oder: eine etwas absurde Geschichte über die unergründlichen Wege von Social Media.
Island erlebt gerade einen „ordentlichen“ Winter. An Schnee mangelt es noch, aber seit Mitte November ist es so kalt, dass wir bereits Schlittschuhlaufen konnten auf klar gefrorenen Seen: das geschieht hier auch nicht so wahnsinnig oft!
Die Klimakrise hat ja weltweit schon viele Veränderungen bewirkt. Eine für mich klar sichtbare ist die Tatsache, dass es jedes Jahr mehr Vögel zu geben scheint, die in Island überwintern. Neben Singvögeln wie Drosseln und Staren sind es besonders Graugänse und Singschwäne, die man in Südisland in kleinen Gruppen auf Seen und Wiesen sehen kann. In Reykjavík hat sich eine kleine Gruppe von Freiwilligen gegründet, welche die Vögel an strategischen Orten füttern. Ihre Argumentation: die Hauptstadt Islands ist so gewachsen, dass es hier kaum noch Gebiete gibt, in denen die Vögel sich natürlich ernähren können. Zudem haben sich einige Vögel, wie etwa im Falle des Stadtsees im Zentrum von Reykjavík, nach der mittlerweile jahrzehntelangen Zufütterung an diese Nahrungsquelle gewöhnt und sind abhängig von ihr.
Ich war früher Gegner vom An- und Zufüttern von Wildtieren, aber ein drittes Argument hat auch mich mittlerweile davon überzeugt, dass es absolut notwendig geworden ist, dass wir Wildtieren in der Nähe von Zivilisation mit Futter helfen, denn: es gibt immer weniger Wildtiere. Ich glaube, den wenigsten Menschen ist klar, wie wenig Wildtiere wir im Vergleich zu uns Menschen mittlerweile haben. Die Verhältnisse sind mittlerweile so krass verschoben, dass, wenn man die Biomasse der Landsäugetiere betrachtet (sie also in Tonnen wiegen würde), es bei den Landsäugetieren nur noch 4% Wildtiere gibt - die anderen 96% bestehen aus uns Menschen (34%) und den von uns gezüchteten Tieren (62%).
Ich habe eine Grafik gefunden (Link unter dem Bild), aus der ich dieses Vergleichsbild herausgelöst habe: hier sehen wir die Biomasse von unseren Zuchtvieh ("Livestock" - darunter fällt alles, was wir züchten von Rindern über Schweine und Geflügel sowie Haustiere) und von uns Menschen ("Humans") gegenüber der verbliebenen Masse an Säugetieren ("Wild Mammals") und Vögeln ("Wild Birds").
Ausschnitt aus der Grafik "All the Biomass on Earth" von der Seite visualcapitalist.com |
Seit es Menschen gibt, haben "wir" die wilde Tierwelt systematisch dezimiert: zuerst durch das große Ausrotten der Megafauna gegen Ende der letzten Kaltzeit (die sogenannte quartäre Aussterbewelle, die zeitgleich einherging mit dem Auftreten des Menschen) und nach unserer Sesshaftwerdung durch die Landwirtschaft bzw. die Zerstörung von Wildnis. Auch hier habe ich eine interessante Grafik gefunden, von der Seite ourworldindata.org
Türkis: Wilde Landsäugetiere, Blau: Menschen, Orangebraun: Nutztiere Gemessen im Laufe der Zeit (vor 100.000 Jahren bis zum Jahr 2015) in "Kohlenstoff-Tonnen" |
Interessant ist, dass die Anzahl der Biomasse der Säugetiere enorm gestiegen ist: weil wir Menschen mit der Landwirtschaft gelernt haben, effektiv unser Essen und das unserer Tiere anzubauen. Womit wir dann aber gleichzeitig die Lebensräume der wilden Tiere zerstört haben, die wir parallel auch munter als Nahrunsquelle nutzen. Eigentlich logisch, dass deren Anzahl so drastisch zurückgegangen ist.
