Montag, 31. Dezember 2012, 21 Uhr. Seit
Stunden schon hörte und sah man immer mal wieder Feuerwerkskörper in den Himmel
aufsteigen, weniger und weniger Menschen waren in den Städten und mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und dann meist in Feierlaune. Im ICE zum
Frankfurter Flughafen saßen ungewöhnlich wenige Reisende, und auch der
Frankfurter Flughafen war so menschenleer, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt
hatte. Es gab keine Schlangen, ich kam problemlos durch die Kontrollen –
irgendwie war alles etwas surreal. Und als ich schließlich die Maschine
erblickte, die mich nach Buenos Aires bringen sollte, wurde mir allein durch
die schiere Größe der Boeing 747-400 klar, dass ich nicht in gewohnte Gefilde
reisen würde.
Wider Erwarten (und entgegen meiner
Hoffnungen) wollten erstaunlich viele Leute über Silvester nach Argentinien
fliegen: die doppelstöckige Boeing war zu gut zwei Dritteln belegt. So musste
ich mir leider eine Reihe mit einem älteren Mann teilen, der sich, genau wie
ich, eigentlich auf den Sitzen hinlegen wollte. Ich ließ ihm den Vortritt, denn
erstens war ich partout nicht müde und wollte außerdem das Silvesterfeuerwerk
aus der Luft sehen. Das Wetter war super: über der Schweiz und Südfrankreich
konnte ich immer mal wieder einzelne Lichtblitze sehen, gezündet von all jenen,
die nicht bis Mitternacht warten konnten. Leider leider befanden wir uns zum
Jahreswechsel irgendwo südlich von LaPalma über dem Mittelmeer, und als wir
später Algerien überquerten, schien niemand (mehr?) Silvester zu feiern.
Zu Sonnenaufgang hatten wir den Äquator schon
überflogen; unser Stern tauchte die unter uns dahingleitenden Landschaft aus
Cumulus congestus Wolken in wärmste Farben.
Irgendwann, wir flogen schon seit längerem die
brasilianische Küste hinab, sah ich aus der Ferne eine riesige Stadt: die Karte
auf den Bildschirmen im Flugzeug wies sie als Rio de Janeiro aus. Ich hatte
noch nie Luftfotos von Rio gesehen, wusste bloß, dass die berühmte Jesus-Statue
in relativer Nähe zum Meer auf einem Zuckerhutberg steht. Es war schwer, aus
dieser Höhe das Relief zu erkennen, aber mithilfe meiner Kamera entdeckte ich
ihn doch tatsächlich: den "Cristo Redentor" auf dem 700m hohen Berg "Corcovado". Cool – jetzt kann ich behaupten, ihn mit eigenen
Augen gesehen zu haben, und das ohne dass ich mich je in diese Stadt begeben musste!
Praktisch! :-)
Nach 13½ Flugstunden und sehr wenig Schlaf
fand ich mich plötzlich im sommerlichen Buenos Aires wieder und kam mir völlig
fehl am Platze vor. Wie absolut verrückt es doch ist, im Winter auf der einen
Seite der Erde in ein Flugzeug zu steigen und nach einem kurzen Nickerchen im
Sommer der Südhemisphäre zu stehen. Irgendwie fühlt sich das nicht richtig
an...
Ich hatte ein paar Stunden Aufenthalt,
verzichtete aber dankend auf eine Besichtigung des Riesenmolochs: mir war viel
zu warm! Ich hatte mich für die Antarktis eingekleidet, nicht für Flip-Flop
Wetter und angeln am braunen Meer, das kein Meer sondern der breiteste Fluss
war, den ich je gesehen hatte... Statt dessen schlug ich mich zum
Inlandsflughafen durch, wo ich einige Stunden später in meinen Anschlussflug
nach Ushuaia stieg. Zu meiner Überraschung wurde ich in der ersten Klasse
einquartiert – ich weiß ja nicht, wie ich zu der Ehre kam, aber ich genoss die
viele Beinfreiheit und bekam obendrein noch ein belegtes Brötchen zum Mittagessen!
