, einem kleinen Städtchen ganz oben an der nördlichen Spitze von Dänemark. Wenn ich Zeit habe, gehe ich die 35 Minuten vom Bahnhof zur Fähre zu Fuß, denn nach insgesamt 12 Stunden Bahnfahrt tut Bewegung ziemlich gut.


Es folgten knapp drei Tage auf der Fähre, diesmal (fast) ohne Zwischenstopp auf den Färöern, weil wegen des stürmischen Wetters nur zum Ab- und Beladen der Autos gestoppt und regelrecht nach Island durchgefahren wurde. Nach einer ordentlichen Schaukelpartie kamen wir nach insgesamt nur zweieinhalb Tagen in Island an - und da war mittlerweile der Winter eingekehrt.

Sorry wegen der Qualität - auch ich knipse ab und zu mit'm Handy...


Seyðisfjörður, der Ort in Island, an dem die Fähre ankommt, liegt so weit von der Hauptstadt entfernt, wie es geografisch nur möglich ist: nämlich im Nordosten der Insel. Ich fahre und besitze, ebenfalls vor allem aus Klimaschutzgründen, ja auch kein Auto, was bedeutet, dass ich so ziemlich überall auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen bin. Genau dieser ist in Island, zumindest außerhalb der Hauptstadt, kaum existent. Züge/Bahnen gibt es hier nicht, funktionierende Mitfahrbörsen auch nicht, und die private Busfirma, welche sich um den öffentlichen Nahverkehr kümmert, fährt viele Orte in Island, wenn überhaupt, nur 1-3 Mal pro Woche an. Kein Wunder, dass hier jeder ein Auto besitzt und beinahe mitleidig auf alle herunterschaut, welche die Busse nutzen (müssen)! Leider gibt es zwischen dem Fähranleger und der Hauptstadt des Nordens, Akureyri, nur viel Mal die Woche eine Verbindung: und zwar ausgerechnet NICHT an den Tagen wenn die Fähre ankommt bzw. abfährt. Dass es Passagiere gibt, die ohne Auto die Fähre nutzen, scheint niemand auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen...

Ich war also darauf eingestellt, mal wieder per Anhalter zu fahren und hatte mir 3 Tage eingeplant; schließlich sind die Tage hier schon kurz und das Wetter eher unangenehm. Allerdings hatte ich riesiges Glück, denn unmittelbar vor dem Anlegen fand ich auf der Fähre einen netten Isländer, der an diesem Tag noch nach Reykjavík fahren wollte - und bereit war, mich mitzunehmen.
Das kommt einem Sechser im Lotto gleich! :)

Und so verbrachten wir zwei dann die nächsten 730 Kilometer auf der Ringstraße: erst langsam und vorsichtig auf glatten Winterwegen, aber ab der Ostfjorde wurde das Wetter besser und ab Höhe Höfn (etwa 1/3 der Strecke war geschafft) wurden die Straßen komplett eis- und die Landschaft schneefrei. So kam ich, rund 12 Stunden nach Ankunft der Fähre, bereits in Reykjavík an: damit hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu rechnen gewagt!

Noch ein Handyfoto - aus den Ostfjorden

Jetzt passierte aber alles Schlag auf Schlag, denn kaum, dass ich bei meiner "isländischen Familie" in Reykjavík angekommen war, hieß es: Erdbebenserie bei Grindavík; Vulkanausbruch steht unmittelbar bevor. Und tatsächlich, keine zwei Stunden nach meiner Ankunft in Reykjavík, stand im Süden der Himmel wieder in Flammen. Wir brauchten keine Webcams einzuschalten, ein Blick aus dem Wohnzimmerfenster genügte: ja, in 30 Kilometer Entfernung brachte ein Vorhang aus Lavafontänen den Nachthimmel zum Leuchten.

Wow, Island, ehrlich?
Was für ein Willkommensgeschenk!

Oder, wie einer meiner Freunde kommentierte:
„Das wird ja zur Regel bei dir, Kerstin, dass es wieder losgeht, wenn du kommst...“

Verrückt!