Jetzt aber zurück nach Island - wo, innerhalb der Hauptstadt, an einigen Orten Gänse und Schwäne gefüttert werden. Der bekannteste dieser Orte ist der Stadtsee, Tjörnin. Und genau dort hat eine Tierfreundin bemerkt, dass ein junger Schwan sich stundenlang nicht vom Fleck bewegt hat. Ein Foto mit der Frage, wie man dem Vogel am besten helfen könne, teilte sie in der Facebookgruppe „Vogelfütterung“. Meine Freundin Arianne ist Teil dieser Gruppe, sah das Foto und antwortete: „Ich bin unterwegs mit allem was es braucht.“
Kaum, dass sie das geschrieben hatte, rief Arianne mich, die ich ja gerade bei ihr im Gästezimmer wohne, und bat mich, mitzukommen. Ich ließ mich nicht lange bitten: wir zwei sind mittlerweile so einigen Wildvögeln zur Hilfe gekommen und diesbezüglich ein eingespieltes Team. Ein festgefrorener Schwan war allerdings für uns beide etwas Neues!
Während Arianne auf den Dachboden stieg, um ein kleines Surfbrett zu holen (für den Fall, dass das Eis zu dünn war, um darauf zu gehen), füllte ich einen 5 Liter Kanister mit heißem Wasser, zog mir Wollunterwäsche und Gummistiefel an - und packte mir eine Tüte mit Ersatzschuhen und Socken. Mein Gedanke war, dass ich es vom offenen Wasser aus versuchen würde, denn der Stadtsee Tjörnin ist gerade einmal knietief. Mir wären zwar die Stiefel voll Wasser gelaufen, aber für ein paar Minuten lässt sich das gut aushalten. Und so starteten wir dann und fuhren mit Ariannes Auto zum 5 Minuten entfernten See.
Das Eis war dick genug, um uns zu tragen, und als ich zum Schwan kam, stellte sich heraus: er war nicht im Eis eingefroren, sondern auf dem Eis festgefroren. Der junge Vogel hatte sich mit nassen Federn, aufs Eis gesetzt und geschlafen, woraufhin ihm bei den tiefen Minustemperaturen (auch tagsüber war es -5 bis -9°C kalt) die nassen Federn auf dem Eis festgefroren sind. Das Eis um ihn herum war dick und trug mich, sodass ich ihn problemlos festhalten und leicht auf die Seite drehen konnte. Währenddessen nutzte Arianne das warme Wasser und ihre Finger, um die festgefrorenen Federn aufzutauen und ihn geduldig freizuzupfen. Nach nur wenigen Minuten war das Tier frei und mischte sich laut schimpfend unter seine Artgenossen.
Zurück im warmen Haus (also wir, nicht der Schwan, der blieb im See) beschlossen Arianne und ich, parallel auf Facebook von der Rettung zu berichten. Wir wollten erstens erreichen, dass die Leute bei der Kälte momentan ein aufmerksames Auge auf die Wildvögel werfen, aber auch zeigen, dass es manchmal gar nicht schwer ist, einem Tier in Not zu helfen.
Mein auf isländisch geschriebener Facebook-Post machte noch an dem Abend in Island die Runde, mit dem Ergebnis, dass mich am nächsten Morgen RUV um ein Interview bat; das ist das isländische Äquivalent zur ARD. Daraus wurde ein kleiner Onlineartikel, der viel weniger aussagte, als ich es gehofft hatte - aber gut, so ist das halt mit Medien...
https://www.ruv.is/frettir/innlent/2024-12-03-bjorgudu-alftarunga-vopnadar-hitabrusa-og-brimbretti-429963
Was danach geschah, erfuhr ich nur, weil mich jemand darüber informierte. Eine isländische Autorin kommentierte den Onlineartikel auf BlueSky (noch so ein Soziales Medium), und das wurde von einem amerikanischen Autor aufgegriffen. Bear Bergman, Autor, Sprecher und Aktivist für die LGBTQ-Bewegung schrieb einen kurzen Post auf Facebook, der auf Deutsch übersetzt wie folgt lautet:
„Mein heutiger Feed auf BlueSky enthielt einen Beitrag der isländischen Schriftstellerin Hildur Knútsdóttir, die den ursprünglichen Austausch auf einer Facebook-Seite aus Reykjavik gesehen hatte. Jemand hatte gepostet, dass ein Schwanenjunges anscheinend am Eis festgefroren sei und im Sterben liege. Während sich die Leute online Sorgen darüber machten, wie oder ob sie helfen könnten, antwortete die Naturforscherin Kerstin Langenberger auf den Beitrag und sagte: „Ich bin unterwegs, mit der notwendigen Ausrüstung“. Langenberger brachte eine Freundin, einige Thermoskannen mit warmem Wasser und ein Surfbrett für den Fall, dass das Eis bricht – die notwendige Ausrüstung –, taute das Schwanenbaby auf und befreite es, worauf es prompt davonflog.
