Donnerstag, 12. November 2015

Ein dünner Eisbär schockiert die Welt

Der vergangene Sommer in Spitzbergen war in jeglicher Hinsicht außergewöhnlich. Außergewöhnlich warm, außergewöhnlich sonnig und auch außergewöhnlich neblig. Klar, wenn warme Luft auf Eis trifft, gibt’s Nebel... Denn obwohl es so warm war, gab es Treibeis in großen Mengen - und das hat uns alle verwirrt. Laut Wissenschaftlern hatte sich im Winter nicht viel Eis gebildet, und arktisweit wurde es dann auch das Jahr mit der viert-geringsten Meereisausdehnung, die je gemessen wurde. Um Spitzbergen herum aber gab es Treibeis - und das nicht zu knapp! Es driftete von Norden und Osten zum Archipel hinüber und machte die ersten Spitzbergen-Umrundungen unmöglich.

Eis und Wärme - das ergibt oft Luftspiegelungen. Eine so verrückte Fata Morgana sieht man aber doch eher selten!



                                         
Obwohl wir im Norden und Osten Spitzbergens auf viel Treibeis trafen, war die Situation nicht rosig: dieses Eis war (aus welchem Grund auch immer) unbelebt. Robben waren Mangelware, und Bären deshalb auch. Auf manchen Reisen fuhren wir anderthalb Tage am Eis vorbei, ohne einen einzigen Bären zu sehen, und ich erlebte sogar meine erste Reise komplett ohne Eisbärensichtung - eine herbe Enttäuschung für alle Gäste.


Die anderen Touren dagegen waren geprägt von erstaunlichen Eisbärenbegegnungen. Ich durfte erleben, wie fremde Bären einander begegneten und miteinander agierten. Ich traf die neugierigsten Bären aller Zeiten und auch die scheuesten: Tiere, die schon aus weiter Ferne reißaus nahmen, die uns Menschen bzw. unser Schiff in keiner Weise mochten oder tolerierten. Ich sah, wie ein (dünner) Eisbär in steinigem Gelände ein Rentier jagte, allerdings wie erwartet erfolglos, da das Rentier viel ausdauernder laufen konnte, als der Bär. Dieser nämlich gab seine Jagd nach etwa 800 Metern auf und kollabierte dann regelrecht, weil er sich zu sehr angestrengt hatte. Eisbären sind durch ihre Fettschicht und Fell so dermaßen gut gegen Kälte isoliert, dass ihnen schnell zu warm wird: sie überhitzen.




Und dann, am 29. Juli, traf ich den dünnsten Bären, den ich je (lebendig) gesehen hatte. An einem nebligen Tag lag er plötzlich auf einer einsamen Eisscholle, weit und breit sonst nur offenes Wasser. Er bemerkte uns sofort und zeigte unmittelbar an, dass er unsere Anwesenheit nicht mochte: mit nervösen Blicken zu uns erhob er sich und machte dadurch allen klar, wie unglaublich dünn er war. Unser Kapitän und Expeditionsleiterin trafen die einzig richtige Entscheidung: nämlich, das arme Tier in Ruhe zu lassen. Und so drehten wir ab, obwohl wir noch weit entfernt waren, und sahen, wie er (bzw. sie) sich wieder hinlegte und uns nachschaute.

Diese Begegnung ging allen unter die Haut, denn es war augenscheinlich, dass dieses Tier nicht mehr lange zu leben hatte. Es war hart, einfach davon zu fahren, ohne ihm in irgendeiner Weise helfen zu können. Ihn zu füttern kam nicht in Frage, womit denn auch? Ihn aus seinem Leiden zu erlösen, indem wir ihn erschossen, stand auch nicht zur Diskussion. Es wäre zwar meiner Meinung nach ethisch gut vertretbar gewesen, aber erstens nicht umsetzbar bei einem so scheuen Tier und einem Schiff voller Touristen. Zweitens war das auch stengstens verboten: das Erschießen eines Eisbären, egal aus welchem Grund, ist strafbar und hätte eine Untersuchung des Gouverneurs von Svalbard nach sich gezogen, und außerdem den vermutlichen Abbruch der Reise. Das nur so als kleine Nebeninformation...