Der Blick von Reykjavík in Richtung des 60 Minuten alten Ausbruchs

Hätte mir vor vier jemand Jahren gesagt, dass ich mich einmal an Vulkanausbrüche gewöhnen würde und sogar okay damit sein würde, nicht sofort hinzufahren, ich hätte diejenige Person für verrückt erklärt. Aber: Dies ist jetzt der 10. Vulkanausbruch auf Reykjanes in drei Jahren. Wir hatten zuerst drei Ausbrüche beim Fagradalsfjall (in den Jahren 2021 - 2023), gefolgt von jetzt sieben Ausbrüchen bei Sundhnúksgígar (ein paar Kilometer weiter westlich, nördlich der mittlerweile evakuierten Stadt Grindavík). Dort fließt seit dem 18. Dezember 2023 etwa alle sechs Wochen an etwa dergleichen Stelle Lava: die Ausbrüche variieren von kurzen von 2 Tagen bis knapp zwei Monaten. Diese Spaltenausbrüche nennen die Isländer „eldar“, „Feuer“, auf Deutsch am beschreibendsten übersetzt mit „Ausbruchsserie“. 

Einfach ausgedrückt handelt es sich hierbei um ein Vulkansystem, das keinen festen „Krater“ hat, keine gefestigten „Wege für die Lava nach oben“, sondern der, wann immer der Druck groß genug ist, sich einen neuen Weg nach oben sucht. Weil die vielen Erdbeben (welche die aufsteigende Magma verursacht) die dünne Erdkruste ziemlich brüchig gemacht haben, kommen die nachfolgenden Eruptionen allerdings schon irgendwie im gleichen Gebiet raus. Wie lange solche „Feuer“ andauern kann niemand sagen. Das letzte Beispiel einer solchen Ausbruchsserie gab es bei Krafla, im Nordosten Islands beim Mývatn, wo es in den Jahren 1975 bis 1984 immer wieder zu solchen Vulkanausbrüchen kam. Allerdings waren es dort neun Ausbrüche in neun Jahren. Wir haben hier jetzt zehn Ausbrüche in drei Jahren. Ähnlich und doch ganz anders...

Detail des "Feuervorhangs" des Ausbruchs vom August, in der ersten Nacht, am 22.08.24

Die Silhouette von Reykjavík mit dem Glühen des 30 Kilometer entfernten Vulkanausbruchs.
Für viele Hauptstadtbewohner ist dieser Anblick tatsächlich mittlerweile zur Normalität geworden.


Nach einer guten Mütze Schlaf fing ich am 21. November dann an, mal auszuloten, was in Sachen Vulkanbesuchs möglich sein würde. Seit Dezember 2023 befinden sich die Ausbrüche in einer eher flachen Gegend und sind zudem sehr nahe an wichtiger Infrastruktur. Da gibt es einerseits die kleine Stadt Grindavík, in der ehemals 3500 Menschen lebten, von denen sich aber mittlerweile (bis auf einige sehr wenige) woanders angesiedelt haben: denn die Stadt ist durch die vielen Bodenbewegungen von Erdspalten regelrecht zerrissen worden.




Ebenfalls im Einflussbereich der Vulkanausbrüche liegt die „Blaue Lagune": Ein Luxus-Bad in dem Touristen für extrem viel Geld im Abwasser eines Kraftwerks baden. Viel wichtiger ist aber besagtes Geothermiekraftwerk Svartsengi. Das produziert 76,5 MW Strom durch Dampfturbinen und 80 MW Strom aus Heißwasser und versorgt außerdem ganz Reykjanes mit Heißwasser. Im vergangenen Jahr wurden vom isländischen Staat Milliarden (!) in den Schutz all dieser Infrastruktur gesteckt, was sich vor allem durch den Bau von Dämmen auszeichnet, welche die Lava zur Seite ablenken sollen - und das hat bisher auch super funktioniert.