Beim Start bestätigte sich mein Eindruck von
der Landung: Buenos Aires ist ein Moloch. Häuser, wohin das Auge nur schaut,
von Horizont bis Horizont – warum sich Menschen so etwas antun wird mir wohl nie begreiflich sein!
Das Wetter war den ganzen Flug über
fantastisch: ich konnte mir einen ziemlich guten Eindruck von der Landschaft
der südamerikanischen Küste machen. Und dieser Eindruck war sehr ernüchternd:
ich sah ausnahmslos Städte, Acker und Weideland. Kaum ein Baum stand in der
grünen Landschaft unter mir; winzige Wald- und Feuchtgebiete gab es
allerhöchstens in direkter Nachbarschaft zu kleineren, quadratischen Städten.
Im Gegensatz zu diesen endlosen Nutzgebieten erschien mir Mitteleuropa wie ein
bewaldetes Paradies!
Je weiter wir nach Süden flogen, desto
bergiger und unwegsamer wurde die Landschaft unter uns: endlich gab es größere,
zusammenhängende Waldgebiete, durchzogen von gelegentlichen menschlichen
Großbauten wie Straßen, Gruben oder Staudämmen. Dann setzten wir zum
Landeanflug an.
In Ushuaia angekommen, schlief ich erstmal die
ganze Nacht hindurch und machte mich am nächsten Morgen daran, die bewaldeten
Berghänge hinter dem Ort zu erkunden. Die Stadt hat durch den
Kreuzfahrttourismus einen solchen Boom erlebt, dass bezahlbarer Wohnraum knapp
geworden ist und die Menschen einfach begonnen haben, illegal in den Wäldern zu
wohnen.
Ohne Müllabfuhr und Kanalisation entstehen um
die selbstgezimmerten Häuser dann Müllhalden, um die sich später keiner mehr
kümmern will. Im Gegenteil: vieles machte den Eindruck, dass diese Müllhalden
von Einheimischen noch vergrößert wurden, vielleicht um sich die
Müllabgabegebühr zu sparen. Es waren herbe Anblicke, die sich mir da boten, und
ein trauriger erster Eindruck des mir so neuen Kontinentes.
Ich versuchte, die bewohnten und vermüllten
Waldbereiche so schnell wie möglich zu verlassen: dann, endlich, konnte ich so
richtig eintauchen in diesen feuchten, subtropischen Südbuchenwald und seine
gelegentlichen Lichtungen. Ich konnte einige unbekannte Vogelarten beobachten,
die ich immer nur grob einzuordnen wusste: regenpfeiferartige, drosselartige,
ein Ibis, und viele kleine, oft sehr lautstarke Singvögel die mich an
Zaunkönige und Pitpits erinnerten.
Auch die Pflanzenwelt war mir oft gänzlich
unbekannt: flechtenbehangene Südbuchen, orchideen-, stiefmütterchen- und
erdbeerenartige Blumen, Binsen und gelegentliche Farne wuchsen zwischen
wunderschön beblümten Sträuchern. Besonders auffällig war die hohe Anzahl von
parasitären Pflanzen und Pilzen; der auffälligste Vertreter hing wie eine
Ansammlung orange-gefleckter Marzipankugeln an den Stämmen und Ästen der Bäume.
Cyttaria darwini, parasitischer Schlauchpilz, auch Golfkugelpilz genannt, auf Südbuche/Scheinbuche |
Abends lief die MS Expedition im Hafen ein,
das Schiff, auf dem ich bis März arbeiten werde. Die Hälfte der Saison war nun
vorbei: fünf im bestehenden Team wurden durch einen neuen Expeditionsleiter,
den Camping-Master, den Zodiak-Master, einen General Naturalist und mich als
neuen Expeditionsleiter-Assistenten ersetzt. Um 15 Uhr kamen die neuen Gäste an
Bord, um 17 Uhr stachen wir in See: für die kommenden zweieinhalb Monate würde
ich nun unterwegs sein. Man, was war ich auf die Antarktis gespannt!