Als der magere Eisbär wieder im Nebel verschwand, ging bei uns an Bord nun die Diskussion los: warum war dieses Tier so abgemagert? Wir hatten eine Wunde am linken Vorderbein gesehen - aber war die schlimm genug, um ihn umzubringen? Oder war sein Zustand einer Verkettung von Umständen zu verschulden? Es war zwar den Winter über genügend Eis in dieser Gegend gewesen, aber wer weiß, wo das Tier hergekommen war? Sollte es sich im Südwesten Spitzbergens aufgehalten haben, wo es diesen Winter so gut wie kein Eis gab? In dem Falle könnte es extrem abgemagert über die Berge gekommen sein, zu schwach, um noch zu jagen. Zumal weit und breit kein Futter gewesen war: keine Robben, keine Walrosse - nichts.
Oder war es vielleicht auch ein junges Tier, also noch kein guter Jäger? Das halte ich für wahrscheinlicher als die Vermutung, dass es krank oder alt gewesen war. Dieses Tier sah nicht aus, wie ein alter Bär: es hatte dichtes, sauberes Fell, war klein, hatte keines der typischen ausgeprägten Geschlechtsmerkmale alter Tiere (langes Fell an den Vorderbeinen, viele Narben im Kopf und Nackenbereich oder deutlich sichtbare Zitzen). Nein, dieser Bär war jung bis mittelalt, vermutlich ein Weibchen, und sein Zustand keine Alterserscheinung.


Auf Facebook, dieser riesigen Plattform für einsame Seelen und gelangweilte Selbstdarsteller, veröffentliche ich etwa ein bis drei Fotos pro Monat: meist schöne Landschaftsbilder oder putzige Tierchen, eben was man so erwartet. Nach dieser Begegnung aber wollte ich diesen Bären zeigen und klar machen, dass auch dies eine Seite der Arktis ist. Für mich persönlich steht fest, dass dieser Bär vermutlich hauptsächlich wegen des Klimawandels so dünn war: beweisen kann ich es nicht, aber es entspricht genau dem, was Wissenschaftler schon lange prognostizieren. Weniger Eis bedeutet weniger Nahrung für die Bären und längere Perioden an Land - und somit in beiden Fällen längere Hungerperioden.

Dünne Eisbärin mit (für die Jahreszeit) viel zu kleinem Jungtier, fernab jeglicher Nahrung. Das Kleine wird den Sommer mit größter Wahrscheinlichkeit nicht überlebt haben, und auch der Verbleib der Mutter ist fraglich.

 
Auch wenn dieser Sommer im Norden und Osten von Spitzbergen von Packeis geprägt war, so sah ich dieses Jahr viele dünne Tiere - mehr, als in den Jahren zuvor. Das ist konträr zu den Beobachtungen anderer Guides, Fotografen und Wissenschaftlern, aber ich war eben nicht nur auf Eisbärensuche, sondern auch an Land unterwegs. Ich sah viele Mütter mit Jungtieren, zumindest das war super, aber einige davon sehr abgemagert. Ich sah mehrere Bären, die alles fraßen, was sie fanden: darunter Vogeleier, Moos und Seetang. Letzteres ist ein reiner Magenfüller ohne Energiegehalt: die Bären fressen einfach gegen den Hunger an, um zumindest irgendwas im Magen zu haben.

Eine weitere Mutter war stark verletzt: ich kann mir diese furchtbare Wunde nur dadurch erklären, dass sie von einem anderen Bären von hinten angegriffen worden sein muss. Dass sie untereinander so aggressiv sind, dass sie sich gegenseitig skalpieren, war mir bisher nicht klar. Ein trauriger Anblick.