Diese Karte (Stand 22.November) zeigt einerseits die neuen Lavafelder (das neueste ist Purpur), die momentan aktive Spalte (die hellroten Striche) - und die Dämme um die Gebäudekombination Kraftwerk / Blaue Lagune (die dicken braunen Striche). Alle anderen braunen Linien sind entweder Hochspannungsleitungen oder Wasserleitungen. Und schwarz sind Straßen.
Quelle: https://www.vedur.is/um-vi/frettir/eldgos-hafid-a-sundhnuksgigarodinni


Wegen der andauernden Bodenbewegung (eine Mischung aus Kontinentaldrift und von Magma verursachter Erdbeben) ist die Gegend mittlerweile von mächtigen Erdspalten durchzogen. Mehrfach kam es bei Grindavík schon zu Unfällen; das schlimmste Beispiel ist das spurlose Verschwinden eines Arbeiters. Er hinterließ nur ein Loch im vorher scheinbar unversehrten Erdboden: darunter der Eingang zu einer über 30 Meter tiefen Spalte, deren Grund mit Wasser gefüllt war. Die Person wurde trotz Rettungsaktion nie wieder gefunden. Auch auf dem (illegalen) Weg zum Vulkan brach sich ein Tourist das Bein, als er in einen Spalt im Boden fiel. Die Erdspalten können offensichtlich sein, sind aber teilweise von Moos und der obersten Erdschicht verborgen - bis man darauf tritt und durch bricht. Man kann das am ehesten mit Gletscherspalten vergleichen, die teilweise offen liegen, teilweise aber auch schneebedeckt und unsichtbar sind.

Wer auf Reykjanes unterwegs ist, trifft sie überall, kleine und große Spalten im Boden...

Wegen all diesen Dingen sind die Ausbrüche seit Dezember 2023, also seit sich die Ausbruchsstelle vom Fagradalsfjall nach Sundhnúksgígar verschob, für die Öffentlichkeit gesperrt. Touristen müssen an der „Hauptstraße“ zwischen Keflavík und Reykjavík bleiben, bzw. idealerweise an den offiziellen Parkplätzen, die ab und zu (bei abzweigenden Straßen) zu finden sind. Allerdings halten sich viele Touris nicht daran und wandern einfach drauf los, hinein in die Gefahrenzone. Momentan kommt noch eine zusätzliche Gefahr dazu: im Norden des momentanen Lavafeldes befindet sich ein alter Übungsplatz des amerikanischen Militärs. Dort kann Munition liegen, u.a. Granaten, die durch die Lava hochgehen könnten. Noch ist das nicht passiert, jedenfalls hat das niemand mitbekommen, aber das ist ein Grund, weshalb ich mich beim letzten Ausbruch (im August 2024) nicht unter die vielen Touris und Neoisländer gemischt habe - sondern in der Ferne geblieben bin.


Direkt zur Lava bzw. in „gute fotografische Nähe“ zu diesem Ausbruch kommt man nur auf drei Wege: illegal, indirekt via Drohne, oder mit einer Spezialerlaubnis. Die ersten beiden Optionen üben wenig Reiz auf mich aus, und so habe ich mich direkt im Dezember erkundigt, was ich tun muss, um legal zum Ausbruch zu gelangen. Da ich seit zehn Jahren akkreditierter Pressefotograf bin und über einen deutschen und internationalen Presseausweis verfüge, war der Weg nicht kompliziert, aber doch mühsam, denn: ich muss jeden Besuch ankündigen und auf die Erlaubnis warten, hinein zu dürfen.

Dass ich weder ein Auto fahre noch eines besitze, macht alles noch komplizierter. Dennoch habe ich es immer wieder geschafft, im vergangenen Jahr näher an die verschiedenen Ausbrüche heranzukommen - also wenn ich denn zeitgleich in Island war.

Und jetzt? NATÜRLICH wollte ich mir ein Bild der Lage machen. Also bin ich am Tag nach Beginn des momentanen Ausbruchs mit einem Freund in Richtung der Blauen Lagune gereist. Was wir dort vorfanden, war spannend, denn ich hatte sowas noch nie gesehen: die Lava floss außen an den Schutzwällen entlang. Dabei machte sie alles platt, was sie vorfand: inklusive eines Parkplatzes für 300 Autos und eines kleinen Service-Gebäudes (aus Containern errichtet).
Als wir ankamen, war schon alles unter der Lava verschwunden - fast so, als sei da nie menschliche Infrastruktur gewesen...