Es gibt eine Reihe von Dingen, die ich an dieser Geschichte schätze, aber es ist Langenbergers Aussage, die in mir nachhallt. Danach strebe ich: wenn ich etwas/jemanden verletzt oder in Schwierigkeiten sehe, dass ich dann sage „Ich bin unterwegs mit der notwendigen Ausrüstung“. Besagte notwendige Ausrüstung kann manchmal auch die Entschlossenheit sein, es einfach zu versuchen, oder ein*e Freund*in, der/die hilft. Manchmal kann auch ich die notwendige Ausrüstung sein – der Freund, der mitkommt, um sich unter der Anleitung eines Experten nützlich zu machen.
Es gibt heutzutage viele Momente, in denen es mir sehr, sehr schwer fällt, den nächsten Schritt zu tun, oder um überhaupt etwas zu tun. Die Welt ist so, so kompliziert. Ich fühle mich oft nutzlos oder überfordert, erschöpft oder einfach nur verdammt traurig. Aber ich werde versuchen, die Tage mit all der Stärke zu beginnen, die ein Naturforscher aufbringen kann, der bereit ist, sich im Dunkeln auf’s Eis zu wagen um ein Vogelbaby zu retten, mit der Einstellung: Ich bin unterwegs mit der notwendigen Ausrüstung.“
Dieser Beitrag fand so viel Anklang, dass es jetzt wohl Leute gibt, die sich den Spruch „I am on my way with the necessary equipment“ (die grobe Übersetzung von Ariannes Antwort auf den eingefrorenen Schwan) als Tattoo stechen lassen wollen. Bear hat einen kleinen Online-Shop mit T-Shirts, die er für sich selbst entworfen hat, vor allem um mehr Aufmerksamkeit für Transpersonen zu generieren. In diesem Shop, dessen Erlös gespendet wird, bietet er jetzt auch ein Design an, das die Silhouette eines Schwans zeigt und in verspielter Schrift „I am on my way with the necessary equipment“ - natürlich in Regenbogenfarben.
Angesichts der Wellen, die diese kurze Rettungsaktion geschlagen hat, habe ich erstmal ungläubig die Augen verdreht und amüsiert gelacht. Einer meiner ersten Gedanken war: es gibt nun wirklich größere Probleme auf unserem Planeten, in die man seine Zeit investieren sollte! Es war niemals mein Ziel, dass sich jemand einen Spruch auf seinen Körper tätowiert, den ich zu allem Überfluss auch nie so gesagt habe. Oder dass jemand ein T-Shirt entwirft, das einen regenbogenfarbigen Schwan zeigt.
Gleichzeitig ist aber auch klar: diese für mich selbstverständliche Aktion scheint Menschen erfreut, inspiriert und motiviert zu haben. Und das ist etwas Wunderbares! Wenn ich es mit diesem Facebook-Post geschafft habe, anderen Freude zu machen: prima. Wenn es sie zudem motiviert, in Zukunft statt eines passiven Zuschauers vielleicht jemand zu sein, der etwas tut, oder es zumindest versucht: super!
Und genau deswegen habe ich mich jetzt auch entschlossen, diese für mich immer noch ziemlich absurde Geschichte über die undurchschaubaren Wege der sozialen Medien mit euch zu teilen.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die anderen Freude machen und Hoffnung geben. Und damit ist es vermutlich genau die richtige Geschichte zur Weihnachtszeit!
Liebe Grüße aus dem dunklen, stürmischen Reykjavík,
Kerstin