Mit all diesem Hintergrundwissen stellte ich also das Bild des verhungernden Bären auf Facebook, begleitet mit einem ermahnenden und doch motivierenden Text für Klima-Aktionismus. Ich hatte gehofft, dass das Bild Menschen erreicht - aber hätte mir nie ausgemalt, dass es sich wie ein Lauffeuer verbreiten würde. Innerhalb eines Monats wurde es 50.000 mal geteilt, erhielt über 5000 Kommentare und wurde 7 Millionen mal gesehen. Ich erhielt die unterschiedlichsten Emails und Kontaktanfragen. Ganz naive und richtig dumme Vorwürfe waren darunter: warum ich so böse sei und „nur“ das Foto gemacht habe, ohne dem armen Bären zu helfen. Warum ich ihn nicht gefüttert hätte. Was für eine Lügnerin ich doch sei: das Foto sei, ganz klar und offensichtlich, manipuliert, denn ein Bär könne so gar nicht aussehen. Was ich mich erdreisten würde, das Bild mit Klimawandel in Verbindung zu bringen, ich könne doch gar nichts beweisen. Logisch: als wenn man nur Fotos machen und Gedanken aussprechen dürfte, die man zu 100% „beweisen“ kann...

https://www.facebook.com/kerstin.langenberger.photography/photos/a.463697036975575.115901.429056113773001/1045109095501030/?type=3

Viel zahlreicher als die (schnell gelöschten) Hassmails waren die positiven Rückmeldungen. Dieses Foto hat, zu meinem großen Erstaunen, viele Menschen zumindest für einen Moment lang nachdenklich werden lassen. Ich habe Emails bekommen von Leuten, für die das Bild ein Motivator war, um Dinge zu verändern. Viele nutzten das Bild in ihren Blogs, um über Klimawandel zu schreiben. Mehrere Schulbücher, Zeitungen und Magazine kauften das Foto, mehrere Magazine, Radiosender und auch Fernsehsender interviewten mich zum Thema Klimawandel und wie man Zuhause im Klimaschutz aktiv werden kann. Ob Brasilien, Deutschland oder USA, Japan, Spanien oder Singapur, Südafrika oder Grönland - das Bild ging um die Welt! Eine Rentnerin nutzte das Foto, um gegen die Wahlmüdigkeit in Kanada anzugehen (die Parlamentswahlen standen unmittelbar bevor), und eine Künstlerin nutzte es, um gegen die wenig klimafreundlichen Öl-Pläne der kanadischen Regierung zu protestieren. Das Foto wird beim Klimagipfel in Paris an mehreren Orten zu sehen sein, es wurde und wird von Umwelt- und Klimaschutzorganisationen verwendet, und auch der ehemalige US-Vizepräsident und Klimaaktivist Al Gore nutzt das Bild nun, um auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam zu machen.

Irgendwie ist es absurd, dass ein fotografisch wenig glorreiches, verpixeltes Dokufoto so viele Leute erreicht. Der (Landschafts-)Fotograf in mir ist nicht begeistert darüber, dass ich ausgerechnet mit diesem Bild kurzzeitigen Ruhm erlangte - der Umweltschützer in mir aber freut sich ungemein darüber! Es ist mein erstes Foto überhaupt, das ein solch großes Publikum erreichte und eine Diskussion zum Thema Umwelt- bzw. Klimaschutz in Gang setzte. Gibt es eine größere Bestätigung, als das? Und so fühle ich mich umso motivierter, meinen Weg fortzusetzen: als naturliebhabender Fotograf, Lektor, Umweltaktivist und generell andersdenkender Einzelgänger. Mehr denn je zuvor glaube ich daran, dass jeder dazu beitragen kann, die Welt ein Stückchen besser zu machen: man muss nur daran glauben und darf nicht aufhören, mit seinen individuellen Möglichkeiten daran zu arbeiten! :-)