Die Ausbruchsserie bei Sundhnúksgígar ist, das muss ich zugeben, fotografisch lange nicht so attraktiv und interessant, wie die Ausbrüche beim Fagradalsfjall. Der Grund ist erstens die schiere Größe: die Lava bedeckt so schnell solch weite Flächen, dass alles im Hintergrund im Hitzeflimmern unscharf gemacht wird. Vom Boden aus scharfe Fotos vom Krater oder den Fontänen zu machen, ist mittlerweile schier unmöglich geworden! Anfangs, als das neue Lavafeld noch kleiner war, kam man noch näher heran, wie im nachfolgenden Foto aus dem April 2024. Aber mittlerweile ist ein so großes Gebiet von neuer, flirrend heißer Lava bedeckt, dass solche Bilder wohl der Vergangenheit angehören - zumindest solange die Ausbrüch an dieser Stelle stattfinden...


Der zweite Grund, weshalb die jetzigen Ausbrüche nicht so fotogen sind, ist die Landschaft.
Hier, bei Sundhnúksgígar, ist alles von menschlicher Infrastruktur durchzogen: es gibt Straßen, Wege, Hochspannungsleitungen und mittlerweile überall aufgeschüttete Erddämme - sowie ein Heer von mutigen Arbeitern, die beständig Dämme ausbessern und in direkter Nähe zur glühenden Lava am Arbeiten sind. Große Gebiete sind abgesperrt, da kommt man auch als Presse nicht hin: eben weil dort fleißig Erde bewegt wird, um die Infrastruktur zu retten.



Bei den ersten drei Ausbrüchen am Fagradalsfjall gab es Hügel und Täler, konnte man teilweise über dem Krater stehen und seine Perspektive durch Wandern verschieben. Hier kann man erstens nicht mehr wandern, weil entweder neue Lava da ist oder eben die Gefahr der unsichtbaren Spalten besteht, und ist zweitens alles ziemlich flach. Das heißt: dieser Ausbruch ist nur aus der Luft einigermaßen fotogen. Ich fliege nicht, also sind Flugzeuge und Helikopter für mich keine Option. Und es hilft diesbezüglich nicht, dass ich eine akute Aversion gegen Drohnen habe und diese folglich konsequent ablehne. Ich fotografiere, was ich selbst mit meinen Augen gesehen habe. Drohnenfotografie ist für mich eher eine Art Computerspiel, das außerdem alle Umstehenden durch Lärm und blinkende Lichter irre stört. Und wegen all diesen Gründen sind diese Ausbrüche für mich jetzt nicht mehr soooo interessant. Ich sage niemals nie, wenn ich nahe an einen Vulkan herankomme, aber die wirklich guten Fotos, die machte ich im Jahr 2021.

Geldingadalir, Mai 2021


Mit dem Hintergrundwissen hatte ich keinerlei Erwartungen, was den Besuch am gerade einmal 16 Stunden alten Vulkanausbruch am 21. November 2024 anging. Umso spannender war es, als ich hier zum ersten Mal sah, was Lava mit einer Teerstraße macht: Nämlich kurzen Prozess! Sie fackelt erst den Asphalt ab, was eine ziemlich böse ausschauende, schwarze Rauchwolke produziert, und verdeckt diesen dann unter einer in diesem Fall 3-5 Meter dicken Schicht ʻAʻā Lava.
Das zu sehen ist ziemlich beeindruckend, gerade wenn man weiß, dass keine 50 Meter dahinter mal ein Parkplatz und Servicegebäude lag.



Diese Lavazunge ist etwa 3,5 Kilometer von der Spalte entfernt, und wir waren alle überrascht, wie schnell sie sich vorangearbeitet hat. Die wenigen Leute vor Ort (Presse, Wissenschaftler, Bewohner aus Grindavík und Bergrettung/Sicherheit) mussten langsam aber sicher die Autos versetzen. Als die Sonne unterging und das Glühen stärker wurde, ergaben sich tolle, gespenstische Bilder.



Die Blaue Lagune selbst ist weiterhin unbeschädigt; nur der Parkplatz ist jetzt sehr dezimiert worden. Aber es wird schon wieder fleißig daran gearbeitet, dass die bekannteste (und wohl am besten vermarktete) Attraktion Islands bald wieder Besucher empfangen kann: angeblich soll die Blaue Lagune in ein paar Tagen wieder öffnen.
Kein Kommentar ...

Der Himmel sieht besonders an den ersten Tagen der Ausbrüche teilweise irre beeindruckend aus,
denn die Gase bzw. Wolken filtern das Sonnenlicht auf gespenstische Art und Weise...
Das meine ich mit "Hitzeflimmern": den mittleren Schlot der Spalte konnte man hinter
dem Lavafeld nur als unscharfes Leuchten erkennen. Die Hitze schluckt einfach jedes Detail!


Und dann, ganz gegen Ende unseres kurzen aber intensiven Aufenthalts am Rand der Lavazunge, gab es einen Schichtwechsel bei den „Aufpassern“ und wurde uns erlaubt, näher an die Lava ranzugehen und die Straße etwas zu verlassen. Mal ein paar Minuten lang wieder „richtige“ Landschaftfotografie zu betreiben, hat irre Spaß gemacht! Zudem liebe ich die Geräusche, die so eine sich bewegende Lavafront macht: es ist ein Konzert aus Klirren, hellen Glockentönen, Knallen (kleine Gasexplosionen), Brutzeln und Knistern. 

Zum Schluss mag ich euch noch ein paar „naturbelassene“ Fotos zeigen, von den letzten Minuten des kurzen Vulkanaufenthalts. Und damit verabschiede ich mich dann: bis zum nächsten Blogeintrag. Bleibt mir gesund und munter: und kommt gut durch die nächsten Wochen! :)

LG - Kerstin


Der Blick von Reykjavík mit Spiegelung im Skerjafjörður an einem ausnahmsweise windstillen Abend.

Samstag, 5. August 2023

Wandern bei Kangerlussuaq

Seit meiner Rückkehr aus Südgeorgien versuche ich, aus Klimaschutzgründen nicht mehr zu fliegen. Die Winter verbringe ich jetzt überwiegend in Deutschland und halte Vorträge, allerdings nicht zu dicht gepackt, weil dieses ständige Tingeln von Stadt zu Stadt (mit der Bahn und von Hotel zu Hotel) echt anstrengend ist. Die Sommer arbeite ich gerade weiterhin als Guide auf Schiffen. Das bedeutet, dass ich Skandinavien bis in die Arktis noch machen kann, weil besagte Schiffe meistens im Mai in Norwegen oder den britischen Inseln beginnen und die Saison dann im August / September in Island ausklingen lassen. Folglich arbeite ich weiterhin von Mai bis September in der Arktis: beginnend mit einer Bahnfahrt meist nach Norwegen, und endend in Island, wo sich dann mein mittlerweile jährlicher Island-Herbsturlaub anschließt. Und dann bringt mich die Autofähre Norröna irgendwann wieder zurück nach Deutschland...

Jetzt ist aber Sommer, und dieses Mal habe ich es gar geschafft, mit einem Schiff nach Westgrönland zu gelangen, zum ersten Mal in meinem Leben! Nach Westgrönland zu kommen ist meist kein Problem; die meisten Schiffe fahren aber dann weiter nach Westen, entweder durch die Nordwestpassage, oder aber von hier aus die amerikanische Küste runter in Richtung Südamerika. Da ist es schwierig, ohne Flug zurück nach Europa zu gelangen. Dieses Jahr aber fährt eine der Firmen, für die ich arbeite Anfang September von Westgrönland aus zurück nach Island! Folglich habe ich mich in Kangerlussuaq absetzen lassen und hatte jetzt 11 Tage Zeit für mich selbst, bevor besagtes Schiff hierher kommt, auf dem ich dann wieder für 4 Wochen arbeite.

Kangerlussuaq ist ein 500-Seelen-Dorf in Westgrönland. Es ist eine ehemalige amerikanische Militärbasis, welche heute eine der größten Landebahnen für Interkontinentalflugzeuge hat. Folglich kommen die meisten Grönlandreisenden zuerst hierher, um dann in kleineren Flugzeugen in andere Gegenden Westgrönlands zu reisen. Hier, in Kangerlussuaq, beginnt (oder endet, je nachdem) auch der "Arctic Circle Trail" (ACT), ein 160 Kilometer langer Wanderweg, der sich wachsener Beliebtheit erfreut. Wirklich nachvollziehen kann ich das nicht, denn nach allem, was ich an Fotos gesehen habe, ist es eine Wanderung durch eine grüne, moorige Hügellandschaft, fern der typischen Sehenswürdigkeiten Grönlands. Einsam ist es dort definitiv und schön ist die Landschaft auch: ich denke einmal, dass momentan 2-10 Wanderer täglich den Weg beginnen. Aber Hand auf’s Herz: da kann man auch gleich durch’s schottische Hochland wandern! Ich gehe doch nicht nach Grönland, um durch Schottland zu laufen... *kopfschüttel*

Der ACT kam aber für mich schon allein deshalb nicht in Frage, da ich nicht genügend Zeit hatte. Die Langstreckenwanderung ist nämlich kein Rundweg, sondern führt nach Westen, zur Küste nach Sisimiut, zur zweitgrößten Stadt Grönlands. Ich aber musste ja innerhalb von zehn Tagen wieder in Kangerlussuaq sein. Weil mich das Inlandeis ohnehin viel mehr interessierte, bin ich dann in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen, nach Osten. Mit dabei war mein Wanderanhänger, den ich seit meinem Bandscheibenproblem für Mehrtageswanderungen nutze und mit dem ich praktischerweise auch noch viel mehr mitnehmen kann, als wenn ich "nur" einen Rucksack tragen würde. Die Hälfte des Gewichts liegt auf dem Reifen, die andere Hälfte auf meiner Hüfte. Und mein Fotorucksack ist praktischerweise so groß, dass er auf der Haupttasche aufliegt: und somit ebenfalls kaum auf meinen Schultern (und meiner kaputten Bandscheibe) lastet. Ich liebe diese sperrige aber praktische Wanderkombi! :)


Ziel des ersten Tages: der wenig befahrenen Schotterstraße 19 km lang folgen und dann noch 5 km "offroad" hin zum Russell-Gletscher. Es handelt sich dabei um eine Touristenattraktion: vom Dorf aus werden täglich Bustouren dorthin angeboten (wobei aber auch die Bustouristen noch 30-45 Minuten laufen müssen, bis sie die Gletscherkante sehen können). Da es hier nirgendwo Zeltplätze gibt ist "wild zelten" erlaubt und gang und gäbe. Ich war erstaunt, wie beliebt diese Richtung für Wanderer ist: an dem Abend sah ich noch 5 weitere Zelte, die aber alle in großem Abstand zueinander sich ihr jeweils eigenes Eckchen suchten... Ich vermute, dass die meisten dieser Wanderer den ACT um einen Tag verlängern - um doch noch Eis zu sehen...


Beim Russell-Gletscher blieb ich für zwei Nächte: erstens, weil ich die Gegend fotografisch erkunden wollte und zweitens, weil ich meine Hüfte verarzten musste. Egal was ich auch mache: der Hüftgurt des Wanderanhängers scheuert mir immer die Haut oberhalb meiner Hüftknochen kaputt. Damit kann ich mittlerweile aber gut leben: es bedeutet halt meist, dass der zweite oder dritte Tag jeder Reise ein Pausentag ist und ich schlichtweg genügend Alkoholtupfer und Pflaster dabei haben muss, damit sich in den Folgetagen keine Infektion einschleicht. Und weil ich obendrein auch noch genau an dem Tag meine Periode bekommen habe (alle guten Dinge sind drei!) genoss ich das gute Wetter und erwanderte mir die relativ übersichtliche Gegend zwischen der imposanten Gletscherzunge und dem sie umfließenden, mächtigen Gletscherfluss.




Seht ihr den braunen Stein da links unten im Bild? Das ist ein Moschusochse, genauer gesagt ein einsames und nur so halb-scheues Männchen. Die Weibchen mit Jungtieren halten viiiiel größeren Abstand zu uns Menschen: schließlich wird hier alles, was nicht bei drei auf den Bäumen sein kann, von den Inuit gejagt. Sind schon verrückt-coole Tiere, diese Ziegenverwandten!


 
Der dritte Tag meiner Wanderung war genauso sonnig, wie schon die vorhergehenden: ein Traum! Ich stiefelte die Schotterstraße noch einmal 15 Kilometer weiter bis fast zu ihrem Ende und fand dann auf gut 500 Meter Höhe einen der genialsten Zeltplätze überhaupt. Was für eine Aussicht!



Die Bilder, die mich mit Zelt zeigen, sind übrigens für Hilleberg entstanden, die schwedische Firma, welche mich mit hochqualitativen Zelten ausgestattet hat. Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich mich mal von jemandem sponsorn lassen würde! Aber, he, Hillebergzelte gegen Fotos ist ein super fairer Deal! Ich freue mich, die freuen sich - eine echte Win-win-Situation! :)



Was man auf den ganzen schönen Bildern nicht sieht, ist die Menge an Stech- und Kriebelmücken, die hier unterwegs sind. Auch das war ein Grund, warum ich viel lieber in Richtung Gletscher als in Richtung Moorlandschaft aufgebrochen bin. Und weshalb ich mein Zelt immer an windigen Orten aufgebaut habe, nämlich oben auf Pässen und Hügeln, statt unten in den Tälern. Angeblich war die Mückenplage letzten Sommer noch viel schlimmer, aber wenn man aus Island kommt und da eigentlich nur die nicht-stechenden Kriebelmücken gewohnt ist, war das heftiger Tobak. Erst habe ich die Stechmücken verflucht, aber nachdem es mehrere Tage sonnig und warm war, gab es plötzlich auch noch ganze Schwärme von blutsaugenden Kriebelmücken ("black flies"). Die haben mich so dermaßen in den Wahnsinn getrieben, dass ich meinen Tagesrhythmus weitestgehend umgedreht habe und nachts aktiv war - denn das war der einzige Zeitpunkt, an denen man aufs Klo gehen konnte, ohne völlig zerstochen zu werden. Tagsüber lag ich dann meist im Zelt und habe versucht, bei den saunamäßigen Temperaturen zu schlafen - und den Mücken dabei eine lange Nase gedreht. Ein Hoch auf den Erfinder des Mückennetzes!!!



Als ich dann in der Nähe des Inlandeises war, bin ich oft zwei Tage an einem Ort geblieben bzw. habe mein Zelt nur mal ein Tal weiter wieder aufgeschlagen. Die Umgebung habe ich in Nachttouren erkundet: hier ging die Sonne vier Stunden unter, das heißt, es blieb nachts immer noch hell.



Schnell kristallisierten sich zwei Lieblingstiere für mich heraus: das waren einerseits die neugierigen und kommunikativen Spornammern (kleine Singvögel) und außerdem die schnellen aber ebenfalls vorsichtig-neugierigen Polarhasen. Die sind die amerikanischen Verwandten der Schneehasen, die es in den Alpen, in Skandinavien und Russland gibt. Die flinken Grasfresser, die hier oben auch im Sommer ein fast weißes Fell haben, habe ich jeden Tag getroffen - teils waren sie scheu, teilweise aber ließen sie mich auf gute Sicht-Distanz an sich heran. Schade, dass ich mein großes Objektiv in Kangerlussuaq gelassen hatte - aber he, selbst mit dem 200 mm Objektiv kann man mit Geduld recht gute Wildtierfotos machen!



Am Inlandeis angekommen, holte ich meine Steigeisen heraus und erkundete die hügelige Eislandschaft. Das Eis fließt hier von mehreren Seiten in verschiedenen Gletscherzungen ins Tal hinab: dementsprechend faszinierend hügelig präsentierte sich der Gletscher. Ich verbrachte zwei Abende auf ihm und war dankbar, dass ich mein GPS dabei hatte - denn in dieser hügeligen Eislandschaft kann man tatsächlich schnell den Überblick verlieren!




Das Wetter war fantastisch, die Temperaturen sommerlich und warm - viel zu warm dafür, dass ich hier nördlich des Polarkreises und direkt am grönländischen Eisschild war. Soweit das Auge blicken konnte, sah ich nur nacktes Eis oder schneefreie Berge. So wunderschön diese Gletscherwelt auch ist: ich bin / war mir sehr bewusst, dass alles schmilzt, überall und in zunehmendem Maße. Selbst hier, auf dieser zweitgrößten permanent vereisten Fläche der Welt, schmilzt das Eis rasant und bildet sich nicht mehr nach. Selten wird einem Vergänglichkeit bewusster, als bei einer Wanderung auf einem schmelzenden Gletscher...



Und dann, am fünften Tag, schlug das Wetter um und begann es wieder, zu regnen. Die Region hier hatte im Juli dreimal mehr Regen, als es normal ist, und zudem viel zu warme Temperaturen. Kein Wunder, dass die Mücken Party gefeiert haben!



Zu warm, zu viel Eisschmelze, zu viel Regen, viel zu viele Mücken: dem aufmerksamen Beobachter zeigt die Natur, dass sie sich verändert. So wunderbar meine Wanderung auch war, so ist diese unterschwellige Trauer doch auch immer dabei. Wenn ich einen Eisbären sehe (nicht hier, hier gibt’s keine: zu weit südlich, zu weit vom Meer entfernt...) dann sehe ich auch, wie dünn das Tier ist. Wenn ich Eis sehe, dann sehe ich die Schönheit - aber auch, dass alles schmilzt und unwiederbringlich verloren geht. Die Klimakatastrophe beeinflusst die ganze Welt - und ich kann meine Augen dem schon lange nicht mehr verschließen.



Langsam machte ich mich nun auf den Rückweg, suchte mir weitere wunderschöne Stellplätze für mein Zelt, genoss die Natur hier auch bei Regen und Bewölkung. Dabei musste ich feststellen, dass die Kriebelmücken bei Regen nochmal eine Runde aufdrehen. Was war ich froh, dass ich ein Mückennetz für den Kopf dabei hatte - und sich die Viecher an die Regel hielten, zwischen 21 Uhr und 7 Uhr Waffenruhe zu halten. Nie zuvor war es leichter, nachtaktiv zu sein, als auf dieser Wanderung! :)




Die letzten 20 Kilometer zurück nach Kangerlussuaq folgte ich nicht mehr der Schotterpiste (die kannte ich ja schon), sondern beschloss, einen auf der Wanderkarte eingezeichneten Wanderweg zu suchen. Ziemlich schnell stellte ich fest: diese eingezeichneten Routen sind nichts anderes als Vorschläge, wo man potentiell langgehen kann - aber keineswegs, dass da ein Pfad zu erkennen sein sollte, oder dass es gar möglich ist. Ich hatte mit meinem Wanderanhänger also ziemlich Spaß, 200 Höhenmeter auf einen Bergrücken raufzukommen. Die Aussicht von dort oben lohnte sich aber sowas von! Dort zu zelten war ebenfalls herrlich - viiiiel besser, als unten an der Schotterstraße! :)


Hier noch eine Übersichtskarte über die insgesamt 140 Kilometer, die ich in den neun Tagen zurückgelegt habe: etwa die Hälfte mit dem Monowalker (meinem Wanderanhänger, also mit vollem Gepäck) und die andere Hälfte "nur" mit meinem Fotorucksack auf bis zu 10 km langen Tages- bzw. Nachtwanderungen



Und damit verabschiede ich mich mal wieder; morgen geht es an Bord besagten Schiffes, das mich in einem Monat dann wieder in Island absetzen wird. Ich wünsche euch alles Gute - und versuche, mich bald mal wieder auf diesem Wege zu melden!